Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 15
ОглавлениеSEIFENBLASEN
Ich habe Kinder gesehen, die Seifenblasen aufsteigen ließen.
Nicht im Jahre neunzehnhundertunddreizehn, sondern gestern.
Es waren richtige Seifenblasen. Ein Fläschchen voll Seifenschaum, ein Strohhalm, zwei Kinder und eine stille Gasse im Sonnenglanze eines Sommervormittags. Die Seifenblasen waren große, wunderschöne, regenbogenfarbige Kugeln und schwammen leicht und sanft durch die blaue Luft. Kein Zweifel: Es waren richtige Seifenblasen. Nicht aus den Tümpeln der Kriegsleitartikel, der Vaterlandspartei, der Pressequartiere aufgestiegene Seifenblasen patriotischer Phraseologie, sondern wunderschöne, regenbogenfarbige Seifenblasen.
Ich denke an die vielen Seifenblasen, die wir platzen sahen, während der ganzen langen Zeit, da Kartensystem und Kettenhandel sich der Seife bemächtigt hatten und die Fabrikation der Seifenblasen aus den Mündern der Kinder in die Mäuler der Siegfriedler und Politiker übergegangen war. Da die Seifenblase des ukrainischen Brotfriedens, die Seifenblase von Brest-Litowsk, vom »verjüngten Österreich« und schließlich die vierzehn großen Seifenblasen Wilsons, die in Versailles an Clemenceau anstießen und zerplatzten. Wir hatten inzwischen die gnädige Erlaubnis erhalten, uns an jene Strohhalme zu klammern, mittels derer die Seifenblasen hergestellt wurden. Oh, es war eine traurige Zeit!
Ich weiß, es werden immer noch Seifenblasen dieser Zeit aufsteigen. Seifenblasen der Weltrevolution, der Proletarierdiktaturen. Aber seitdem ich die echten, die wunderschönen regenbogenfarbigen Seifenblasen gesehen habe, blicke ich spöttisch und überlegen auf jene. Denn die Zeit ist wieder gekommen, da aus Kulturbedürfnissen Kinderspielzeuge werden. Die logische Konsequenz, die daraus zu ziehen ist: daß sich die Politiker nicht mehr mit Kulturbedürfnissen befassen sollen. Vielmehr mit dem Dreschen der Strohhalme, die nötig sind, damit Kinder Seifenblasen erzeugen.
Nicht Politiker.
Es wird eingestiegen
In die Züge nämlich. In die Züge der Südbahn, wenn zufällig kein Streik ist. Und zwar wird durch die Wartesäle eingestiegen. In welche Züge? In die Züge Nummer 31 und 35.
In der Südbahnhalle prangt die schöne Stilblüte: »In die Züge 31 und 35 wird durch die Wartesäle eingestiegen.« Man kann gerade nicht behaupten, daß diese Tafel an Deutlichkeit etwas zu wünschen übrig ließe. Wann und wohin die Züge 31 und 35 abgehen? Natürlich, wann und wohin sie wollen. Hauptsache ist: das Durch-die-Wartesäle-Eingestiegen-werden.
Wie prächtig sich doch die deutsche Grammatik auf Wiener Verhältnisse anwenden läßt! Wo erscheint die leidende Form mehr angebracht als in der Südbahnhalle? In Wien streikt man nicht. Es wird gestreikt. In Wien verkehrt man nicht. Es wird verkehrt. In Wien fährt man nicht. Es wird gefahren. Hier steigt man nicht ein. Das ist eine physische Unmöglichkeit. Es wird in der Menge Tausender Passagiere eingekeilt, erstickt, erdrückt, geohnmachtet, gewartet: schließlich aufgemacht, geschoben, getragen, gehoben; und zum Schluß eingestiegen. In Anbetracht des betrübenden Umstandes, daß es nur wenigen gelingt, alle die leidenden Formen der deutschösterreichischen Grammatik bis zur letzten, das heißt: eingestiegen werden, durchzuhalten, schlage ich folgende Tafel vor:
»Vor dem Eingestiegen-werden in die Züge 31, 35 wird durch die Wartesäle des Südbahnhofes gestorben.«
Josephus
Der Neue Tag, 10.9.1919