Читать книгу Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - Yungdrung Wangden Kreuzer - Страница 14

Die unkörperliche Klarheit des Geistes

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Es ist ein gut bekanntes Faktum, dass Menschen mit einem religiösen oder spirituellen Hintergrund und Ausblick ein leichteres Sterben haben als solche ohne eine derart tröstliche Perspektive. Vor dem Tod tritt aber für die meisten Menschen auch eine Art von terminaler Luzidität ein, und das erstaunlicherweise sogar bei Alzheimer im letzten Stadium, also mit einem stark aufgelösten Gehirn. Die Betroffenen können dann ihre Angehörigen wieder erkennen und klar mit ihnen sprechen. Auch übersinnliches Vorauswissen und Telepathie sind hier möglich.

Es ist offensichtlich die ursprüngliche, unkörperliche Klarheit des Geistes, jenes klare Licht der Weisheit, von dem die Reanimierten erzählen, das auch hier an der Schwelle schon herüberleuchtet, wobei es natürlich auch am Einzelnen liegt, wie er darauf reagiert. Man kann sich dem öffnen oder bis zuletzt versuchen, jede Einsicht zu verdrängen.

Mit diesem Licht kommt auch eine spontane Einsicht, dass es keinen Tod gibt. So ergeht es auch Menschen, die sich selbst töten, im Augenblick des irreversiblen Sterbens, und sie erkennen schmerzlich die Absurdität und Falschheit ihrer Handlung. Für Menschen, die, von der Annahme ausgehend, dass mit dem Tod alles aus ist oder dass dieser Eingriff sie dann nicht mehr negativ affizieren kann, einer Organentnahme zugestimmt haben, mag dies ähnlich sein. Vitale Organe können nur dann verpflanzt werden, wenn der schwerverletzte »Spender« noch lebend auf dem Operationstisch liegt. Der tibetische Buddhismus rät, den Körper eines Verstorbenen für drei Tage nicht einmal zu berühren. Er sollte in der beim Sterben eingenommenen Position belassen werden, um den Todesprozess nicht zu stören und um eine möglich tiefe geistige Ruhe im Sterben und damit seine Erlösung oder eine positive Wiedergeburt nicht zu vereiteln.

Jemand, der eine materialistische Sichtweise verinnerlicht hat, seinen Lebenssinn ganz in dieser Welt sieht und sich völlig mit dem Körper identifiziert, stirbt im Glauben, dass der Tod das Ende von allem sei. Aber dem ist natürlich nicht so. Diese Seelen sind nach dem Exitus selbstverständlich überzeugt davon, noch zu leben. Sie verstehen lange nicht, dass sie gestorben sind, und bleiben deshalb länger erdgebunden und versuchen, sich bemerkbar zu machen. Es gibt immer mehr Fälle dieser Art – besonders wenn die Menschen durch einen Unfall, also plötzlich, aus dem Leben gerissen wurden.

Die spirituelle Praxis des Chöd Praktizierende haben sich darin geübt, ihren Körper zu verlassen, von oben herab der Zerstückelung ihres Körpers durch imaginierte Opferungsgöttinnen zuzuschauen und wie diese ihr Fleisch und Blut dann allen Wesen zu opfern. Sie mögen deshalb zu einem solchen Opfer ihrer Organe, von großem Mitgefühl motiviert, fähig sein.

Für andere aber kann die Szene der chirurgischen Organentnahme aus ihrem noch lebendigen und fühlenden Körper, der sie im Operationssaal beiwohnen, zu starken Gefühlen der Irritation, der Abwehr und des Ärgers führen. Negative Gefühle jedoch können leider im ­entscheidenden Augenblick des Todes und des Übergangs eine schlechte Wiedergeburt bewirken, so lehrt es das Totenbuch.

Die wenigsten Menschen wissen, dass Organspender mit den stärksten Schmerzmitteln betäubt und auf dem OP-Tisch festgebunden werden müssen, weil sich ihr Körper immer wieder aufbäumt und gegen den Eingriff wehrt. Der Patient, dessen Hirntod festgestellt wurde, ist nicht tot, sondern stirbt erst durch die Organentnahme. Organe werden sehr teuer gehandelt, die Transplantationschirurgie ist äußerst lukrativ, und die Medikamente, die die immunologische Abstoßung der Spenderorgane unterdrücken sollen, kosten jährlich pro Patient ein Vermögen.

Es gab auch immer wieder Patienten, bei denen »der Hirntod« festgestellt, aber keine Organe entnommen wurden, die nach adäquater Behandlung des verletzten Gehirns und Wochen oder Monaten der richtigen Pflege wieder aufwachten und völlig gesund wurden.

Der Tod wird dem materialistischen Glaubenssystem entsprechend entweder positiv als Erlösung von allem Leid oder negativ als endgültige Auslöschung der eigenen Existenz gesehen, und beides ist falsch. Der Geist stirbt nicht, sondern nur der menschliche Körper, eine seiner vielen möglichen Formen. Er wird mit seinen Gedanken, Emotionen und Wünschen wieder Form annehmen, und deshalb wird sein Zustand beim Sterben als bestimmend für seine künftige Existenz gesehen.


Wird Sterben als Katastrophe und der Tod als Feind des Lebens gesehen, der einem alles entreißt, was einem lieb und wert ist, so muss er unbedingt und um jeden Preis verhindert und hinausgeschoben werden. Das gebräuchliche Vokabular im Umgang mit Krankheit und Tod ist deshalb martialisch. Man muss gegen sie kämpfen und sie endgültig besiegen. Krankheit ist ein Fehler im System, den man beheben muss, der aber keinen Sinn hat, der einen etwas lehren könnte. Die Medizin suggeriert zunehmend, dass man schließlich alle Krankheiten heilen können wird, wenn nur die Freiheit der Forschung nicht mehr durch »ethische Grenzen« behindert wäre. Aber solange die Ursachen von Leid nicht durch innere Arbeit im Geist gereinigt sind, werden lediglich neue Krankheiten anstelle der alten erscheinen.

Wir alle sind natürlich dankbar für eine gut funktionierende moderne Medizin, und wo sie noch dem ärztlichen Eid des Hippokrates folgt, wird sie auch die zu beachtenden heilsamen Grenzen, wie zum Beispiel das Tötungsverbot, achten. Es ist aber zu beobachten, dass in Folge der die akademische Ausbildung und die Wissenschaft seit Längerem dominierenden positivistischen und materialistischen Sichtweise die Neigung besteht, sich über ethische Bedenken hinwegzusetzen und alles zu machen, was man inzwischen machen kann. Hier sind bereits gravierende Fehlentwicklungen eingeleitet worden, und wir sollten deren Natur und die dahinterstehende Mentalität verstehen und ihnen rechtzeitig Einhalt gebieten, wo wir betroffen sind oder Gelegenheit dazu haben.

Es ist erfreulich, dass nun auch vermehrt andere Stimmen in der Ärzteschaft laut werden, die die derzeit gängigen Sicht- und Verfahrensweisen im Medizinbetrieb offen infrage stellen und, etwa wie Dr. Giovanni Maio, die Grenzen der Machbarkeit und des Wachstums aufzeigend, für eine humane Medizin im Sinne des Hippokrates eintreten.

Jeder von uns kann, in seinem persönlichen Umfeld beginnend, helfen, klare ethische Richtlinien zu vertreten und zu bezeugen. Auch in unserer privaten Kommunikation im Internet, in Vorträgen auf Kongressen und in Publikationen können wir unsere Meinung äußern. Was die Ärzte »guten Willens« betrifft, so hoffe ich, dass sie sich miteinander verbinden, um einem deutlichen Trend zur Dehumanisierung entgegenzuwirken, auch wenn dies in den auf finanziellen Profit hin orientierten Kliniken und Anstalten immer schwieriger wird.

Vonseiten der Psychologie können die vitale Wichtigkeit einer ganzheitlichen, das heißt Leiden und Sterben nicht verdrängenden Einstellung und die Möglichkeiten und Vorteile von Entspannungstechniken und Mitgefühlsübungen als Maßnahmen der Psychohygiene für das ­überlastete ­Klinikpersonal und als Unterstützung für die Patienten aufgezeigt und von den positiven Erfahrungen her, die bereits damit gemacht wurden, begründet werden. Es wäre wünschenswert, dass diese psychisch entlastenden und eine von Empathie getragene Motivation stärkenden Methoden häufiger in Kursen für das Pflegepersonal eingeführt und vermehrt in einer Gruppenarbeit mit Patienten angewendet würden, um dehumanisierenden Tendenzen entgegenzuwirken, die durch Überlastung gefördert werden.

Mitgefühlsübungen und Meditation sind eine Quelle der Kraft, weil sie uns öffnen und uns unsere erdachten persönlichen Grenzen vergessen lassen. Einschränkende persönliche Glaubenssätze und Auffassungen, die die Empathiefähigkeit verringern, können durch die bewusste Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf heilsame, holistische Sätze wie »Mögen alle Wesen gesegnet sein, denen ich heute begegne« oder »Mögen alle Wesen glücklich sein« ersetzt und erfolgreich transzendiert werden. All das sind Ansätze, die weiter ausgebaut werden können.

Viel Erfreuliches ist ja bereits auf diesem Gebiet geschehen, die Hospiz­bewegung verbreitet sich, und vielerorts werden jetzt Kurse für Sterbebegleitung angeboten. Ich wünsche mir, dass auch die Übungen in diesem Buch dabei eine immer breitere Verwendung finden werden und noch vielen Menschen helfen können.

Wenn man mehr mit gemeinsamen Entspannungs- und Ruheübungen wie dem »alles befreienden Atem des A« und mit Mitgefühlsmeditationen, wie zum Beispiel dem »unzerstörbaren Atem von Segen und Mitgefühl«, arbeitete, die im dritten Teil dieses Buchs beschrieben sind, so könnte man sich viele andere medizinische Maßnahmen sparen. Kombiniert mit einer guten palliativen Versorgung, wäre eine größere Lebensqualität und Sinnhaftigkeit in der letzten Lebensphase und eine hilfreiche Vorbereitung auf das Sterben möglich, sodass wohl die wenigsten auf die Idee kämen, sich umbringen zu lassen oder ihren Tod vorzeitig selbst herbeizuführen.


Wo die Wissenschaft und Medizin subliminal und offen die bevorstehende Befreiung von allem Leid verspricht, aber gleichzeitig von unternehmerischen, finanziellen Interessen und von Gewinnmaximierung motiviert erfindet und handelt, ist große Vorsicht und auch ein Hinterfragen der angebotenen und häufig als »alternativlos« ausgegebenen Leistungen und »Machbarkeiten« geboten, denn bereits die von gewinn­orientierten, finanziellen Interessen verunreinigte Motivation weicht ja vom Hippokratischen Eid ab und führt in eine andere Richtung. Rein marktwirtschaftlich gesehen, gilt es, möglichst gewinnbringende Leistungen zu generieren und solche, die weniger lohnen, zu reduzieren. Betrachten wir es genau, so steht hinter ethisch bedenklichen Eingriffen der Medizin heute oft in Wahrheit diese Logik.

Es zeigt sich folglich eine mangelnde Bereitschaft, die eigentlichen Ursachen des Leids zu erkennen, zu benennen und zu beseitigen, und bedingt durch ein mechanistisches, körperfixiertes Menschenbild und die axiomatische Negation eines Weiterlebens nach dem Tod zugleich ein falsches Verständnis davon, was wirkliche Gesundheit von Körper und Psyche und ein gutes, kostbares Menschenleben eigentlich bedeuten.

Ich denke, es wäre gut und eine wertvolle Entscheidungshilfe, wenn sich unsere heutigen Ärzte in ihrem eigenen Interesse und in dem ihrer Patienten weiterhin oder wieder nach dem klassischen Eid des Hippokrates orientierten. In diesem heißt es nämlich: »Ich schwöre Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zum Zeugen anrufend, dass ich nach bestem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Verpflichtung erfüllen werde: Meine Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen und Frommen der Kranken nach bestem Vermögen und Urteil. Ich werde sie bewahren vor Schaden und willkürlichem Unrecht. Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten. Auch werde ich nie einer Frau ein Abtreibungsmittel geben. Heilig und rein werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren …«

Da, wo es früher wohl oder übel hieß: »Dein Wille geschehe«, wird heute dem Menschen nahegelegt, selbst zu entscheiden, was annehmbar ist und was nicht; und er oder sie »lässt es machen«, wenn es angeboten wird, erlaubt und möglich und finanzierbar ist.

Der Mensch glaubt, er entscheidet dabei frei, aber in Wahrheit haben ihm zumeist Werbekampagnen und Fernsehsendungen die Ideen sehr gezielt, offen und subliminal in den Kopf gesetzt und seinen Willen gelenkt. Der Wandel von ethischen Paradigmen, dessen Zeuge wir sind, geschieht nicht von ungefähr, sondern war und ist medial beeinflusst. Bei einer Vielzahl widerstreitender Meinungen und Argumente scheint es so manchem nicht mehr leicht, sich über die oben genannten, medial zumeist gepriesenen wissenschaftlichen Errungenschaften, Eingriffe und Manipulationen der Natur und ihren Sinn und Zweck ein sicheres Urteil zu bilden. Doch wenn Technologien wie zum Beispiel die Nanotechnologie und Gentechnik in den falschen Händen sind, so hat die Menschheit bereits früher leidvoll erfahren müssen, dienen sie meist leider nicht dem Wohl und der Befreiung der Menschen, sondern werden für ihre Unterdrückung, Steuerung, Manipulation und für eugenische Auswahl und Reduktion der Bevölkerung verwendet.

Was die gravierendsten Auswüchse dieser technischen »Fortschritte« – was das Töten von als »unerwünscht« oder »unwert« betrachteten Lebens betrifft, so brauchen wir uns eine richtige ethische Einschätzung dieser Handlungen sicher nicht zusammenzudenken, denn eine höhere Weisheit und Einsicht als der verwirrte menschliche Verstand hat gesprochen, als sie eine der Hauptregeln für ein nachhaltiges, heilsames Verhalten, und das in unserem eigenen Interesse, lehrte: »Du sollst nicht töten.« Und in der fünften Grundregel für ein ethisches Verhalten im Buddhismus heißt es dementsprechend: »Ich gelobe, kein Lebewesen zu verletzen oder zu töten.« Dilgo Khyentze Rinpoche erklärte hierzu, dass dies nicht nur bedeute, selbst vom Töten abzusehen, sondern auch die Verpflichtung impliziere, das Leben zu schützen und zu retten, wenn es uns möglich ist.

Es gibt also eine ganz klare ethische Richtlinie und Grenze, und wir sollten uns immer wieder darauf besinnen und berufen. Es ist wichtig, sie zu würdigen und in unserem Umfeld und in der Gesellschaft auch zu bezeugen.


Generell ist die Identifizierung mit und die Fixierung auf den Körper einfach zu groß geworden in diesem Zeitalter, aber nicht im Körper liegt unser Leben und unser künftiges Schicksal, und dieses ist nicht zufällig, sondern es wird durch unser Denken, Fühlen, Wollen und Handeln in diesem Leben und genau jetzt vorbereitet und wirkt sich in allen unseren weiteren Leben aus.

Dazu fällt mir an dieser Stelle ein weiteres Jesus-Wort ein, das auch für die anderen fragwürdigen Manifestationen des Zeitgeistes zutrifft, über die wir hier nur deshalb sprechen, weil sie inzwischen jeden Menschen affizieren und zu seinen psychischen und physischen Leiden beitragen: »Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, dabei aber seine Seele Schaden leidet?«


Leider wird der kontextuelle Zusammenhang von Ursache und Wirkung in Bezug auf das eigene Handeln und die Vorteile eines altruistischen, ethischen Handelns selbst unverständlich und inkohärent, wo der Mensch in der Überzeugung lebt, dass mit dem Tod alles aus ist und es folglich keine Nachwirkungen seiner Handlungen für ihn selbst geben kann. Dass aber unter den Folgen des unvernünftigen Wirtschaftens und Verhaltens der heutigen Elterngeneration deren Kinder und noch viele Generationen nach diesen und alle anderen Lebewesen auf diesem Planeten leiden werden, wenn sie nicht ohnehin schon ausgerottet sind, ist nun eigentlich unübersehbar geworden.

Die meisten Menschen verdrängen das Unangenehme einfach, und so wollen sie die Brisanz dieser nachhaltig die Lebensqualität einschränkenden umweltlichen und gesellschaftlichen Veränderungen nicht wahrhaben und schauen lieber gebannt auf ihre Bildschirme, wo eine virtuelle Pseudorealität ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkt, sie bindet und durch oberflächlich angenehme und faszinierende Unterhaltung von der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen, tatsächlichen Umwelt und Lebensumstände ablenkt.

Medial wird langsam ein postfaktisches, ein hochgradig fiktionales Sehen und Verhalten – also ohne »Realitätsbezug« in bisher noch gültiger psychologischer Diktion – eingeführt und kultiviert, in denen Lüge mit Wahrheit und Wahrheit mit Lüge gleichgesetzt und als gleich geachtet wird. Damit wird es immer schwerer für den heutigen Menschen, Heilsames von Unheilsamem zu unterscheiden.

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens

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