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Als ich gegen acht Uhr am Abend meine E-Mails abrief, erwartete mich eine Überraschung.

Neben der PDF-Datei für Arbeitsmedizin hatte ich noch eine andere Nachricht erhalten: von einem pian_amber@veb.de.

Zunächst dachte ich, es handele sich nur um Spam. Da ich jedoch immer noch keine Lust auf Arbeitsmedizin hatte und mir in meinem kleinen Wohnheimzimmer langweilig war, öffnete ich die Mail gedankenlos.

Ich las die Nachricht einmal flüchtig, wurde nicht schlau daraus und las sie erneut.

Dann fiel ich vor Empörung beinahe aus dem Sessel.

„Hat der sie noch alle?“

Da ich es nicht glauben konnte, las ich die Nachricht ein drittes Mal:

Betreff: Anfrage

Liebe Frau Chicken,

vielen Dank für Ihr freundliches Angebot und das sehr reizvolle Bild, welche mir zu senden Sie die Freundlichkeit hatten. Ich muss gestehen, Sie sehen tatsächlich aus wie jemand, mit der mir Geigespielen großen Spaß machen würde. Dennoch würde ich vorschlagen, wir beginnen mit einem etwas weniger komplizierten Instrument, welches ich glücklicherweise ebenfalls beherrsche: Was halten Sie zum Beispiel von der Triangel?

Zauberhaft im Klang auch ohne mühseliges, langwieriges Stimmen und Notenstudium. Das einzig Wesentliche, was beherrscht werden muss, ist das richtige Timing – nicht zu früh und nicht zu spät, sonst kommt man aus dem Takt. Verstehen Sie, was ich meine? Was halten Sie von der Idee?

MfG, B. Maurer

Ich konnte es immer noch nicht fassen: Hatte dieses Schwein Maurer meiner Schwester gerade einen One-Night-Stand vorgeschlagen?

„Na warte, Arschloch!“

Kochend vor Wut betätigte ich den Antwort-Button und haute in die Tasten:

Betreff: Re: Anfrage

Sehr geehrter Herr Maurer,

ich bedauere zutiefst, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie einem schweren Irrtum erlegen sind! Mir wurde ein böser Streich gespielt, als jemand, der sich für besonders witzig hält, meine E-Mail-Adresse und mein Foto missbrauchte, um auf der anderen Seite Ihnen einen Streich zu spielen!

Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich nicht zu den Frauen gehöre, die anzügliche und respektlose Anspielungen der Art, wie Sie sie scheinbar für amüsant erachten, dulden!! Um Ihren ekelerregenden Vergleich zu benutzen: Niemals werde ich mit Ihnen irgendein Instrument spielen! Weder Geige, noch Triangel, noch Blockflöte, noch Bongotrommel! Schreiben Sie sich das hinter die Ohren, Sie Ferkel!!!

Hochachtungsvoll, Z.W.

In demselben Moment, als ich auf „Senden“ klickte, klarte die Wutwolke in meinem Kopf ein kleines bisschen auf – gerade genug, dass ich zu ahnen begann, was für einen Blödsinn ich angestellt hatte. Nicht nur, dass ich Maurer noch mehr Grund gegeben hatte, sich auf meine/ Zoés/ Thorstens Kosten zu amüsieren, ich hatte auch noch die Initialen meiner Schwester preisgegeben! Wieso hatte ich das gemacht? Warum hatte ich nicht in meinem eigenen Namen geantwortet? Oder – noch besser – gar nicht?

Verfluchtes Internet!

Wütend loggte ich mich aus und verließ das Zimmer, um zum Abreagieren ein paar Runden um das Haus zu joggen.

Im Treppenhaus klingelte mein Handy. Mit einem verärgerten Ruck zerrte ich es aus der Tasche des Kapuzenpullis.

„Ja!“

„Hey, Alter!“, meldete sich Thorsten betont gutgelaunt. „Na, wieder eingekriegt?“

„Das ist alles nur deine schuld!“, bellte ich, ehe er den Satz beenden konnte.

„Hä?“

„Ich gebe dir einen guten Rat: Wage dich in den nächsten Tagen nicht in meine Nähe!“

Thorsten schnallte mal wieder gar nichts.

„Was hast du eigentlich für ein Problem? Ich habe mich mehr als einmal entschuldigt! Was soll ich denn noch tun?“

Wie wär’s mit Verrecken?, dachte ich, biss jedoch in letzter Sekunde die Zähne zusammen. „Ich hab zu tun.“

Ohne seine Antwort abzuwarten, drückte ich ihn weg und rannte zwei Stufen auf einmal nehmend durch das enge, nach Schimmel müffelnde Treppenhaus.

Erst eine dreiviertel Stunde später schleppte ich mich verschwitzt und erschöpft wieder in den dritten Stock hinauf. Die kühle Luft und die Dunkelheit hatten mich soweit besänftigt, dass ich mich seelisch imstande fühlte, meiner Kommilitonin eine kurze Dankesmail für die PDF-Datei zu schicken – eine Dankesmail, welche sich auch wie eine las.

Nach dem Duschen fuhr ich den Computer wieder hoch und erledigte dies. Dann loggte ich mich mehr aus Jux auch noch in den anderen Account ein.

Sie haben eine neue Nachricht!

Dieses kurze Sätzchen reichte, um meine schöne, frisch erworbene Gelassenheit davon zu blasen. Was war denn jetzt schon wieder?

Betreff: Entschuldigung

Liebe Z.,

es tut mir leid, wenn ich dich gekränkt habe (ich schreibe jetzt einfach mal „dich“, denn ich glaube, wir sind ungefähr im selben Alter (?)). Zu meiner Verteidigung möchte ich nur anbringen, dass der „ekelerregende“ Vergleich, über den du dich so echauffiert hast, nicht auf meinem Mist gewachsen ist. Ich habe bloß weitergesponnen, was jemand anderer angefangen hat, und ich freue mich ehrlich, dass du so darauf reagiert hast.

Hab mir schon gedacht, dass da etwas nicht stimmen kann, denn du wirkst auf dem Bild nicht wie jemand, der Wert darauf legt, dass man ihn mit einem Huhn assoziiert. Ansonsten finde ich die Idee, gemeinsam Musik zu machen (diesmal ganz andeutungsfrei) ziemlich gut. Spielst du vielleicht irgendein Instrument?

Viele Grüße, Basti

Geschlagene fünf Minuten starrte ich auf den Bildschirm. Und während ich so starrte, legte sich in meinem Kopf ein Schalter um. Statt noch wütender zu werden, fand ich die Situation plötzlich komisch: Dieser Typ hatte eindeutig nicht den blassesten Dunst, mit wem er es zu tun hatte. Wäre ich ein Mädchen gewesen, wäre ich vielleicht sogar auf die alte Bilderbuchfreund-in-spe-Nummer hereingefallen. Pech für ihn (und das gleich in mehrfacher Hinsicht), dass ich sie selbst oft genug angewandt hatte.

Mit meinen vierundzwanzig Jahren hatte ich immerhin schon ein wenig Zeit gehabt, auszutüfteln, wie man mit welcher Frau umgehen musste, um bei ihr zu landen. Die wichtigste Faustregel lautete: Den Dummen nach dem Mund reden, den Klugen widersprechen – und dabei so charmant und natürlich bleiben, wie es ging.

Basti hatte das offenbar noch nicht verinnerlicht (er war ja auch erst zwanzig, in diesem Alter hatte ich es selbst nicht besser gewusst), aber ich war mir ziemlich sicher, dass er mich sympathisch fand. Zoé gefiel ihm optisch und meine Widerspenstigkeit hatte sein Interesse geweckt. Nun wollte er seine Chancen abstecken – nicht gerade nett, wenn man bedachte, dass er eine feste Freundin hatte.

Eine kleine Lektion würde ihm nicht schaden … und zugegeben, das ganze Flirtspiel aus der weiblichen Perspektive mitzuerleben, versprach, interessant und lehrreich zu werden.

Das einzige Problem war, Zoé aus der Angelegenheit herauszuhalten. Wie sollte ich es anstellen, dass sie wegen mir nicht noch tiefer in die Sache hineingeriet? Hm … Vielleicht gab es ja eine Möglichkeit …

„Also schön, Basti“, grinste ich und klickte auf „Antworten“, „wenn du spielen willst, dann spielen wir …“

Die Brücke aus Glas

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