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Unter normalen Umständen war Jana kein Mensch, der sich leicht von unerwarteten Ereignissen überrumpeln ließ.

Den wenigen Freundschaften, die ihr während ihres Lebens widerfahren waren, war es nie gelungen, ihr bodenständiges Gemüt zu größeren emotionalen Auslenkungen zu bewegen. Selbst als Basti sie vor ihrem zweiten gemeinsamen Konzert zum ersten Mal küsste, hatte sie das nicht derart aus der Fassung bringen können, dass es zwei Minuten darauf ihr Spiel auch nur im Geringsten beeinträchtigt hätte.

Jana besaß nämlich eine geheime Kontrollvorrichtung in ihrem Herzen: Eine Art Schalter, der es ihr ermöglichte, alles, was ihr Gleichgewicht gefährdete, von einer Sekunde auf die nächste auszublenden.

Dabei handelte es sich nicht um Verdrängung im eigentlichen Sinne, denn Jana vergaß nichts, sie wusste zu jeder Zeit, welche ungeheuerlich schönen oder schlimmen Dinge ihr gerade widerfahren waren.

Ausgeknipst war bloß eines: Das Gefühl, dass diese schönen oder schlimmen Dinge für den Lauf der Welt von irgendeiner Bedeutung waren.

Janas Kontrollknopf war zuverlässig und funktionierte in 99% der Fälle einwandfrei.

Die wenigen Gelegenheiten, bei denen er auf ganzer Linie versagt hatte, ließen sich an einer Hand abzählen:

1. Der Moment, als ihre Eltern sie zwingen wollten, nach Kanada mitzufliegen.

2. Die Zeit nach Opas Tod, als sie gezwungen gewesen war, Oma alleine zu lassen und in das Internat zu ziehen.

3. Ihre Begegnung mit Zarah in der Universitätsbibliothek.

Jana brütete gerade über einem Analysis-Lehrbuch in der Mitte des großen, von zahllosen Messingleselampen erleuchteten Lesesaals, als sich am Ende des Raumes ihr gegenüber eine Tür öffnete.

Es war reiner Zufall, dass sie gerade in diese Richtung sah: Der Staub der alten Bücher hatte sich auf ihre Brille gelegt, und Jana hatte sie zum Putzen abnehmen müssen. Als sie die Gläser gegen das Licht hielt, um ihre Sauberkeit zu prüfen, geriet die betreffende Tür für eine Sekunde in ihr Blickfeld.

Und in exakt diesem Moment betrat eine junge Frau in rotem Pullover und dunkler Bluejeans den Saal.

Ihre volle, goldbraune Lockenpracht war zu einem Pferdeschwanz gebändigt, die schlanken Beine steckten fast bis zu den Knien in robusten, beigefarbenen Snowboots. Sie war sehr zierlich und ziemlich klein, wahrscheinlich um einiges kleiner als Jana. Dabei vermittelten ihr beschwingter Gang und der offene, neugierige Blick, den sie über die Besucher der Bibliothek schweifen ließ, keineswegs den Eindruck, als ob sie sich auch klein fühlte.

Diese Erkenntnisse waren es allerdings nicht, die Jana beinahe von ihrem Stuhl hochfahren ließen.

Das ist unmöglich, dachte sie mit trockenem Mund. Das kann nicht sein! Und doch sah sie es mit ihren eigenen Augen: Dort auf dem Gang, keine zehn Schritte von ihr entfernt, war Zarah.

Sie war es, ohne jeden Zweifel. Sie, oder wenigstens das Mädchen in Bikini, von dem Zarah ihr weismachen wollte, dass sie es nicht war – eine Behauptung, die Jana ziemlich fadenscheinig schien.

Selbst, wenn sie sie geglaubt hätte, wäre es ihr schwer gefallen, das Foto von Zarahs E-Mails zu trennen. Mit Ausnahme der letzten, die irgendwie aus dem Rahmen fiel, passte das Bild der schelmisch lächelnden jungen Frau einfach zu gut zu ihrem Schreibstil.

Aber ob sie nun Zarah selbst vor sich sah oder bloß eine Fremde, die ihr Bruder fotografiert hatte: Beides war, wie Janas Verstand sie nun trotzig erinnerte, in gleichem Maße unmöglich.

Von allen Orten dieser Welt konnte dieses Mädchen sich nicht ausgerechnet in derselben Stadt befinden wie sie. Sicherheitshalber putzte Jana ihre Brille noch einmal, sah dann aber ein, dass es nichts änderte.

Schlagartig überkam sie das gleiche Gefühl wie an dem Abend, als sie Gabi_hotchickens Nachricht an Basti gelesen hatte: Irgendetwas an dieser Angelegenheit war oberfaul.

Und noch mehr als an jenem Abend drängte es sie, herauszufinden, was es war. Auf welche Weise sollte sie das aber anstellen?

Wie eine Geheimagentin verbarg sich Jana hinter ihrem „Analysis für das erste Semester“ und verfolgte über den Bücherrand hinweg den Weg der vermeintlichen Zarah mit ihren Blicken. Diese hatte selbst ein Buch dabei – ein derart großes und schweres Buch, dass sie es mit beiden Händen tragen musste. Jetzt setzte sie sich damit auf einen freien Platz etwa fünf Reihen vor Jana, die den Hals strecken musste, um sie weiter im Auge zu behalten.

Dann geschah für eine Weile nichts.

Hin und wieder hörte man leises Geflüster oder das Geräusch einer umgeblätterten Seite. Alle paar Minuten hüpfte der große Zeiger der runden Wanduhr über dem Ausgang ein Stück voran, wie ein altersschwacher Frosch. Als er die neun erreichte, hielt Jana es nicht mehr aus.

Sie nahm all ihren Mut zusammen, stand auf und stampfte mit ihrem Bibliotheksausweis zwischen den feuchten Fingern auf „Zarahs“ Reihe zu.

Natürlich hatte sie auch einen Plan – einen, der so gut war, wie ein Plan nur sein konnte, dessen Entwicklung ein Mädchen von Janas Intelligenz für eine halbe Stunde von ihren Mathematikstudien abgehalten hatte.

Dennoch klopfte ihr Herz wie ein koffeintrunkener Specht, als sie an das Mädchen im roten Pulli herantrat.

„Zarah“ saß auf ihre Ellenbogen gestützt und war derart in ihre Lektüre vertieft, dass sie Janas Anwesenheit nicht gleich bemerkte. So konnte Jana noch einen kurzen Blick auf die vor ihr aufgeschlagene Seite erhaschen: Sie zeigte ein körniges Schwarzweißfoto der Londoner Tower Bridge und daneben eine präzise, mit Zahlen und Linien versehene Skizze derselben.

Architektur …, stellte sie interessiert fest. Ob sie das wohl studiert?

Lange hatte Jana nicht Zeit, über diese Frage zu sinnieren, denn in diesem Moment drehte das Mädchen sich zu ihr um. Für ein paar Sekunden musterte sie Jana aus staunenden, karamellbraunen Augen. Dann flüsterte sie:

„Kann ich dir helfen?“

Jana, die vergeblich darauf gehofft hatte, dass die Ähnlichkeit sich aus der Nähe verflüchtigen würde, vergaß für einen Herzschlag ihren Text. Glücklicherweise fiel er ihr dann aber doch wieder ein:

„Ähm, heißt du zufällig Jana? Ich habe eben auf dem Gang etwas gefunden. Da du gerade hereingekommen bist, dachte ich, es gehört vielleicht dir?“

Sie hielt dem Mädchen ihren eigenen Bibliotheksausweis vor die Nase.

„Nein“, entgegnete Zarah, nachdem sie die blaue, nur mit Text bedruckte Plastikkarte inspiziert hatte. „Das gehört mir nicht. Am besten gibst du es vorne an der Ausleihtheke ab.“

„Du heißt also nicht Jana Bergmann?“, unternahm Jana einen letzten, verzweifelten Versuch.

Das Mädchen schmunzelte.

„Nein, ich heiße Zoé Wiegand. Trotzdem vielen Dank.“

„Ah, okay … dann, äh, bringe ich die Karte mal nach vorne …“

Jana wich so schnell zurück, dass sie beinahe über ihre eigenen Füße stolperte. Dann sah sie zu, dass sie Land gewann. Erst im dämmrigen Flur jenseits der Lesesaaltür kam sie wieder ein wenig zur Ruhe. Was für ein schrecklicher Auftritt! Aber wenigstens hatte sie jetzt die gewünschte Information.

Zoé Wiegand … Z.W. …

Ja, sagte sich Jana, so muss es sein.

Zarah war das Mädchen auf dem Foto und hieß in Wahrheit Zoé. Sie hatte Jana angeschwindelt, sowohl was ihren Vornamen als auch das Bild betraf. Das nahm sie ihr allerdings nicht übel, denn an ihrer Stelle hätte sie es genauso gemacht. Allein die Vorstellung, jemand würde ein Foto von ihr unter einen anzüglichen Text setzen und an einen wildfremden Mann schicken … Brrr!

Plötzlich hielt sie inne. Es war ja gar kein wildfremder Mann gewesen – zumindest nicht für Jana. Zoé kannte Basti nicht, aber Jana war einmal mit Basti zusammen gewesen, was dieser nicht gerade verheimlicht hatte. Jana und Zoé wiederum hatten gemeinsam, dass Jana von hier stammte, während Zoé wohl zumindest im Moment hier lebte.

Da muss es eine Verbindung geben!, dachte Jana grimmig.

Es war wie bei einem Puzzle, dem noch ein letztes Teil fehlte: ein Teil, welches sie mit Zoé verband. Ein Teil, das zumindest sie, Jana, nicht mochte und dem es bestimmt eine Freude bereiten würde, in ihrem Leben Verwirrung zu stiften.

Und Jana brauchte nicht lange, um den Namen dieses gemeinen, hinterhältigen Teils zu erraten …

Die Brücke aus Glas

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