Читать книгу Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - Yungdrung Wangden Kreuzer - Страница 15

Die Vergeblichkeit allen weltlichen Strebens

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In der letzten Phase des Lebens wird die Vanitas oder Vergeblichkeit allen weltlichen Strebens für jeden Menschen offenbar, und das persönliche Weltende kommt in Sicht. Doch Leiden und Tod, die beiden großen Lehrmeister sind dem, der ihre Botschaft nicht hören will lediglich sinnlos, absurd und unerwünscht.

Man will ihre Lektion nicht mehr lernen, stellen sie doch das vertraute Leben und das Streben nach weltlichen Zielen infrage. Es nimmt also nicht wunder, dass viele von dieser Leistungsgesellschaft geprägten Menschen, die sich mit deren Werten identifiziert und keine andere Perspektive kennengelernt haben, nun sogar die letzte Phase ihres Lebens, in der die wohlvertraute Identifikation mit dem Körper und mit den angestrebten Zielen fragwürdig und brüchig wird und in der man Vergänglichkeit, den Verfall der Kräfte und den immanenten Tod nicht mehr verdrängen kann, als ihrer unwürdig und mit ihrem Stolz nicht vereinbar finden. Viele fordern nun ein Recht darauf, sich selbst vergiften zu dürfen. Warum gerade heute, so könnte man fragen, wo die Medizin so weit fortgeschritten ist, dass sie viele Leben künstlich verlängern kann, die eigentlich bald enden würden? Die Realität ist, dass sie in der »Konsumgesellschaft« zumeist niemand mehr haben, der sie wertschätzt und der sagt, dass er sie noch braucht.

Eine Gesellschaft, in der niemand mehr Zeit hat, deren falsches »Ideal« in höchster körperlicher und geistiger Fitness und im Ertrag und der Wirtschaftsleistung jedes Einzelnen besteht, isoliert und verdrängt die Alten. Wird in besagter Gesellschaft der assistierte Suizid gesetzlich erlaubt, so wächst in der letzten Lebensphase, in der wir der Hilfe anderer bedürfen, auch der soziale Druck, sich das Leben zu nehmen.

Alte Menschen halten es für eine selbstbestimmte Handlung, sich selbst zu töten, und sagen oft, sie wollen den anderen nicht zur Last fallen. Doch leider werden auch ihre Helfer in eine negativ belastete Tat involviert, wenn sie den Menschen auf seinen Wunsch hin töten. Es ist nicht angebracht, dies einen »guten Tod« oder einen »Freitod« zu nennen; denn diese Handlung ist ein Ausdruck von Verdrängung, Not oder Verzweiflung, und sie geht von der falschen Annahme aus, dass mit dem Tod des Körpers auch alles Leiden endet.

Wenn es im Christentum und im Buddhismus Gebote gibt, die den Selbstmord untersagen, dann nicht aus mangelndem Mitgefühl für den leidenden Menschen, der keinen anderen Ausweg mehr sieht, sondern aus dem sicheren Wissen heraus, dass dieser seinem Leiden durch das Töten des Körpers nicht entfliehen kann und stattdessen dadurch nur neue Ursachen des Leidens für sich schafft.

Es gibt aber immer auch eine andere Möglichkeit, einen anderen, einen guten Weg. Die Folge einer absichtlichen Tötungshandlung wie Mord, Abtreibung oder auch Selbstmord sind nach der buddhistischen und hinduistischen Karmalehre eine verkürzte Lebensspanne und gesundheitliche Probleme im nächsten Leben. Auch sinken die Chancen, wieder ein menschliches Leben zu erlangen, wenn man es jemandem oder sich selbst genommen hat. Einmal mehr: Actio est Reactio.

In christlicher Sicht sind die Folgen ebenfalls sehr negativ und von langer Dauer. Wer sein menschliches Leben selbst beendet, ist wie jemand, der einen großen Schatz wegwirft, denn als Mensch geboren zu werden ist, auch wenn es oberflächlich betrachtet kontraintuitiv klingt, in Wirklichkeit etwas extrem Seltenes. Und nur in einem menschlichen Leben kann man Erleuchtung und damit Befreiung vom Daseinskreislauf erlangen.

Wie selten eine menschliche Geburt ist, so lehren die buddhistischen Meister, könne man daran sehen, wie wenig Menschen es auf der Welt gebe im Vergleich zu den unzähligen anderen Lebewesen, wie zum Beispiel die Zahl der Tiere, der Insekten in einem einzigen Wald oder den Abermillionen von Kleinlebewesen in einer einzigen Meereswoge mit Plankton. Außerdem gibt es unzählige Wesen in anderen, für uns unsichtbaren Bereichen und Ebenen, aber keiner von diesen Bereichen ist der Erleuchtung so förderlich wie der menschliche.


Jeder Tag eines menschlichen Leben ist trotz aller Leiden, ja oft wegen der Leiden, von denen es auch in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter genügend gibt, kostbar, denn Leiden kann für einen Menschen immer auch Ansporn zu tieferem Erkennen sein. Wir können aus unseren Fehlern lernen und aus Schaden klug werden.

Viktor E. Frankl sagte, es gebe bis zum letzten Augenblick unseres Lebens die Möglichkeit, eine scheinbare Tragödie und auch unsere größte Not in eine sinnvolle Leistung zu verwandeln, und das sei sogar die größte Leistung, deren der Mensch fähig sei.

Es ist ein bekanntes Faktum menschlicher Erfahrung, dass besonders in Krisensituationen, in unserem Scheitern, in extremis, in tiefer Not, in Todesnähe – in Bedrängnis und Hilflosigkeit, wenn das Ego nicht mehr weiterkann und seinen Halt aufgibt – die Seele nach Hilfe ruft und dass sich überpersönliche Erkenntnis, Glück und Erleuchtung dann ­ungehindert und plötzlich offenbaren können. Die Wirklichkeit kann sich da zeigen und bewahrheiten, wo unsere Konstrukte und unser Eigenwille scheitern.

»Die Not des Menschen ist die Gelegenheit Gottes«, so heißt ein altes Sprichwort, und ein anderer, unerwarteter, in seiner Bedeutung nicht hoch genug zu schätzender Effekt der Gerätemedizin bestätigt dies und kon­trastiert das materialistische Denken und seine Glaubenssätze seit einiger Zeit auf unerwartet effektive Weise. Durch die Fortschritte in der Reanimationstechnik haben viele Menschen an der Schwelle des Todes und im Koma liegend Einblicke und tiefe Einsichten gewonnen, welche in den meisten Fällen ihren Blick auf das Leben verwandelten und zu einem achtsameren und liebevolleren Verhalten, gepaart mit einer großen Wertschätzung für das Geschenk des Lebens, führte, und das unabhängig davon, ob sie vorher religiös waren oder nicht. Diese Menschen haben den Körper zeitweise verlassen und damit eine zweifelsfreie Gewissheit gewonnen, dass der Tod des Körpers nicht das Ende des Lebens, sondern nur ein »Exitus«, das Hinaustreten in eine andere Dimension und Seinsform ist.

Das Zurückkommen eines Menschen aus dem »Jenseits« war in früheren Zeiten ein recht seltenes Ereignis, aber es gewann doch, wie wir zum Beispiel an der langen und bedeutenden Nachwirkung der von Platon in der Politeia erzählten »Geschichte des Kriegers Er« sehen können, eine große Bedeutung für die Gesellschaft und inspirierte das einfache Volk ebenso wie Dichter und Philosophen. In Tibet genossen solche Menschen große Verehrung, und ihre Erzählungen bilden eine eigene Literaturgattung.

Heute erleben täglich viele Menschen diese Zustände, und ihre Berichte bereichern eine wiedererstehende Ars Moriendi mit der Frische des unmittelbar selbst Erlebten. Sie sind Zeugnisse direkter, persönlicher Erfahrung, von jeder Ideologie freie Offenbarungen von dem, »was wirklich wichtig ist im Leben«, und ich lese sie deshalb immer gern.

Ihre große Übereinstimmung erweist das Erleben des »Exitus« als eine Urerfahrung des Menschen, die ihre Entsprechung im »Introitus« der Geburt hat. Und dass wir bei beiden durch einen Tunnel gehen, ist nicht die einzige Ähnlichkeit.

Mögen manche Mediziner ihrem Glaubenssystem entsprechend auch versuchen, diese außergewöhnlichen und übersinnlichen Erfahrungen auf körperchemische Prozesse zu reduzieren, dass solch tiefgreifende Metanoia in einer Nahtoderfahrung möglich ist und geschieht, dass eine kurze Begegnung mit dem, was in den Tibetischen Totenbüchern »das klare Licht der Wirklichkeit« genannt wird, ein unvergessliches, intuitives Erkennen des Sinns des Lebens ermöglichen kann, das so tief ist, dass der Mensch gleichsam wie aus einem Erleuchtungserlebnis als ein Verwandelter und ganz auf das Heilsame hin orientiert hervorgeht, ist eigentlich das Erstaunlichste und Überzeugendste daran.

Der Körper liegt in Narkose und schwer verletzt im Bett, doch der Erlebende erfährt außerhalb des Körpers einen Frieden, ein Wohlbefinden, eine höhere Luzidität und mitfühlende Weisheit, die ihm in seinem Körper und Gehirn im normalen Wachzustand nicht zugänglich waren. Er verfügt in seinem feinstofflichen Körper außerdem über übersinnliche Fähigkeiten wie Gedankenlesen und ein panoramisches Gewahrsein, das Situationen wie den Operationssaal oder den Unfallort sehr genau wahrnimmt und sich detailliert an sie erinnert.

Dies entspricht also der Aussage des Tibetischen Totenbuchs, dass der Verstorbene im Jenseits über eine neunmal stärkere Luzidität verfügt als im physischen Körper.

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens

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