Читать книгу Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - Yungdrung Wangden Kreuzer - Страница 16

Menschsein als einmalige Chance, völlige Erleuchtung zu erlangen

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In dieser Welt als Mensch geboren zu werden ist der Lehre des Buddha nach eine einmalige Chance, denn nur als Mensch hat man genügend Intelligenz, um die befreienden Lehren zu verstehen, und gleichzeitig das richtige Maß an Leidensdruck, um sie in die Tat umzusetzen.

Nur jetzt in dieser menschlichen Existenz besitzen wir eine gewisse Entscheidungsfreiheit in Bezug auf unsere Taten und ein Maß an Vernunft und Erinnerung, welche uns den Zusammenhang von Ursache und Wirkung erkennen lassen. Wir besitzen im Grunde eine Geistesklarheit oder Luzidität, welche, wenn es gelingt, sie zu fördern und von den Schleiern des konzeptuellen Denkens und der Störgefühle zu befreien, die wahre Natur der Erscheinungen und die des erkennenden Geistes intuitiv verstehen kann; und es ist allein das Erkennen der Wahrheit, das uns von Täuschung und damit von Leid befreien kann.

Durch unmittelbare Wahrheitsschau und Selbsterkenntnis, luzide geworden im höchsten Sinn, erkennen wir uns schließlich als immer schon frei von jeder eingebildeten Begrenzung und werden frei von Fehlwahrnehmungen und Traumbefangenheit. Dann sind wir Buddha.

Als Mensch können wir in diesem Leben Buddha werden – aber das Leben ist kurz, und keiner von uns weiß, ob er am morgigen Tag noch lebt, denn gestorben wird in jedem Alter und aus vielen Ursachen. Sicher ist nur, dass wir sterben werden, so wie alle Menschen vor uns und so wie die vielen unserer Bekannten und Verwandten, welche uns in diesem Leben bereits vorausgegangen sind.

»Mache ein stetes Gedenken des Todes zur Richtschnur für all dein Handeln«, so ermahnte der Stoiker Marc Aurel sich selbst. Wenn ein Mensch in der Perspektive seines nahen Todes lebt, dann wird er Wesentliches von Unwesentlichem und Wichtiges von Unwichtigem klarer trennen können.

Wenn wir uns von unnötigen, zerstreuenden Interessen und selbstauf­erlegten Ansprüchen, Wichtigkeiten, Aufgaben und Beschäftigungen befreien können, kann jeder weitere Tag, der uns noch bleibt, eine kostbare Gelegenheit für die bewusste Erzeugung von positiven Impulsen in unserem Geistesstrom und die Übung des Ruhens in nichtkonzeptuellem Gewahrsein sein. Durch diese zwei Aspekte der Geistesschulung – also die heilsame, konzentrierte Anwendung des Denkens und das achtsame Ruhen in der Natur des Geistes – können wir unser künftiges ­Schicksal bleibend zum Positiven hin verändern. Und ist uns ihre Übung so vertraut geworden, dass sie auch im Schlaf weiterwirkt, so wird sie uns sicher auch im Sterben tragen.

Aus der Realisation der Vergänglichkeit unsrer momentan privilegierten Situation kann spontan eine große Wertschätzung für die Kostbarkeit der menschlichen Verkörperung und für die Lebenszeit entstehen, die uns noch vergönnt ist. Besonders das vierte Lebensalter, bei uns mit dem schönen Wort »Ruhestand« umschrieben, ist bei den Indern traditionell der spirituellen Praxis und der Loslösung von allem Weltlichen gewidmet. Die Pflichten und Gedanken eines Haushaltsvorstands werden dann bewusst losgelassen, der Besitz vorab verteilt; und sich von allem Angenommenen und Unnötigen entledigend, kann man in aller Ruhe und Beschaulichkeit die geistige Armut verwirklichen, welche Jesus als selig gepriesen hat und die darin besteht, dass man nichts mehr hat, nichts mehr will und nichts mehr weiß. Der Ruhestand ist für diese Loslösung, für dieses »Sterben vor dem Sterben«, wirklich ideal, wenn man den tiefen Sinn der Geistesschulung verstanden hat.

Könnte es eine bessere Einstimmung auf den Tod als die endgültige Erlösung vom Körper und vom Ich in der Verschmelzung mit dem klaren Licht am Ende des Sterbeprozesses geben, als sich schon vorher darin zu üben, alle Anhaftung aufzugeben und in tiefer Entspannung jede Vorstellung von Körper und Geist abfallen zu lassen? Wie sonst könnte Erlösung geschehen?

Alles loslassen zu können ist immer die Vorbedingung möglicher Befreiung. Niemand anders kann das für uns übernehmen. Wer jetzt nicht Ruhe geben will, der gibt natürlich auch im Postmortem nicht Ruhe und wird sich deshalb wiederverkörpern, auch wenn wir uns wünschen: »Der Herr gebe ihm die ewige Ruhe!«

Auch »Phowa« kann nicht gelingen, »die Übertragung des Bewusstseins in einen Buddha-Bereich«, wenn wir noch an irgendetwas haften, so sagen die Meister.


Stellen wir uns also die Frage, was wirklich wichtig ist angesichts des Todes, der uns jederzeit ereilen kann. Wir werden alles zurücklassen müssen; und nur das Gute, das wir in diesem Leben getan haben, und nur die sichere Ausrichtung und die Gelassenheit, Ruhe und Klarheit unseres Geistes, die wir kultiviert haben, können uns dann noch helfen und von größtem Nutzen sein.

In seiner Schrift Von der Kürze des Lebens betonte Seneca, dass man immer eingedenk der Unausweichlichkeit und Nichtvoraussagbarkeit des Todes jeden Tag weise nutzen und in Vorbereitung auf das Sterben leben sollte. Er sah, wie Marc Aurel, Leben und Tod im Licht der Lehren der griechischen Stoa, und deren gesunde und entspannte Haltung gegenüber dem Tod war begründet in ihrer Doktrin der ewigen Wiederkehr, welche lehrte, dass das Universum, aber auch der Mensch ständig geboren, aufgelöst und wiedergeboren wird. Im erleuchten Verständnis dieser Lehre, welche wir in ähnlicher Form auch im Hinduismus und Buddhismus finden, ist der Tod nur Übergang in ein anderes Leben; und das Einzige, was wirklich zu fürchten ist, sind die Folgen eines unheilsamen Denkens und Wollens in uns und alle Handlungen, welche wir von den Geistesgiften motiviert ausführen, die, zu schlechten Gewohnheiten werdend, die Macht haben, uns weiter an den Daseinskreislauf zu binden. Sie werden uns weiter Leiden verursachen, wenn wir uns nicht davon befreien und diesen Circulus vitiosus in diesem Leben und Körper noch zu unterbrechen lernen.


Wenn wir die uns gegebene Freizeit und Ruhezeit ab jetzt weniger für unnötige Unterhaltungen, Gedanken und Tätigkeiten verschwenden, sondern für die Geistesschulung nutzen, so können wir unserem Geist eine entschieden heilsame Richtung geben und uns in der Dzogchen-­Meditation des von allen Konzepten freien, gelassenen Ruhens in der Natur des Geistes üben. Diese Übung ist völlig unkompliziert, weil es eigentlich dabei nichts zu tun gibt, aber den meisten Menschen, die an ständiges Tätigsein gewöhnt sind, fällt genau das heutzutage am schwer­sten. Aus diesem Grund ist es vorteilhaft, sich zuerst in der Sammlung des Geistes auf ein einziges Objekt, zum Beispiel auf das A, zu üben. Ruhen wir unabgelenkt im A, so fällt auch dieser Gedanke weg, und wir ruhen im ungeborenen Zustand des Geistes. Wir können am Anfang unserer Meditationssitzungen für einige lange Ausatmungen den Ton A singen. Alle Konzepte lösen sich dabei auf und Körper und Geist entspannen sich. Dann ruhen wir einfach, den Blick vor uns auf den leeren Raum gerichtet im natürlichen Zustand – ohne etwas von dem, was spontan aufsteigt oder erscheint, festzuhalten oder abzuweisen. Das ist alles. Das ist die grundlegende Einübung völliger Gelassenheit und damit völliger geistiger Freiheit.

Wenn wir bemerken, dass wir abgelenkt sind, also beginnen, Gedanken oder Erscheinungen zu folgen, tönen wir wieder das A und kehren direkt wieder zum ursprünglichen Zustand offenen, formlosen Erkennens zurück. Wenn wir frei von allen anderen Gedanken, nur auf das A gesammelt am Abend einschlafen, so werden wir immer mehr im Traumzustand luzide Phasen, also Klarträume erleben. So wird es im Dzogchen gelehrt.

Wenn es uns gelingt, vollkommene geistige Stabilität im natürlichen Zustand und damit nach und nach eine alle Bewusstseinsschichten durchdringende Luzidität zu erlangen, so werden wir im Tod zur Buddhaschaft erwachen können. Von den Menschen, die wirklich praktiziert haben, von den Seligen, Heiligen und Verwirklichten aller spirituellen Traditionen wird berichtet, dass sie in der Todesstunde voll Freude, Frieden und Zuversicht sind. Sie sind ihrer selbst sicher, haben nichts zu bedauern und nichts mehr zu beichten. Sie wissen, wohin sie gehen – zieht es doch den Menschen ganz natürlich dorthin, wo sein Herz ist und wohin sein Sinnen geht.

»Mensch, in das, was du liebst, wirst du verwandelt werden, Gott wirst du, liebst du Gott, und Erde, liebst du Erden«, heißt es im ­Cherubinischen Wandersmann des Angelus Silesius. Unser künftiges Schicksal wird ganz natürlich den Neigungen entsprechen, die wir am meisten kultiviert haben. Sogenannte Wunderkinder wie Mozart sind der Beweis dafür. Ihre besondere Fähigkeit ist kein Zufall, sondern die Frucht ihrer früheren Übung und Meisterschaft im Feld der Musik, der Mathematik, der Meditation und so weiter.


Die meisten von uns finden es selbstverständlich, als Mensch geboren zu sein; und selbst wenn wir an Wiedergeburt glauben, nehmen wir automatisch an, als Mensch reinkarniert zu werden. Doch tatsächlich ist beides nicht selbstverständlich, und wir wissen normalerweise nicht, wohin wir nach dem Tod als Nächstes gehen werden.

In unserem Unterbewusstsein schlummern die Spuren zahlloser früherer Erfahrungen, Handlungen, Wünsche und Gewohnheitsmuster, die in vielen Leben angesammelt wurden – Kraut und Unkraut, Heilsames und Unheilsames, Heilendes und Giftiges, Tierisches, Menschliches, Göttliches und Teuflisches schlummern in uns, und diese Spuren unzähliger Existenzen warten wie Samen in der Erde darauf, sich auszuwirken, wenn geeignete sekundäre Ursachen wie Sonne und Wasser oder äußere Ereignisse im Wachen oder auch nur Visionen wie im Traum oder im Postmortem hinzukommen.

Erfahrung kommt uns von außen entgegen, und wir reagieren darauf spontan mit all dem, was bereits in uns ist. Wir nehmen es unserem Charakter und unseren Konditionierungen entsprechend wahr, und wir reagieren demgemäß. Wir sehen etwas, was uns gefällt, und wir wollen es haben. Wir besitzen etwas und wollen es behalten. Wir hängen eifersüchtig daran; und will es uns jemand nehmen, so entsteht Hass, und im schlimmsten Fall schlagen oder töten wir den Rivalen und die geliebte Frau, welche uns betrogen hat oder verlassen will. Oder wir sehen etwas Furchterregendes, haben Angst und fliehen. Unsere Reaktionen kommen spontan und instinktiv aus dem Unterbewusstsein; und wenn wir fast in einen Abgrund stürzen, so fühlen wir auch im Traum die Todesangst im Bauch. Im Wachen und im Träumen reagieren wir unserem persönlichen Charakter entsprechend auf Erfahrung oder Vision, und normalerweise, also ohne vorherige Übung der Meditation, haben wir über unsere Gedanken ebenso wenig Kontrolle wie über unseren Traum.

Deswegen ist es mit dem Sterben ähnlich wie mit dem Schlaf – dem kleinen Bruder des Todes –: Wir legen uns hin, aber wir wissen nicht, was wir im Traum erleben und denken werden; und die Chance, dass wir das, was wir träumen, als unsere eigene Vision, als unsere eigenen Gedanken erkennen, ist äußerst gering, es sei denn, wir haben die Fähigkeit der Luzidität im Traum entwickelt. Einer kürzlich durchgeführten Befragung zufolge erinnern sich die meisten Menschen einmal pro Woche an einen Traum, und luzide Träume sind ein äußerst seltenes Erlebnis.

Nun ist aus der Traumforschung gut bekannt, dass jeder, der sich darum bemüht und es sich fest vornimmt, sich immer häufiger und lückenloser an seine Träume erinnern und im luziden Bewusstsein, dass er gerade träumt, erfahren kann. Wenn Luzidität den Traumzustand durchdringt, weiß man, dass das Erlebte keine eigenständige Wirklichkeit hat und dass es eigentlich ganz von uns abhängt, was wir erleben. Mit dieser Erkenntnis erlangen wir potenziell die Freiheit, den Trauminhalt spielerisch zu verändern; und mit präziser und konsequent fortgeführter Übung kann man im Traumzustand dieselbe Luzidität und Willensfreiheit erlangen wie im Wachzustand.

Wenn uns dies gelingt, haben wir viel erreicht und können unsere spirituelle Praxis dann auch im Schlaf fortsetzen.

Wir können uns zum Beispiel bewusst dafür entscheiden, in einen höheren Seinsbereich, in ein sogenanntes Buddha-Land, zu gehen und dort Belehrungen zu hören – wir können mit unserem Traumkörper auch andere Orte auf dieser »materiellen« Welt besuchen und wahrnehmen, was dort geschieht. Oder wir können stabil in klarem und leerem Gewahrsein ruhen und einfach erscheinen lassen, was erscheint, und all das im wortlosen Verstehen, dass es der eigene Traum, dass es Selbsterfahrung ist. Wir können damit also auch unsere Dzogchen-Praxis von Trekchö und Thögäl im Schlaf fortsetzen und entwickeln.

Am Beispiel der Luzidität im Traum können wir Wesentliches über unser Menschsein lernen, nämlich erstens, dass wir zwar mit luzidem Gewahrsein begabt sind, dieses momentan aber sehr beschränkt ist. Zweitens, dass Luzidität kultiviert werden und auch die unbewussten Schichten unseres Erlebens durchdringen kann. Drittens, dass dadurch das imaginäre, durch Unbewusstheit erzeugte und fortbestehende Leiden und die Störgefühle im Traum aufgelöst werden können. Und viertens, dass wir durch das Erkennen der wahren Natur unserer Erfahrungen als Traum oder Selbsterscheinung schließlich vollkommen frei werden können. Frei von Unwissenheit, frei von Gedanken, frei vom Haften an etwas und frei von Aversion gegen etwas und damit frei von Geburt und Tod.

Fünftens – so können wir ebenfalls aus dem Obigen verstehen – kommt diese erhöhte gesteigerte Luzidität nicht von selbst, sondern muss kultiviert werden. Bemühen wir uns nicht darum, so werden die in unserem Unterbewusstsein eingelagerten Spuren, werden Unwissenheit, Gewohnheitsmuster, dualistische Gedanken und Störgefühle weiterhin sowohl unsere Träume wie auch unsere emotionale Reaktion auf sie bestimmen.


Falls jemand noch nach dem tieferen Sinn seines Lebens, seine wahre Lebensaufgabe, den direkten Weg zur Erleuchtung oder eine sinnvolle Beschäftigung für die Jahre seines Ruhestands sucht – er findet all das in der Kultivierung der Luzidität, in der Entfaltung des Erleuchtungsgeistes.

Padmasambhava, der Autor des Tibetischen Totenbuchs, lehrt den Kernpunkt der Praxis des tibetischen Traum-Yoga, wenn er sagt: »Befreie dich davon, das, was dir begegnet, durch den Schleier deiner karmischen Konditionierungen zu sehen. Sieh es stattdessen als rein, vollkommen und von der Natur des Lichts. Übe dich darin, all deine Erfahrungen tagsüber als einen Traum, als illusionär zu sehen. Komm zu einer durchdringenden Luzidität, indem du dich immer wieder daran erinnerst, dass deine ganze Umgebung, die Stadt, in der du lebst, deine Wohnung, deine Mitmenschen und all deine Unterhaltungen mit ihnen Traum sind. Alles, was du tust, all deine Handlungen von Körper, Rede und Geist sind Traumhandlungen. Sag deshalb oft zu dir selbst: ›Das ist ein Traum.‹ Und manchmal sag es auch laut, oder schrei dich selbst an. Am Abend, wenn du dich schlafen legst, nimm dir fest vor: ›Zum Wohl aller Wesen will ich Erleuchtung erlangen und mich heute Nacht darin üben, den Traum als Traum zu erkennen und zu meistern.‹ Wenn du dich so darin übst, all deine Erfahrungen als illusionär und als Traum zu sehen, wird diese Luzidität auch im Nachtodzustand weiterwirken, denn auch dieser ist von traumgleicher Natur. Wenn es dir gelingt, siebenmal in einer Nacht im Traum luzide zu werden, so wirst du ohne Zweifel auch die Visionen des Postmortem als illusionär erkennen und damit Befreiung finden.«

Vom Status quo unserer normal eingeschränkten Luzidität und geistigen Unruhe ausgehend, besteht also der Weg zur Erleuchtung oder vollen Luzidität darin, uns in der reinen Sichtweise zu üben, die ohne Konzepte die Reinheit schaut und gleichzeitig die illusionäre Natur und Leerheit der Wesen und der Dinge klar erkennt. Hierzu ist es zuerst nötig, den eigenen Geist zu zähmen und zur Ruhe kommen zu lassen und verstärkt darauf zu achten, möglichst nur heilsam zu denken, zu reden und zu handeln.

Alle relativen, das heißt mit Konzepten verbundenen Übungen wie der Saatgedanke »Wer ist es, der das alles träumt?« und häufig wiederholte Affirmationen oder Wunschgebete wie »Mögen alle Wesen glücklich sein« haben den Zweck, so starke heilsame Tendenzen und Gewohnheitsmuster im Geist zu erzeugen, dass diese schließlich sogar im Traum weiterwirken und dessen Wahrnehmung, Inhalt und Richtung bestimmen.

Wenn wir nur noch positive Träume haben, die häufig luzide sind und im Wachzustand kaum mehr Störgefühle erfahren, so ist dies das einzig sichere Zeichen, dass unser Üben wirklich in die Tiefe gedrungen ist und dass die positiven Tendenzen in uns oder das »Bodhicitta«, der luzide Geist von Weisheit, Achtsamkeit und Mitgefühl, nun in unserem Erleben im Wachen und Schlafen vorherrschend geworden sind. Damit ist schon viel vom großen Werk erreicht, und wir haben, was die relative Wirklichkeit betrifft, viel positives, verdienstvolles Karma angesammelt, das uns nun trägt.

Der andere Aspekt des Wegs, die Ansammlung von Weisheit, wird durch die häufige Übung des völlig gelassenen Ruhens im Zustand reinen Gewahrseins, frei von allen Gedanken und in der inneren, wortlosen Gewissheit »Alle Erfahrung ist Traum« vollendet.

Gelingt es uns, im Urzustand des Geistes, in der Untrennbarkeit von luzider Klarheit und völliger Offenheit unabgelenkt zu ruhen, so erfahren wir alle Gedanken, Erscheinungen und Visionen immer mehr als die spontanen Manifestationen des klaren Lichts unseres eigenen Geistes.

Wenn wir gelernt haben, alle dualisierenden Gedanken der Selbstbefreiung zu überlassen, erleben wir die Vielfalt der Erscheinungen als eins mit uns selbst, frei von einem Gefühl von Subjekt oder Objekt. Und wenn diese alldurchdringende Luzidität andauert und kontinuierlich wird, haben wir vollkommene Erleuchtung erlangt.

Wenn wir ab jetzt jeden Tag so leben, als ob es unser letzter wäre, werden wir keine Zeit mehr verlieren und uns, ohne zu zögern, der Übung der Selbstbefreiung aller Gedanken widmen. Wie jemand, der plötzlich entdeckt, dass sein Haus in Flammen steht, werden wir alles zurücklassen und versuchen, ins Freie zu entkommen. Ins Freie zu entkommen bedeutet im Dzogchen, in die Freiheit von allen Gedanken zu kommen, in den weit offenen Raum des Gewahrseins, frei von jedem Bezugspunkt.

Im Wachzustand haben wir die Freiheit, Körper, Atem und Geist zur Ruhe kommen zu lassen und den Antrieben der aufsteigenden Gefühle und Gedanken nicht zu folgen. Im Traum und im Postmortem haben wir diese Freiheit jetzt noch nicht und sind, wie das Totenbuch sagt, gleich einem trockenen Blatt im Wind, den Antrieben unserer alten Gewohnheitsmuster ausgeliefert. Nur jetzt, im Bardo dieses Lebens und hier vor allem im Wachzustand, besitzen wir genügend Stabilität, Luzidität und freien Willen, um uns einsgerichtet der geistigen Übung des Wegs ­widmen zu können; und so heißt es im Evangelium: »Wachet und betet, denn der Teufel geht umher und sucht jene, die er schlafend findet zu verschlingen.«

Die »Übung der Wachsamkeit«, die darin besteht, weder schlechte noch gute Gedanken in die Burg des Herzens, wo unser wahres Selbst, wo der Meister als unser eigenes Gewahrsein und Gewissen immer gegenwärtig ist, eindringen zu lassen, ist in allen Systemen kontemplativer Geistesschulung das innerste, formlose Exerzitium.

»Freiheit von allen Gedanken ist der höchste Gottesdienst und das höchste Opfer«, lehrte Nisargadatta Maharaj. Geistige Freiheit besteht nicht nur darin, sich dieses und jenes vorstellen zu können – erst wenn der Geist beliebig lang ohne jede Vorstellung in tiefem Frieden in sich selbst ruhen kann, hat er die Freiheit, zu denken und zu glauben, was er will.

Es ist die Fähigkeit, den Geist auf eines allein zu sammeln und ihn, in diesem Einen, zu unzerstreuter Ruhe und Stabilität kommen zu lassen, welche dann als ein zweifelsfreier Glaube, wenn er sich auf etwas richtet, Wunder und Zeichen vollbringt und die imaginierten Naturgesetze eines kleineren Glaubens überschreiten kann. »Gehe hin in Frieden, du bist gesund!«, sagt der vollendete Meister der Kunst, der sich selbst und damit die Welt überwunden hat, und es verwirklicht sich im selben Augenblick.

»Wenn man keine Gedanken mehr hat, kommen die besten Gedanken«, so lautet ein tibetisches Sprichwort. Es weist darauf hin, dass Intuition an die Stelle des Verstandes tritt, wenn wir dem Denken nicht mehr folgen. Und diese zeigt sich in uns, wenn wir regelmäßig meditieren, immer verlässlicher.

Wächst unsere Vertrautheit mit dem Zustand nichtkonzeptueller Wachheit, und können wir Geistesruhe und Luzidität auch im Bardo-­Zustand des Schlafs bewahren, so können dadurch allmählich die Ursachen aller Fehlwahrnehmung und allen Leids gründlich gereinigt werden. Diese sind die zwei Arten der Ignoranz, das heißt erstens jene, die im »Verlust der Luzidität in der Begegnung mit der eigenen Vision« besteht, und zweitens »die Ignoranz, welche alles begrifflich erfassen will«. Die karmischen Spuren von Verdrängung, Aversion und Anhaftung im Speicherbewusstsein lösen sich nach und nach von selbst in das klare Licht des Geistes auf. Dadurch, dass wir unseres Gewahrseins wieder gewahr werden und es nicht mehr vergessen, und dadurch, dass wir lernen, gelassen zu bleiben und alle Gedanken direkt ihrer natürlichen Auflösung zu überlassen, werden diese zwei grundlegenden Arten der Nichtluzidität aufgehoben, und wir sind wieder erleuchtet und erlöst.

Gelungene Individuation im Sinne des Dzogchen bedeutet, zu unserer wahren Individualität als der Untrennbarkeit von Leerheit und Gewahrsein zu erwachen. In der Erleuchtung aber gewinnen wir nichts Neues, sondern sind lediglich nach langem Schlaf und vielen unbewussten Träumen zu unserem Urzustand, zum völlig luziden Wahrnehmungsmodus eines »Buddha«, das heißt eines »völlig erwachten Wesens«, zurückgekehrt.

Wer nach dem Sinn seines Lebens fragt, der nähert sich dem Sinn; und verläuft seine Suche glücklich, so führt sie ihn von außen nach innen – schließlich sein eigenes Sinnen und sein Sein als eins erkennend, kommt dieses Wesen wieder in sich selbst zur Ruhe, wenn es dereinst den, der sucht, also sich selbst, gefunden und erkannt hat.

Es ist diese Kreisbewegung im Grunde die Bewegung des Geistes in sich selbst, im allumfassenden Kreis des Lebens, welcher im Dzogchen »der Pfad« genannt wird. Zu ihm gehören alle Erfahrungen des In-die-­Irre-Gehens und alle Erfahrungen auf dem Weg zurück zur Erleuchtung, die wir im Daseinskreislauf in vielen Leben und Existenzformen gemacht haben und noch machen werden. Sie alle sind im großen Raum des Gewahrseins erschienen und erscheinen darin, sie erscheinen in ihm und aus ihm als der Basis und Quelle alles Erfahrbaren, und sie lösen sich in ihm wieder auf.

Wenn wir uns selbst wieder als leeres, unwandelbares Gewahrsein erkennen, sind wir angekommen – sind frei vom Kreislauf zwanghaften Denkens und Strebens und damit frei von Geburt und Tod.

Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens

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