Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 18
ОглавлениеZWEI
Ein Pferd war wieder einmal so unvernünftig gewesen, auf dem holprigsten Pflaster einer engen Gasse zusammenzubrechen. Es lag keuchend und schweratmend da. Sein Fell war naß vom Schweiß, und die Haare bildeten kleine, feuchte Borstenbüschel.
Rings um den gestürzten Gaul stand das »Volk«; ein Konglomerat aus Schaulust und Arbeitslosigkeit. Das Pferd schielte mit seinem großen triefenden Auge durch die obere Spalte der Scheuklappe verächtlich auf die Menge, die ihm noch seine letzte Stunde verbitterte. Das Volk hatte so etwas wie eine Vision vom Tode: »Dös halt’s nimmer aus!«; »A Stund’ no!«; »Recht hat er!« Ein Philosoph sagte: »Das Gescheiteste, was a Vieh heutzutag’ machen kann, bei die Futterpreise!« In den Mienen der Leute glänzte Bewunderung für das Pferd, das die Weisheit besaß zu krepieren. Ein hagerer Mensch in einem schwindsüchtigen Rock, dessen Hals innerhalb der Grenzen eines blaukarierten Kragens ratlos herumirrte wie ein Federstiel in einem weiten, leeren Tintenfaß, bekam allmählich die Physiognomie des personifizierten Neides. Er machte unbewußt die Todeszukkungen des Pferdes mit und schien jeden Augenblick sich auf das Pflaster hinlegen zu wollen. Die Augen der umstehenden bekamen alle denselben gläsernen Schimmer. Es war schließlich nur ein Augenpaar. Die Augen des Volkes, eines Konglomerats aus Schaulust und Arbeitslosigkeit, aus Hunger und Neid. Die Augen schillerten böse: Der hat’s überstanden. Warum sind wir keine Gäule?
Als das Pferd schließlich seinen letzten Atemzug getan hatte, zerstreute sich die Menge, traurig, unsagbar traurig. Nicht über den Tod des Tieres, sondern über ihren eigenen Fortbestand.
Als ich in die nächste Gasse einbog, sah ich ein vor einem Rinnstein zusammengebrochenes Wesen. Sein Gesicht hatte die Züge des Pferdes, das ich soeben sterben gesehen. Aber es war zufällig ein Mensch. Auch »bei die Futterpreise!« im Sterben begriffen. Ringsum war kein Atom von »Volk« zu sehen. Nur ein Hund, der sich mehr zum Rinnstein hingezogen fühlte, schnupperte an dem Knochenhäuflein herum. Ein Mensch war zusammengestürzt. Kein Pferd kümmerte sich um ihn.
Denn die Pferde sind weise und sterben mitten auf dem holprigen Pflaster. Ein Mensch sucht sich eine stille Straßenecke. Mit Recht: Denn wenn er selbst mitten auf dem Ring stürbe, kein »Volk« würde ihn beneiden. Daß ein Pferd stirbt, selbst »bei die Futterpreise«, ist immer noch eine Sehnswürdigkeit. Aber daß ein Mensch stirbt, ist »bei die Futterpreise« schon selbstverständlich.
Papier
Das ist die Materie, die allgegenwärtig und unüberwindbar den Leitartikel wie eine Fahne über dem Jammer unserer Gegenwart schwingt. Letzter Zweck allen Geschehens ist: auf Papier mitgeteilt zu werden. So gewinnt die Mitteilung die Herrschaft über die Geschichte. Die Mitteilung macht Geschichte.
Der Krieg zeitigte eine besondere Erscheinungsform der Mitteilung: die außerordentliche Mitteilung, im Jargon der großen Zeit »Extra-Ausgabe« genannt. Die »Extra-Ausgabe« bewirkte eine Zeitlang Ereignisse, indem sie sie mitteilte. Dann aber wuchsen die Ereignisse der »Extra-Ausgabe« über den Kopf. Denn eine höhere Macht, das Pressequartier, schuf die Ereignisse, d. h. den Heeresbericht. Und diesen brachte die Extra-Ausgabe, keine außerordentliche mehr, sondern eine ordentliche Mitteilung.
Dennoch konnten sich die Leute der Macht des Papiers nicht entziehen. Der Ruf »Extra-Ausgabe!« betäubte den Zweifel. Der Glaube an das Papier blieb aufrecht bis zum Zusammenbruch des Pressequartiers und dem ganz unvorhergesehenen Kopfsprung der Geschichte, der es plötzlich eingefallen war, ein Ereignis ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Pressequartier zu zeitigen.
Nun bleibt die Extra-Ausgabe aus. Ich hielt sie für tot, erledigt, aber vorgestern sprang sie wieder, munter und lebendig, mitten im Grabenkorso aus dem Munde eines Kolporteurs unter die Leute. Sie hatte wieder Geschichte gemacht. Sie meldete die Ermordung des Königs von Italien. Und die Leute rissen sich um die Mitteilung. Sie kostete achtzig Heller. Aber der Ruf betäubte den Zweifel. Das Papier, das fünf Jahre lang die Menschen belogen und betrogen, hat seine Macht nicht eingebüßt. Siegreich aus dem Schutt der Vernichtung erhebt sich das Papier auf dem Schwingen der Extra-Ausgabe.
Josephus
Der Neue Tag, 6.10.1919