Читать книгу Nacht und Hoffnungslichter - Йозеф Рот - Страница 16
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Knapp bevor man in die Lazarettgasse von der Spitalgasse einbiegt, befindet sich eine Haltestelle des 5er-Wagens. Ungefähr zehn Schritte weiter, ihr gegenüberliegend, in der Lazarettgasse eine Haltestelle des 15er, der durch die Lazarettgasse fährt. Hier mündet die 15er-Linie in die 5er ein, denn beide haben ein gemeinsames Ziel.
Die Tücke des Objekts: Spängler fügte es, daß, wenn ich an der Haltestelle des 15er-Wagens wartete, der 5er-Wagen zuerst kam. Wartete ich auf diesen, dann kam bestimmt der 15er. Ich beschloß, mich zu rächen, und ging zu Fuß. Dann kamen beide Wagen gleichzeitig.
Seit einiger Zeit ist statt der Haltestelle in der Spitalgasse eine Leinwand zu sehen, auf der mit riesengroßen Buchstaben angekündigt steht: Haltestelle verschoben! Man kann also an einer Haltestelle beide Wagen erwarten. Spängler hat die Tücke ausgeschaltet, indem er die Objekte zusammenrückte.
Nun blieb aber noch die Tücke jenes Subjekts, das in Wien wegen Kohlenmangels vor die Elektrische gespannt ist: die Tücke des Amtsschimmels. Besagtes Subjekt bleibt natürlich dort stehen, wo die Leinwand in riesengroßen Lettern verkündet: Haltestelle verschoben!
Tiefer Sinn aller Wiener Reformen wird hier offenbar: In eine knappe Definition gefaßt, heißt er: Verschoben ist nicht aufgehoben! Dagegen: Aufgehoben ist aufgeschoben!
Die Haltestelle wurde verschoben. Also bleibt der Wagen stehen. Denn die Haltestelle ist nicht aufgehoben. Aufgeschoben ist dagegen die Aussicht, beide Wagen an einer Haltestelle zu erwarten. Nicht aufgehoben ist die Möglichkeit, daß beide zugleich kommen und man infolgedessen zu Fuß geht. Also was ist eigentlich wirklich aufgehoben? Die Aussicht auf einen Erfolg verschobener Reformen! …
Der Schuß um Mitternacht
Ehe ich in die Custozzagasse einbog, ertönte ein Schuß. Es hatte zwölf Uhr geschlagen, und ein Schuß, der der Mitternachtsglokke sozusagen auf dem Klöppel folgt, wirkt in der Custozzagasse nicht aufmunternd. Ich gestehe meine Feigheit. Ich blieb stehen und suchte nach jenem, was man nie findet: einem Wachmann.
Ich wartete eine Viertelstunde. Als es ein Viertel schlug und ich berechnet hatte, daß derjenige, den der Schuß getroffen, schon längst tot sein und jener, der ihn abgegeben hatte, verschwunden sein mußte, entschloß ich mich, in die Custozzagasse einen Blick zu werfen. Ein Blick konnte nicht schaden. Ein Blick kann nicht getroffen werden.
Also warf ich einen Blick. Er fiel auf zwei patroullierende Stadtschutzleute. Ich war getröstet: Nun ist alles in Ordnung. Der Schwerverletzte in ärztlicher Obhut, der Attentäter in Gewahrsam. Oh, unsere brave Stadtschutzwache! Ich beschloß, die beiden Wackeren zu befragen und ihnen nach Feststellung des Tatbestandes die Hand zu drücken. Also fragte ich: wie, wo, woher?
Darauf zog der eine einen Revolver und sagte: Tadellos: Dös is a neicher italiänischer! Mir ham ihn scho ausprobiert!
Und der zweite sagte: Der geht guat!
Worauf ich ging und über den Wandel der Zeiten nachdachte: Nachtwächter, die lärmen; die Landstraße als Scheibenschießplatz; das Auge des Gesetzes, das zielt, statt zu wachen; ein neugegründeter Sicherheitskörper, der andere Körper in Unsicherheit bringt; italienische Revolver als Beute der Schlacht bei Custozzagasse; und manches andere dachte ich.
Von meiner Angst bei nächtlichen Revolverschüssen bin ich geheilt. Ich denke mir: A neicher italiänischer!
Josephus
Der Neue Tag, 12.9.1919