Читать книгу Kunst des Lebens, Kunst des Sterbens - Yungdrung Wangden Kreuzer - Страница 8
Ars longa, vita brevis: Eine Einleitung in die Thematik des Buches
ОглавлениеWer ein gutes Leben führt, der stirbt auch gut.
Motto der Ars Moriendi
Leeres Gewahrsein hat keinen Anfang und kein Ende. Weil es nicht geboren wurde, stirbt es nicht.
Longchen Rabjam Gyalpo
Schlechtes wird von der Seele nie als solches gewählt, sondern als vermeintlich Gutes.
Proklos
Wie du selbst nicht behandelt werden willst, so behandle auch die anderen nicht.
Konfuzius
Die Freiheiten eines menschlichen Lebens gefunden zu haben und zu versäumen, mich im Heilsamen zu üben – könnte es eine größere Dummheit geben als diese?
Shantideva
Die Weisen haben ihre Handlungen, ihre Worte und ihre Gedanken gemeistert. In der Tat – sie sind vollkommene Meister ihrer selbst geworden.
Dhammapada
Es ist mir eine große Freude, nun diese Sammlung von Texten in Buchform vorlegen zu können, in denen Betrachtungen, Lehren und Methoden zur Kunst eines gelassenen und achtsamen Lebens und deren Fortsetzung im Sterben und über den Tod des Körpers hinaus in eine neue, wenn möglich erleuchtete und leidensfreie Form des Daseins und Erlebens im Zentrum stehen.
Die Kunst des Lebens und die Kunst des Sterbens sind, was den Okzident betrifft, von Platon zu Plotin, Cicero und Seneca und den christlichen Autoren von Gregor dem Großen bis hin zu Seuse, Anselm von Canterbury, Thomas von Kempen und Erasmus von Rotterdam noch ganz selbstverständlich nicht voneinander zu trennen. Der nach authentischer Weisheitserkenntnis strebende Mensch widmet sich der Philosophie, indem er sich täglich im Sterben, in der Loslösung von allem Unwesentlichen übt. Seneca sagte: »Leben muss man ein ganzes Leben lang lernen und … während des ganzen Lebens muss man sterben lernen.« Was die Meister des Orients betrifft, so ist ihnen seit frühester Zeit der Tod die Richtschnur zur klaren Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, vom wandellosen Wesen des Geistes und seinen wandelbaren, vergänglichen Erfahrungen. Nur was bleibt, ist wirklich, und alles andere ist unwirklich. Das Bleibende im Wandel, die ewig gültigen Wahrheiten und Gesetze des Lebens zu erkennen und aufzuzeigen ist von jeher die Aufgabe und das Ziel der »ewigen Philosophie« im Osten und im Westen.
Der Glaube an ein Fortleben des Geistes nach dem Verfall und Tod des physischen Körpers war dem Menschen schon seit frühesten Zeiten zu eigen, wie wir aus vielen archäologischen Funden schließen können, und wird – wie wir sehen werden, mit gutem Grund – trotz des diskreditierenden Einflusses neuzeitlicher, reduktionistisch-materialistischer Anschauungen auch heute noch von der Mehrheit der Menschen geteilt.
Dieser Glaube oder diese Überzeugung beruht auf in Wahrheit recht allgemein menschlichen Erfahrungen, die in Todesnähe, am Sterbebett und in der Zeit nach dem Exitus auftreten, die wir in späteren Kapiteln genauer betrachten werden. Er entspricht einem inneren, intuitiven Wissen des Menschen um seine wahre, unzerstörbare Natur als geistiges Wesen, das seinem Wesen nach unabhängig vom Körper ist. Dieses tiefe Wissen lebt fort, auch wenn zurzeit oberbewusst erdachte, gesellschaftlich vorgegebene Paradigmen dem scheinbar widersprechen.
Dieses geistige Wesen, das jetzt in einem menschlichen Körper lebt, will voll und ganz erkannt werden. Es sucht die Natur seiner Erfahrungen zu verstehen und fragt ganz natürlich nach der Sinnhaftigkeit, nach dem Woher und Wohin seines Daseins. Es kann, über seine Wahrnehmungen reflektierend, den Zusammenhang von Ursache und Wirkung in der Natur und in seinem eigenen Handeln und Erleben erkennen.
Ein klares Erkennen, welche Handlungen für uns und unsere Umgebung zu glücklichen, heilsamen Erfahrungen führen und welche zu unheilsamen, leidvollen, wird »Lebensweisheit« genannt – insofern diese die Frucht der Erfahrung vieler Leben und vieler Generationen ist. Ethisches Verhalten ist intelligentes, vernünftiges und weises Verhalten. So könnten wir, in Abwandlung eines Worts von F. Schleiermacher sagen: Ethik ist die Wissenschaft eines vernünftigen und auf die Dauer heilsamen Handelns.
Die Frage, was eigentlich ein gutes, ein glückliches und sinnerfülltes Leben ist, steht damit am Anfang aller Philosophie, welche diesen Namen verdient, und sie steht bewusst oder noch unbewusst auch am Anfang der persönlichen Suche jedes Einzelnen nach Glück und Selbstverwirklichung.
Was die möglichen Antworten auf diese grundlegende Frage betrifft, so besteht seit Langem ein gesellschaftstragender, ein mitmenschlich-empathischer Konsens – eine große, Kulturen und Religionen übergreifende Übereinstimmung der Herzen in Bezug auf das, was wahre »Menschlichkeit«, was korrektes Verhalten und was ein gelungenes und erfülltes Leben bedeutet, ein intuitives Gefühl für das Richtige, welches das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft leitet und inspiriert. Dieses wirkt, zu unserem Glück, trotz vieler Widerstände, intellektueller Zweifel und zunehmender Orientierungslosigkeit bis heute weiter, und wir zehren davon.
Die Menschheit zehrt noch von den vor der heute global verbreiteten materialistischen »Wissenschaftsgläubigkeit« ihre Gesellschaften dominierenden Maximen der Weltreligionen, die, einfach zusammengefasst, übereinstimmend lehren: Wer ein gutes, also ein tugendhaftes Leben gemäß den Empfehlungen göttlicher Weisheit, geoffenbart in den heiligen Schriften der jeweiligen Tradition, führt und auf die heilsame Qualität seines Denkens und seiner Handlungen achtet, der wird die Prüfungen des Lebens in dieser Welt gut bestehen, an Weisheit und Verdiensten wachsen und folglich mit ruhiger Seele sterben. Wenn er sich vorab von der Anhaftung an irdische Dinge befreit hat, kann er mit freudiger Erwartung seiner Erlösung entgegensehen. In der geistigen Welt oder in seiner nächsten Existenz wird er die Früchte seiner achtsamen altruistischen und heilsamen Handlungen ernten, denn ein jeder erntet ganz natürlich das, was er einmal selbst gesät hat.
Die Überwindung des kleinen Selbst, Freiheit vom Ich und vom Körper und von ihren Leiden, welche erlangt wird durch die Zähmung des eigenen ungeordneten Denkens, Wünschens, Sprechens und Handelns und ein Tätigsein, welches der Gemeinschaft dient, waren lange und unbestritten das Ideal einer gelungenen Individuation in West und Ost, vorgestellt in der Gestalt der großen, verwirklichten Meister wie Jesus und Buddha und der großen Heiligen der verschiedenen Religionen, an deren Vorbild man sich selbst zu messen hatte und deren gelassene Haltung, Selbstlosigkeit, Geduld im Leiden, Gewaltlosigkeit und einfühlsam-verstehendes, liebevolles Tun und Lassen als beispielhaft für das eigene Leben und Sterben gelten konnten.
Wer sich darin übt, sich zu lassen, immer da, wo er an sich und an bestimmten Erfahrungen und Umständen festhält, der wird, trotz aller Schwierigkeiten und Leiden, ein entspanntes, sinnvolles und glückliches Leben haben. Wenn wir lernen, mit klar erkennender Achtsamkeit im Augenblick zu leben, erwerben wir damit die Fähigkeit im eigenen Geist, unheilsame und heilsame Impulse zu unterscheiden, wenn sie erscheinen, und wir entdecken unsere prinzipielle Freiheit, diesen zu folgen oder nicht. Daraus erwächst eine gleichmütige und gelassene Haltung, die an nichts festhält und deshalb frei von einschränkenden Konzepten über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bleibt. Wenn wir unsere Fähigkeit zu Mitempfinden, Mitfreude und Wohlwollen kultivieren, weiten und entspannen sich unser Herz und Geist, und wir können die eingebildete Enge, Angst und Isolation unseres kleinen Ichs vergessen und transzendieren.