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Buddhismus: Sich selbst studieren

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Der große Zen-Meister des 13. Jahrhunderts Dogen Zenji sagte, die buddhistische Lehre zu studieren bedeute, sich selbst zu studieren. Sich selbst zu studieren bedeute, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen bedeute, erleuchtet zu werden von den zehntausend Dingen.

Wenn wir wahrhaft luzide geworden in solcher Erkenntnis leben, so brauchen wir den Tod nicht zu fürchten, denn wir selbst haben uns als unzerstörbares, leeres Gewahrsein erkannt; und das, was stirbt und geboren wird, sind nur unsere Erfahrungen, von Anfang an vergänglich und unfassbar. Wer also könnte oder müsste sie festhalten oder begreifen?

Alle Erfahrung ist »Rang-Nang«, ist »Selbst-Erfahrung«, aber alle Wesen im Samsara, dem Kreislauf der Existenzen, sind so geblendet und betäubt von der überwältigenden Vielfalt ihrer Wahrnehmungen, dass sie ihren Traum für eine unabhängig vom Erkennen existierende Realität halten. Auf das Erlebte mit Begehren und Aversion reagierend, vergessen sie sich selbst als den Schöpfer und Erkenner ihrer eigenen Projektionen. Aus diesem Grund lautet die essenziellste der befreienden Instruktionen für den Bardo-Zustand – und wir sind auch jetzt in einem Bardo, einem »Zwischenzustand« –: »Ruhe frei von Gedanken in reinem Gewahrsein, und erkenne alle Erscheinungen als deine eigene Vision, untrennbar von dir selbst!«

Wenn wir in der Leerheit des Geistes ruhen, sind auch alle Erscheinungen für uns leer. Nun kommen die leeren Gestaltungen unserer individuellen Träume aus unserem persönlichen Karma, aus den Spuren unseres eigenen früheren Denkens und Handelns. Der Traum der Menschheit aber, in die wir hineingeboren wurden, ist Ausdruck des kollektiven Karmas und Denkens aller Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen; und alle haben mit ihrem bildnerischen Denken, Wünschen und Handeln kreativen Anteil daran. Alle Wesen, die gerade als Mensch verkörpert sind, befinden sich in einem Lernprozess, in dessen Verlauf sie erfahren können, wie sie mit ihrem Körper, ihrer Rede und ihrem Geist verantwortlich und heilsam umgehen und nicht die Ursachen für neues Leid, sondern die Ursachen für das Glück schaffen können, das alle Wesen sich im Grunde wünschen. Das menschliche Leben bietet die Möglichkeit, aus Fehlern zu lernen und zu solcher »Lebensweisheit« zu kommen.

Während ein Großteil der Gesellschaften in West und Ost inzwischen unter den Einfluss eines ganz auf das Diesseits bezogenen Zeitgeistes geraten sind, der auf allen medialen Kanälen, wirtschaftlichen Interessen folgend, immer neue weltliche Ziele, Glücksversprechen und Wunschobjekte propagiert, öffnen sich wie gesagt gleichzeitig immer mehr Menschen, vom Mainstream und seiner Oberflächlichkeit enttäuscht, einer authentischen inneren Suche nach dem eigentlichen Sinn des Lebens und nach wahren Werten, und diese Wahrheitssuche ist sehr persönlich. Sie folgt weniger aus einer gesellschaftlichen Konvention oder einer Konfession. Von sich aus, von ihrem Inneren her, suchen die Menschen nun eher – einem internen Antrieb und geistigen Impuls zu tieferem Erkennen folgend, der all jene in dieser Zeit inspiriert, die für ihn empfänglich sind.

Viele sind auch von den althergebrachten Religionen enttäuscht, in die sie hineingeboren wurden – teils, weil deren Vertreter ihren hohen Idealen im Lauf der Geschichte selbst nicht immer folgten, teils, weil ihre Lehren über Gott und die Welt einem weiterentwickelten Verstand keine befriedigenden Antworten geben konnten. Wo es nicht ­gestattet war, Glaubensinhalte denkerisch und experimentell zu überprüfen, haben sich viele vom Glauben abgewandt und ihr gläubiges Vertrauen und ihre Hoffnung in menschliches Denken und Erfassen gesetzt. Die den gesellschaftlichen und medialen Diskurs immer noch dominierende Wissenschaftsgläubigkeit, gepaart mit einer populär-positivistischen, »aufgeklärten« Sichtweise, hat – egal, ob in kapitalistischer, sozialistischer oder kommunistischer Ausformung – alles Transzendente und Nichtwägbare und alle den materialistischen Rahmen sprengende spirituelle, übersinnliche Erfahrung als naiv, überholt, dumm oder sogar als pathologisch diskreditiert und immer mehr entwertet. Was im Christentum und Buddhismus als die Hauptfaktoren eines heilsamen, selbstlosen und nachhaltigen Handelns gelehrt wurde, die christlichen Grundtugenden und »die die Welt transzendierenden Tugenden«, die »Paramitas«, scheint vielen nun, wenn sie überhaupt noch darüber nachdenken, als beliebig ausgedacht und eine Vorstellung von vielen.

Was ein »korrektes Verhalten« oder, mit anderen Worten, »ethisches Handeln« ist, wird zunehmend als »Moralvorstellung«, als etwas der jeweiligen Zeit und den persönlichen Neigungen, Bedürfnissen und Auffassungen Entsprechendes oder als soziale Übereinkunft definiert. Eine Pluralität von willkürlichen, persönlichen Meinungen wird in den Medien als Vielfalt interessanter, möglicher Standpunkte zu ethischen Fragen verbreitet. Und sie unwidersprochen als gleichermaßen berechtigt gelten zu lassen wird als Toleranz und damit als positiv und demokratisch dargestellt. Faktisch wird es für den Einzelnen immer schwerer, »das Richtige« und das für alle Beteiligten und für sich selbst heilsame Handeln zu erkennen, wenn so viele Stimmen durcheinandersprechen. Wenn die Definition eines »korrekten, ethischen Verhaltens« in diesen wichtigen Fragen, wie zum Beispiel die Legalisierung von assistiertem Selbstmord und Abtreibung, zum Gegenstand von Diskussionsrunden und einer mehrheitlichen, »demokratischen« Abstimmung gemacht wird, dann bestimmen heute nolens volens die Medienmacher, was ethisch ist und was nicht.

Wenn wir also, um uns inmitten einer »Entwertung aller Werte« Klarheit zu verschaffen, die Frage stellen, worin der Sinn eines ethischen, eines tugendhaften Handelns besteht, so wird dies deutlich, indem wir »Tugend« in ihrem ursprünglichen Sinn einfach als »geschicktes Handeln« verstehen. Geschicktes Handeln schafft für uns selbst und unsere Kinder, für alle Lebewesen, für die Menschheit und für unsere Welt, nachhaltig heilsame, gesunde und das Leben und seine Grundlagen bewahrende Umstände, und es bewirkt nicht Vergiftung, Tod und neues Leid. Ein Handeln, das uns selbst, den anderen und unserer Umwelt auf kurze und auf lange Sicht schadet – sowohl psychisch als auch physisch –, ist dagegen unvernünftig und kontraproduktiv.

Es gibt also hier auf Erden einiges zu lernen, und so war und ist das eigentliche Ziel der Menschenbildung und der Selbstentwicklung der Erwerb höchst schätzenswerter Qualitäten: zum Beispiel ein wacher Verstand, Weisheit, Mitgefühl, Gelassenheit, Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit – Eigenschaften, die den Menschen zu einem vernünftigen, achtsamen, altruistischen, mutigen und verantwortlichen Handeln befähigen und ihn dadurch unter seinen Mitmenschen besonders auszeichnen und liebenswert und vertrauenswürdig machen.

Das grundlegende Leitmotiv eines religiösen Lebens im Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus besteht nach wie vor darin, sich von negativen Charaktereigenschaften oder Untugenden zu befreien. Als da wären Selbstsucht, Ignoranz, Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit, Überheblichkeit, Eifersucht, Begierde, Neid und Zorn. Es geht um die Befreiung von aller Anhaftung an Dinge und Sinnesreize, an Körper, Ich und Welt. Es gilt, positive Qualitäten wie Selbstlosigkeit, Mitgefühl, Liebe, Mitfreude und Gleichmut sowie Tugenden wie Freigebigkeit, Geduld, Selbstbeherrschung, freudiges Bemühen im Guten, geistige Sammlung und klar unterscheidende Weisheit zu kultivieren.

Der Wert und Sinn von guten Werken und von altruistischem Handeln, von Verzicht auf Besitz und leibliche Genüsse, Selbstüberwindung, Nächstenliebe, Gebet, Stillewerden und Kontemplation wurde früher stärker als heute in ihrem natürlichen Zusammenhang von Ursache und Wirkung gesehen und war eingebettet in die selbstverständliche Perspektive eines Weiterlebens nach dem Tode und einer göttlichen, ausgleichenden Gerechtigkeit, die, einfach und treffend formuliert, darin besteht, dass »jeder das ernten wird, was er einmal selbst gesät hat«. Die Früchte, die wir ernten werden, entsprechen der Art von Samen, die wir gelegt haben. Die Welt zu überschreiten und das Ego zu überwinden war das hohe Ziel, und das Streben nach Heiligkeit, Erlösung und Erleuchtung war allgemein anerkannt und als höchste Leistung des Menschen überaus geachtet. Wenn ich hier »war allgemein anerkannt« schreibe, dann deshalb, weil in diesem »Zeitalter der Degeneration«, wie »der zweite Buddha« Padmasambhava unsere Zeit in seinen Prophezeiungen nennt, der eigentliche »Sinn und Zweck« dieses Menschenlebens und die Richtlinien eines ethischen Handelns immer mehr unter einer Fülle von Informationen, Meinungen und Zeitvertreiben verschüttet werden.


Wie also können wir sie wieder klar und deutlich herausarbeiten und verständlich machen? Das Wort »Tugend«, lateinisch virtus, hat seine Wurzeln in den Worten vis für »Kraft«, als Wirkendes und Zeugendes verstanden, und vir, das »Mann« oder »Held« bedeutet: ein »Mann« oder »Mensch« mit hervorragenden Fähigkeiten und einer »optimalen Qualität des Verhaltens«, wobei unter den Letzteren die herausragende Geschicklichkeit in der Anwendung der gegebenen Talente und Kräfte des Wirkens und Gestaltens zu verstehen sind. Vir leitet sich von dem weitaus älteren Sanskritwort vira her, das »Held« oder »Heros« bedeutet. »Maha-Vira« oder »großer Held« ist im Hinduismus ein Beiname des Gottes Vishnu, und in den Mahayana-Sutras des Buddhismus werden alle Wesen auf den höheren Stufen des Wegs zur völligen Erleuchtung oder Buddhaschaft, also die »Bodhisattvas«, häufig mit dem Epitheton »Maha-Vira« benannt. Das deutsche Wort »Tugend« impliziert ­Tauglichkeit oder Nützlichkeit und bezeichnet sowohl große Begabungen und gute Charaktereigenschaften wie auch eine erstrebenswerte Geschicklichkeit und Weisheit in all unseren Handlungen. Lernt man, seine Kräfte von Körper, Rede und Geist geschickt anzuwenden und den Erfordernissen jeder Situation entsprechend und angemessen zu handeln oder Handlungen zu unterlassen, so führt dies schließlich zu Virtuosität – zur Fähigkeit, eine Kunst, eine Wissenschaft oder ein Handwerk meisterlich, das heißt optimal und fehlerfrei, doch gleichzeitig spontan und anstrengungslos auszuüben.

Wenn wir Ethik als »die Wissenschaft eines jetzt und auf Dauer heilsamen Handelns« definieren, so ist ihr Gegenstand der Zusammenhang aller Handlungen von Körper, Rede und Geist mit den dadurch bewirkten Folgen und damit das Studium des Gesetzes von Ursache und Wirkung oder Karma. Dieses wirkt in Bezug auf all unsere Taten und Erfahrungen ebenso verlässlich regulierend und ausgleichend wie überall in der Natur. Actio est Reactio. Wenn wir die Ursachen des Leidens verstehen, können wir diese beseitigen und wieder gesund werden.

All unsere Gedanken, Worte und Handlungen haben als spezifische, von uns ausgehende und gesetzte Ursachen und Impulse die ihnen genau entsprechenden Wirkungen, die unmittelbar in der Gegenwart und in der Zukunft unsere eigene Wahrnehmungsweise und unsere Erfahrungswelt gestalten und prägen. Achtsames, auch auf seine Folgen bedachtes Handeln erweist sich als nachhaltig geschickt, denn seine Auswirkungen sind positiv, wenn es frei von unheilsamen Beweggründen ist. Unachtsames, auf die möglichen Nachwirkungen nicht achtendes, rücksichtloses Handeln ist meist auch unheilsam und damit ungeschickt, weil es negative Folgen für einen selbst und die Gesellschaft und die Umwelt hat. Um ein deutliches Beispiel zu geben, brauchen wir wie gesagt nur die derzeitige Umweltverschmutzung, die sie verursachende Profitgier der Firmen, unser eigenes, von der Werbung gesteuertes Konsumverhalten und dessen Folgen zu betrachten. Der Verschmutzung der äußeren Welt geht wie gesagt die Verschmutzung unserer Innenwelt mit den Toxinen des Geistes wie Überheblichkeit, das Ignorieren unserer Fehler, Rücksichtlosigkeit und die Gier nach immer neuen Wunschobjekten und Sensationen voraus. Unser Denken, Wünschen und Handeln formen unser Leben und unsere Welt.

Um ein weiteres, kleines Beispiel aus dem täglichen Leben zu geben: Unsere Worte sind im Grunde nur Töne, die verklingen – sie sind unbeständig und vergänglich, und doch kann ein verletzendes Wort Schäden bewirken, die schlimmer sind und länger bleiben als solche, die durch Waffen zugefügt werden. Ein böses und unbedacht hingesagtes Wort genügt manchmal, um Freunde lebenslang zu Feinden zu machen. Ein negatives, entwertendes Wort kann die gute Stimmung eines friedvollen Miteinanders in der Familie trüben oder ihre Mitglieder für immer entzweien. Seine verunreinigende Wirkung gleicht einem Körnchen Mäuse­kot, das, wenn es in einen Topf Milch hineinfällt, die ganze Milch verderben kann – so sagen die Tibeter.

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens

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