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VORWORT
ОглавлениеVON WOLFGANG MÜLLER-FUNK
Joseph Roth ist ein bis heute literarisch und intellektuell unterschätzter Autor. Eine solche Aussage mag angesichts der ungebrochenen Beliebtheit und Verbreitung eines Autors, der die Welt, die er auf seiner endlosen Reise, die sein Leben war, aus der ungläubigen Perspektive eines Fremden beschrieb, der in der Welt, vor allem in deren Zentren, nie angekommen ist (ob dieses Zentrum nun Berlin oder Wien, Paris oder, höchst imaginär, New York hieß), überraschen.
Noch die heutigen Auflagen seiner beliebtesten Werke könnten so manche Gegenwartsautoren und -autorinnen neidisch machen. Was aber so viel bedeutet, dass sein literarisches wie auch sein feuilletonistisch-journalistisches Werk noch immer eine Dimension von Aktualität besitzt, die in philologischer Traditionspflege nicht aufgeht. Bis heute wird an Roth das unterschätzt, was ich als Prägungskraft seines Werkes bezeichnen möchte, eine gewisse Zentralität der kleinen Form. Joseph Roth ist weder ein Autor der deutschen Neuen Sachlichkeit noch ein regionales österreichisches Phänomen, etwas für den sentimentalen Hausgebrauch Post-Kakaniens und seiner identitätsstiftenden Erzählkomplexe. Sein Œuvre ist Produkt und Produzent dessen, was man einigermaßen verschliffen und paradox als »klassische Moderne« bezeichnet hat. Joseph Roth gehört im doppelten Sinn in diesen Kanon, als Meister einer kleinteiligen, lyrisch-märchenhaften Prosa ebenso wie als scharfsinniger und pointierter Zeitzeuge der großen Krisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Seine sichere Hand, anschauliche Tableaus zu Papier zu bringen, die er in heute vergessenen feuilletonistischen Formaten eingeübt hat (etwa in seinen Glossen und Miniaturen in Der neue Tag), sind viel hintergründiger, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Diese Schilderungen aus dem Alltagsleben etwa der Wiener und Berliner Nachkriegszeit sind Türöffner, die uns Auskunft geben über die Verschiebungen, Brüche, Kränkungen und Absurditäten, die sich aus dem ungleichen Verhältnis von großen Ereignissen und kleinen Menschen, von unsichtbaren, aber bedeutsamen Veränderungen und ihrem Widerhall in Lebensverhältnissen ergeben, in denen diese nicht zu Bewusstsein kommen, aber, wie in dem beinahe vergessenen Roman Der blinde Spiegel, gleichwohl wirksam werden.
Der vorliegende Band versammelt Texte aus den ersten zehn Jahren des literarischen und journalistischen Schaffens von Joseph Roth. Seit den Publikationen von Ingeborg Sültemeyer und Hartmut Scheible in den 1970er-Jahren ist es üblich geworden, Roths Werk in mindestens zwei Perioden aufzuspalten: hier der Linksrepublikaner, der seine Artikel häufig mit der »rote Joseph« signiert, dort der konservative Monarchist und ›heilige Trinker‹, der mit der Welt im Hader ist. Es ist an dieser Stelle nicht der Ort, diese Wende zu kommentieren und zu analysieren. Viel wichtiger erscheint es mir indes, darauf hinzuweisen, dass es ungeachtet dieser politischen Wende, die zweifelsohne mit Roths Reise in das vorstalinistische Sowjetrussland und seiner zunehmenden Enttäuschung der politischen Entwicklung in Deutschland zusammenhängt, auch so etwas wie eine Kontinuität der Schreibweise, des literarischen Gestus, des hohen Maßes an Empathie und der damit verbundenen narrativen Techniken gibt. Ein Satz wie »Es regnete wirklich und der Vater kam, mit ergrauten Schläfen« (»Der blinde Spiegel« 1925), könnte sich auch in vielen späteren literarischen Texten finden, die auf eigentümliche Weise die Opposition von Roman und Erzählung neutralisieren. Das hängt ganz offenkundig mit jenen einsamen lyrischen Sätzen zusammen, die nicht selten ein Tableau vor dem Lesepublikum entfalten. Der höchst amüsante und merkwürdige Zusatz, dass es wirklich regnet, wenn der Vater von Fini aus dem Krieg nach Hause kommt, ist ein Indiz für jene ironische Märchenhaftigkeit, die in der Joseph-Roth-Welt obwaltet, übrigens nicht nur in der literarischen Prosa, sondern auch in den fast immer poetisch durchsetzten Feuilletons, jenen Gebrauchstexten, von denen der Autor leben musste und mehr und mehr leben konnte.
»Manchmal ist die Welt kleinwinzig wie ein Ameisenhaufen, so daß man ordentlich den Respekt vor ihr verliert«, heißt es in einem frühen Feuilleton-Text. Es spricht sich hier eine Weltfremdheit aus, die generell ist und aus der das poetische Schaffen Roths erwächst. Die Fremdheit des jungen Gefühlssozialisten und später ebenso romantischen »Monarchisten« ist eine vielfache, es gibt da, Kafka durchaus nicht unähnlich, eine Fremdheit, die mit der jüdischen Herkunft einhergeht. Es gibt ferner, weniger oft vermerkt, die Fragilität männlicher Identität. Weltverlorenheit stellt sich historisch zwiefach ein, als Ergebnis des Ersten Weltkriegs, der den Staat hinwegspült, in dem Roth höchst peripher geboren wurde, und als Folge des sich ankündigenden Scheiterns des sozialistischen Experiments in Russland. Fremd bleiben Roth zudem lebenslang jene urbanen Zentren, von denen er sich zugleich angezogen fühlt, so sehr, dass er lange vor dem Ende der Weimarer Republik Paris zum provisorischen Lebensmittelpunkt erkoren hat. Roth befindet sich, lange vor dem inneren Bruch mit dem marxistischen Sozialismus, auf einer permanenten Suche nach einer politischen Heimat. Er möchte sich so gerne mit etwas und jemand identifizieren, mit Friedrich Ebert oder mit Kaiser Franz Joseph, und vermag es doch eigentlich nie, weder als Linksrepublikaner noch als Über-Monarchist, in dem doch insgeheim sehr viel von seiner unbestimmten Linksorientierung der Jugendzeit bleibt, etwa seine Gegnerschaft zu Deutschnationalismus, Militarismus, völkischem Denken und schlussendlich zum Nationalsozialismus – politische Phänomene, mit denen sich Roth schon sehr früh beschäftigt hat, als Berichterstatter des Hitler-Ludendorff-Prozesses, aber auch in seinem frühen Roman Das Spinnennetz.
Der Raum des Literarischen erlaubt Roth eine Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit zu etablieren, aus der vor allem das literarische Werk seine innere wie äußere Spannung des Wortes bezieht. In literarischen Texten, aber auch an den heute nicht mehr existenten, an Kraus und Polgar geschulten Formaten des Feuilletons müssen nicht endgültige Urteile gesprochen werden – was Anteilnahme für die einen oder Spott für die anderen nicht ausschließt, so etwa, wenn ein »neugegründeter Sicherheitskörper« in der Custozzagasse einen »italiänischen« Revolver erbeutet und ganz kurz am Horizont jene Schlacht aufscheint, die nicht in der Custozzagasse, wohl aber zu Custozza stattgefunden hat. Dieser »Sicherheitskörper« sieht dem heutigen übrigens zum Verwechseln ähnlich.