Читать книгу Die Brücke aus Glas - Zsóka Schwab - Страница 8
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ОглавлениеWieder zu Hause angekommen, zog sich Jana mit ihrem Notebook auf den Dachboden zurück. Sie hatte etwas vor, bei dem sie absolute Ruhe brauchte.
Während Windows hochgefahren wurde, schlenderte sie zur Dachgaube, der einzigen Lichtquelle in dem praktisch leeren, von nackten Stützbalken durchzogenen Raum.
Sie ließ sich auf dem kleinen Hocker nieder, den ihr Großvater vor über zehn Jahren für sie gezimmert hatte, und schaute durch das große Fenster auf den Garten hinaus. Die kleine Eiche ist wirklich schön gewachsen in den vergangenen Jahren, dachte sie ein wenig wehmütig. Dann beugte sie sich vor, bis ihr Gesicht beinahe die Glasscheibe berührte, und spähte in den Nachbargarten.
Nach einigen Sekunden entdeckte sie Thorsten, der wie ein zu groß geratenes Kind auf Ostereisuche mit einem weißen Müllsack in der Hand kreuz und quer über den Rasen schlurfte. Nur gelegentlich blieb er stehen, um etwas vom Boden aufzulesen. Er musste ziemlich frieren, denn er trug einen dicken Mantel mit Pelzkragen. Davon abgesehen sah er auch äußerst unzufrieden aus.
Jana musste grinsen. Manche Dinge änderten sich eben doch nie, und dazu gehörte auch Thorsten Stockhausens „Ich habe einen Kater und muss trotzdem aufräumen“-Gesicht. Auch wenn sie zugeben musste, dass der Rest von ihm sich nicht unbedingt zu seinem Nachteil entwickelt hatte.
Wie viele Mädchen mich wohl um diesen Logenplatz beneiden würden?, fragte sie sich gutgelaunt. Wenn ich wollte, könnte ich stundenlang hier sitzen und seine große, männliche Gestalt bewundern – viel früher wird er bei dem Schneckentempo ja sowieso nicht fertig.
„Go, Thorsten!“, feuerte Jana ihn halblaut an. Dann wandte sie sich mit einem leisen Kichern vom Fenster ab und somit der dunklen Hälfte des Dachbodens zu. Mit gespenstisch leuchtendem Bildschirm wartete dort auf dem staubigen Holzlattenboden das Notebook auf sie. Jana seufzte tief.
Na schön. Bringen wir es hinter uns.
Sie streckte den Rücken durch, ballte die Fäuste und schnappte sich das Notebook. Im Schneidersitz hockte sie sich auf eine halbwegs saubere Stelle am Boden – anderswo funktionierte das WLAN hier oben nicht – und öffnete den Internetbrowser.
Wahrscheinlich wäre es am besten, ich mache mir eine Liste …, grübelte sie. Bei all den Communitys, die Basti zu ihren Mitgliedern zählten, verlor man leicht den Überblick. Ein weltoffener Mensch zu sein, hatte eben auch seine Nachteile – zumindest, wenn man die seltsame Eigenart hatte, Pärchenfotos nicht zu löschen, nachdem man mit seiner Freundin Schluss gemacht hatte.
Dabei war es jetzt bereits drei Monate her, dass Basti sich von ihr getrennt hatte – als zweite und eindeutig weniger schöne Überraschung an ihrem Abiball, nachdem er extra wegen ihr aus Freiburg zum Internat gereist war. (Basti war ja zwei Jahre älter als Jana und damals bereits Student.)
Er hatte wirklich gut ausgesehen in seinem schwarzen Anzug mit der weinroten Krawatte – zumindest bis zu dem Moment, als er Jana in eine stille Ecke neben eine Topfpalme zog und diese abscheuliche Trauermiene aufsetzte. Rückwirkend betrachtet tat er es vielleicht, um ihr den Abschied zu erleichtern, denn dieser Dackelblick mit der leicht vorgeschobenen Unterlippe hatte sie in den zweieinhalb Jahren ihrer Beziehung mehr als einmal bis zur Weißglut gereizt.
„Ich habe über mein Leben nachgedacht und herausgefunden, dass ich mal eine Auszeit brauche“, offenbarte er Jana mit viel Pathos.
„Du meinst … eine Auszeit von mir?“, entschlüpfte es ihr verblüfft. Basti hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein! Das heißt … ich weiß nicht, ob das mit uns noch funktioniert. Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme nicht richtig an dich heran.“
„Aha?“
Jana wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Irgendwie ahnte sie, dass er nicht auf ihr Sexualleben anspielte, auch wenn er es theoretisch hätte tun können. Als Basti noch auf dem Internat war, fühlte sich Jana noch nicht bereit für diesen besonderen Schritt, und als sie dann eine Fernbeziehung führten, war die praktische Umsetzung etwas schwierig geworden. Allerdings war dies nicht ihr einziges Problem gewesen …
„Wahrscheinlich liegt es an mir“, griff Basti, sichtlich in Not, jetzt auf Allgemeinplätze zurück. „Lass mir einfach ein bisschen Zeit, alles zu überdenken.“
„Wenn du meinst.“ Jana kam sich schrecklich unbeholfen vor, als sie merkte, wie kalt und gleichgültig ihre Stimme klang. Warum war sie nur so? Wieso konnte sie nicht einfach ehrlich sein?
Wenn überhaupt möglich, wurde Bastis Miene noch niedergeschlagener.
„Ich fahre in einer Woche mit einem Freund nach Alaska. Wir ziehen uns dort für eine Weile aus der Zivilisation zurück und leben in einer Fischerhütte. Ich weiß nicht, ob und wie lange ich es dort aushalte, aber Ulli hat es schon mal gemacht, und er sagt, es wirkt sehr reinigend auf Seele und Geist.“
Jana schossen Hunderte Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an die vielen gemeinsamen Stunden im Musikzimmer zu Beginn ihrer Bekanntschaft im Internat, an die Wettbewerbe und Vorspiele, die sie Seite an Seite überstanden hatten, an die Harmonie, die zwischen ihnen herrschte, wenn sie musizierten … und sie wusste genau: Sie wollte Basti nicht verlieren! Sie wollte, dass er ihr sagte, was sein Problem war, damit sie gemeinsam etwas daran ändern konnten. Doch alles, was sie in diesem entscheidenden Moment herausbekam, war: „Aha?“
Immerhin riss sie sich noch genug zusammen, um hinzuzufügen: „Und für wie lange bleibt ihr in dieser … Hütte?“
„Geplant ist vorerst ein halbes Jahr, vielleicht auch länger. Je nachdem, wie es uns bekommt.“
„Oh … dann mal viel Glück.“
„Danke.“
Das war das Kapitel Basti. Seitdem hatte Jana nur noch einmal von ihm gehört, nämlich als er ihr zwei Monate zuvor eine E-Mail schickte, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Jana, die mittlerweile von der Trauer- in die Wutphase übergegangen war, hatte ihm geantwortet, dass es ihr sehr gut gehe, und ihn gebeten, ihre Pärchenfotos aus dem Internet zu löschen.
Eine Woche darauf schrieb Basti zurück, dass er für solche Albernheiten keine Zeit habe, es gebe nur ein Internetcafé in der Gegend und das sei dreißig Kilometer von ihrer Hütte entfernt. Wenn Jana die Bilder unbedingt gelöscht haben wolle, solle sie es selbst tun. Ihr Notebook habe ja alle seine Passwörter gespeichert.
Jana war daraufhin so wütend geworden, dass sie ihm weder geantwortet noch sonst irgendetwas in der Sache unternommen hatte.
Nun war sie aber aus Kanada zurück, und sie spürte, dass sie für einen Neuanfang eine klare Trennlinie zur Vergangenheit brauchte. In Filmen verbrannten Frauen oft alte Briefe, Fotos oder Kleidungsstücke ihrer Verflossenen. Das, was sie nun vorhatte, würde fast das Gleiche sein, nur eben weniger … brandgefährlich.
Sie beschloss, mit Facebook zu beginnen.
Ein wenig unwohl war ihr schon dabei, derart in Bastis Privatsphäre einzudringen. Andererseits hatte sie ja seine ausdrückliche Erlaubnis. Und als sie dann sah, was ihr lieber Exfreund ohne ihr Wissen und ihre Erlaubnis angestellt hatte, verflogen auch die letzten Skrupel:
Anstatt ihre gemeinsamen Bilder zu löschen, wie sie ihn gebeten hatte, hatte dieser Schwindler tatsächlich drei Wochen zuvor noch neue hochgeladen. Was dachte er sich dabei?
Vor sich hin knurrend markierte Jana alle Fotos, auf denen sie sich wiederfand, und drücke genüsslich auf den Löschbutton. „Ha!“
Von Facebook arbeitete sie sich weiter über Studivz zu Twitter und zu diversen Blogs und Chatrooms. Sie löschte Dutzende Profilbilder, Avatare, Albumfotos und anschließend auch die entsprechenden Passwörter von ihrem Computer. Dabei achtete sie streng darauf, nichts anzurühren, was sie nicht direkt betraf. Als sie beim letzten Chatroom ankam, den Basti ihres Wissens nutzte, sprang ihr jedoch etwas Seltsames entgegen. Kein gemeinsamer Avatar mehr, nein, dafür aber folgende Nachricht:
Gabi_hotchicken schrieb am 01.11.2007 um 1:56 Uhr:
Hi, Süßer! Ich habe gerade deine YouTube-Videos gesehen und bin voll angeturnt! Wohnst du eigentlich mit deiner Freundin zusammen? Falls nicht, könnten wir ja mal … weiterlesen
Jana blinzelte. Was war das? Wer war Gabi_hotchicken? Eine Kommilitonin von Basti? Und er und sie könnten ja mal was …?
Als sie merkte, dass sogar ein Foto angehängt war, machte ihr Herz einen kleinen Hüpfer.
Mach dich nicht lächerlich, das ist nur irgendein Fan … Basti würde keine Frau ansehen, die sich selbst Gabi_hotchicken nennt … oder doch? Kommt wahrscheinlich darauf an, wie sie aussieht … Männer sind eben doch Männer … aber selbst, wenn, was interessiert es mich? Er hat sich von mir getrennt, und ich bin gerade dabei, unsere gemeinsamen Fotos zu löschen! Seine Frauengeschichten gehen mich nichts mehr an … andererseits schreibt sie „deine Freundin“, damit kann ja wohl nur ich gemeint sein, also hat es doch mit mir zu tun … oder hat er inzwischen eine Neue, von der ich nichts weiß? Ist er vielleicht gar nicht mit einem Ulrich in Alaska, sondern mit einer … Ulrike? Am Ende ist er gar nicht in Alaska, sondern lebt mit dieser Ulrike in Freiburg. Dann hätte er mir aber einen ganz schönen Bären aufgebunden. Einen fetten Alaska-Grizzlybären!
Aber nein, Jana, deine Fantasie geht mit dir durch. Hier gibt es nichts für dich zu tun, also sei brav und logge dich aus … du sollst dich jetzt ausloggen! Nein, nicht auf „weiterlesen“ klicken! Nicht auf „weiterlesen“ klicken!
Ehe Jana sich versah, hatte ihr Zeigefinger sich schon verselbstständigt und die frevelhafte Tat ausgeführt. Keine zwei Sekunden später war sie bereits dabei, ganz gegen ihren Willen, dafür aber umso fieberhafter, zu lesen, was Gabi_hotchicken ihrem Exfreund mitzuteilen hatte:
Hi, Süßer! Ich habe gerade deine YouTube-Videos gesehen und bin voll angeturnt! Wohnst du eigentlich mit deiner Freundin zusammen? Falls nicht, könnten wir ja mal was unternehmen. Du könntest mir zum Beispiel das Geigespielen beibringen. Ich stehe auf Streichinstrumente, besonders auf die schönen, langen Bögen. ;-)
(An dieser Stelle stand Jana für einige Sekunden auf dem Schlauch, ehe ihr ein angewidertes „Wäh!“ entfuhr.)
Was ich biete: Goldbraunes, gewelltes Haar, bernsteinfarbene Augen und einen sportlichen Body. Außerdem studiere ich Medizin. Bei Interesse melde dich einfach: getewe@jahoo.com.
Knutschaa!
Das Bild, das Jana auch noch herunterlud – wenn sie schon kriminell wurde, dann richtig! – zeigte eine zierliche junge Frau in grünem Bikini, die auf einem flachen Stein saß und lächelnd die schlanken Beine ins Wasser baumeln ließ. Zu ihrer Verärgerung spürte Jana einen Stich der Eifersucht. Diese Gabi war wirklich sehr hübsch – und was noch wesentlich schlimmer war: In ihren aufgeweckten Augen leuchtete eine Intelligenz, der ihre plumpe Nachricht nicht annähernd gerecht wurde.
Nein, dachte Jana sofort, hier stimmt etwas nicht … Nur, was?
Nach gründlicher Überlegung kam sie zu dem Schluss, dass es zwei Möglichkeiten gab: Entweder war die ganze Nachricht ein Scherz und jemand hatte Basti einfach ein Bild von einem fremden Mädchen aus dem Internet geschickt – oder das Mädchen auf dem Bild war wirklich Gabi und hatte vielleicht etwas neben sich gestanden, als sie den Text schrieb. Thorsten war ja wohl kaum als Einziger auf die Idee gekommen, an Halloween einen draufzumachen …
Vielleicht saß Gabi gerade jetzt irgendwo in ihrem Zimmer und verkroch sich vor Scham unter ihre Bettdecke, weil sie einen solchen Mist geschrieben hatte.
Diese Vorstellung amüsierte Jana für einen Augenblick. Dann fiel ihr etwas anderes auf.
Außerdem studiere ich Medizin.
Dieser Satz passte so gut zum Rest der Botschaft wie Senf zu Meloneneis.
Vielleicht stimmt es ja?, überlegte sie. Und wenn es stimmt, weiß sie womöglich, was mit Oma zu tun ist …?
Natürlich hätte sie sich diesbezüglich rein theoretisch auch an Thorsten wenden können, aber nach dem, was sie gestern von ihm gesehen hatte, hielt sie das für keine gute Idee. Sicher, es ist unwahrscheinlich, dass das klappt. Aber einen Versuch ist es doch wert …
Obwohl ihr Gewissen sie quälte, kopierte Jana Gabis E-Mail-Adresse in die Zwischenablage und löschte anschließend die Nachricht. Basti würde niemals erfahren, dass er sie erhalten hatte – und Gabi würde niemals erfahren, dass ihre Nachricht nicht von ihm beantwortet worden war. Außerdem, wenn Jana davon ausging, dass sie mit „deine Freundin“ gemeint war, ging es sie ja auch ein bisschen etwas an … irgendwie … na schön, eigentlich nicht. Aber es war doch für Oma!
Mit dem deprimierenden Gefühl, sich trotz dieses edlen Motivs gerade schrecklich erniedrigt zu haben, klickte Jana auf „Logout“. Dann öffnete sie die Seite zu ihrem eigenen E-Mail-Account.
„So, Gabi_hotchicken, was schreibe ich dir?“
Ihre Finger kribbelten vor Aufregung. Sie wusste nicht, ob Gabi Basti aus dem realen Leben kannte oder ob sie nur auf seiner Facebook-Seite gewesen war (dass er dort sowohl YouTube-Links als auch die Seiten gepostet hatte, auf denen er sich gerne herumtrieb, wusste sie.)
Sie musste also etwas schreiben, das sie erstens nicht bloßstellte und zweitens Gabi – sollte sie tatsächlich etwas Grips haben – dazu reizte, ihr zu antworten. Es war keine leichte Aufgabe, und für gute fünf Minuten biss sich Jana die Zähne an ihr aus.
Komm schon, was würde Basti auf eine solche Nachricht antworten?, grübelte sie. Was würde ein Mann antworten?
Dann mit einem Mal erhellte sich ihr Gesicht.
„Wollen wir doch mal schauen, was du dazu zu sagen hast, Süße …“
Wie eine böse Hexe kicherte sie vor sich hin, während ihre Finger nur so über die Tasten flogen. Und als sie schon längst auf „Senden“ geklickt hatte, kicherte sie immer noch.