Читать книгу Die Brücke aus Glas - Zsóka Schwab - Страница 13
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Оглавление„Was ist eigentlich los mit dir?“
Jana vergrub das Gesicht in ihren verschränkten Armen. Sie hörte, wie ihr gegenüber ein Stuhl weggerückt wurde. Dann wackelte der Tisch.
„So geht es nicht weiter, Jana! Seit Tagen läufst du herum wie ein Geist, antwortest nicht, wenn man dich etwas fragt, sondern starrst entweder aus dem Fenster oder in diesen Computer. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen.“
„Es ist nichts!“, wiederholte Jana zum x-ten Mal. „Nur eine Phase … ich muss mich nur eingewöhnen …“
„Warum rufst du nicht eine von deinen Freundinnen aus der Schule an?“, riet Oma. „Oder bringst wenigstens den Stockhausens etwas von dem Apfelstrudel? Sie haben ihre Obsternte mit mir geteilt, da gehört es sich, ihnen etwas anzubieten.“
Der Name „Stockhausen“ ließ Jana hochfahren.
„Niemals!“, rief sie voll Inbrunst. Dann fasste sie sich. „Ein bisschen später, okay?“
Oma musterte sie mit ihrem typischen, großmütterlichen „Aha!“- Blick.
„Was hat Thorsten denn diesmal angestellt? Komm, erzähl es mir, dann geht es dir vielleicht besser.“
Jana seufzte. „Es ist nicht nur Thorsten …“
„Sondern …?“
„Ach, diese ganze blöde Woche!“
Sie stand auf, brachte ihren fast vollen Teller an den Küchentresen und fischte für die Reste eine Tupperdose aus dem Schrank.
„Was ist denn passiert, dass gleich die ganze Woche so blöd war?“
Jana überlegte: Am Montag hatte sie ihr Portmonee samt Studentenausweis zu Hause vergessen – das hieß, weder Mittagessen noch Busfahren an einem Tag, an dem es so viel regnete, dass der Fluss beinahe überlief. Am Dienstag hatte sie erfahren, dass jemand Basti in Zoés Namen eine E-Mail geschickt hatte, wahrscheinlich um speziell ihr, Jana, eins auszuwischen. Am Mittwoch dann hatte sie vor aller Augen dieses blöde Tablett fallen lassen, sich vor Zoé blamiert und begriffen, dass es nicht mehr Thorsten allein war, der danach trachtete, ihr das Leben schwer zu machen.
Gabriel Wiegand …
Janas Finger krallten sich um das Küchentuch. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden so sehr verachtet hatte wie diesen Typen.
Dass er ihre einzigen Winterschuhe ruiniert hatte, die noch nicht vor Altersschwäche auseinanderfielen, hätte sie ihm ja noch verziehen. Immerhin hatte er sich entschuldigt und ihr angeboten, beim Putzen zu helfen.
Wahrscheinlich hätte sie das Angebot sogar angenommen, wäre sie nicht so verwirrt darüber gewesen, dass überhaupt noch jemand aus dieser Partygemeinschaft ein freundliches Wort an sie richtete. Im Nachhinein hatte es ihr sogar leidgetan, dem Typ mit der Kutte wortlos den Rücken gekehrt zu haben.
Damals hatte sie aber noch nicht gewusst, wie eng er mit Thorsten Stockhausen befreundet war. Und erst recht hatte sie nicht geahnt, dass er fähig war, zuzulassen, dass seine Schwester in eine derart unangenehme Situation geriet, wie es bei Zoé der Fall war.
Dass Gabriel es allein gewesen war, unterstellte Jana ihm nicht einmal. Vielmehr schwebte ihr ein Bild vor Augen, in welchem Thorsten Stockhausen und „Gabi_hotchicken“ wie zwei böse Gnome kichernd die Köpfe zusammensteckten und im Internet nach Möglichkeiten forsteten, ihr eins auszuwischen. Da Jana selbst dort kaum präsent und somit nicht angreifbar war, hatten sie eben Basti angeschrieben – als Rache dafür, dass sie Thorsten vor all seinen Gästen gedemütigt, Gabriel mit Nichtachtung gestraft und überhaupt die ganze Party ruiniert hatte.
Das erklärte auch die Verlegenheit der gesamten Truppe, als Zoé Thorstens und Gabriels Internetrecherche erwähnte. Und ganz besonders erklärte es Gabriels schuldbewusste Visage, die er seit diesem Moment zur Schau trug. Er hatte es so offensichtlich gemacht, dass es selbst seiner aufgedonnerten Freundin, dieser Melanie, aufgefallen war, wenn auch etwas später als Jana. Sie hatte Gabriel bereits seit dem Augenblick im Visier gehabt, als sie seinen Namen erfuhr.
Ansonsten wäre er ihr vielleicht gar nicht aufgefallen. Viel gesagt hatte er ja nicht, und als mittelgroßer, schlaksig-sportlicher Typ in Jeans und braunem Pulli stach er auch optisch nicht unbedingt aus der Masse hervor … zugegeben, seine dunkelblonden Wuschelhaare und die mandelförmigen Karamellaugen waren nicht komplett charmefrei.
Allerdings hatte er beides mit seiner Schwester gemeinsam, was Jana wieder daran erinnerte, dass er auf seine Art noch schlimmer sein musste als sein dusseliger Kumpel Stockhausen. Thorsten war es schließlich nicht, von dessen Schwester ein Foto bei Basti gelandet war …
Arme Zoé. Dabei schien sie so nett zu sein. Sie hatte sogar so viel Feingefühl besessen, Jana nicht auf ihren Auftritt in der Bibliothek anzusprechen. Spätestens in der Mensa musste ihr ja klargeworden sein, dass Jana sie mit ihrem Ausweis angeschwindelt hatte, um ihren Namen herauszufinden. Was musste sie nur von ihr gedacht haben?
Das alles war Jana so peinlich, dass sie am besagten Tag sogar die Mensa gemieden hatte, auch wenn sie wusste, dass es albern war. Am Abend war sie dann halb verhungert nach Hause gekehrt und hatte doch fast nichts essen können. Die ganze Zeit geisterte ihr eine Frage durch den Kopf:
Was mache ich denn jetzt?
Sollte sie Zoés Bitte nachkommen und bei ihrem Stück mitmachen? Dann würde sie zwangsläufig noch einige Male mit ihr zu tun haben. War es dann aber noch angebracht, den Mailwechsel mit ihr fortzusetzen?
Fragen über Fragen, mit denen Jana den Kopf ihrer Oma nicht belasten wollte – vor allem, da die Schmerzen offenbar schon wieder zunahmen.
„Tut es sehr weh?“, fragte sie besorgt. „Ehrlich, du solltest endlich mal zum Arzt damit. Es wird doch immer schlimmer …“
Oma hörte auf, ihre Nasenwurzel zu massieren.
„Ach, papperlapapp! Es ist nur die alte Migräne. Ich hatte das schon als junges Mädchen.“
„Kann es sein, dass es sich nach dem Essen verschlechtert?“, sprach Jana eine Beobachtung an, die sie in letzter Zeit öfter gemacht hatte. „Ich habe noch nie gehört, dass eine Migräne durch Essen ausgelöst wird. Oder dass sie nie richtig aufhört …“
„Opas Arzt hatte auch noch nie davon gehört, dass ein Lachanfall einen Herzinfarkt auslösen kann“, konterte Oma zynisch.
„Glaub mir Jana, diese Möchtegernmediziner heutzutage haben genauso wenig Ahnung von den Funktionen des Körpers wie du oder ich. Sie werden schlecht ausgebildet und toben sich dann an der Menschheit aus – nein, Jana, lass mich ausreden! Ich will nicht behaupten, dass jeder so ist. Aber bei neun von zehn Ärzten macht es nur einen einzigen Unterschied, ob du sie konsultierst oder nicht: Nämlich ob du ins Krankenhaus kommst oder mit demselben Resultat zu Hause bleibst. Es sei denn, natürlich, sie machen dich im Krankenhaus noch kränker, was auch nicht selten vorkommt. Das macht dann natürlich schon einen Unterschied.“
„Aber vielleicht müsstest du gar nicht ins Krankenhaus.“ Jana setzte sich an den Tisch zurück und legte Oma beschwörend die Hand auf den Arm.
„Bitte, lass dich doch untersuchen! Oder lass mich wenigstens zu einem Arzt gehen, damit ich für dich nachfrage.“
Oma seufzte.
„Du bist ein liebes Mädchen, und ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Aber es ist nun einmal so im Leben, dass man die Entscheidungen seiner Mitmenschen akzeptieren muss, solange es dabei um ihre eigenen Angelegenheiten geht. Und meine Entscheidung ist nun einmal, dass ich mit keinem Arzt zu tun haben will – weder direkt noch indirekt.
Sollte meine Zeit gekommen sein, ist es eben Gottes Wille. Du, mein liebes Mädchen, bist finanziell abgesichert, hast eine Familie, die dich gerne bei sich sähe, und brauchst mich auch sonst nicht mehr. Das merke ich schon allein daran, dass du alle deine Probleme lieber mit dir selbst ausmachst.“
Jana blinzelte auf die sauber gewischte, dunkel glänzende Tischfläche zwischen ihnen. Ihr Hals fühlte sich an wie zugeschnürt.
„Sag doch so etwas nicht … Ich habe doch gar keine großen Probleme. Und mit den wenigen kleinen will ich dich nicht belasten.“
„Was wiederum zeigt, wie erwachsen du mit deinen neunzehn Jahren schon bist.“
Oma lächelte und tätschelte Janas Hand. „Komm, jetzt lass mal den Kopf nicht hängen. Ein Weilchen bleibe ich dir schon noch erhalten.“
Da Jana ihrer Stimme nicht traute, nickte sie nur.
„Ich denke, ich werde mich jetzt ein wenig hinlegen.“
Schwerfällig erhob sich Oma von ihrem Stuhl.
„Du kannst, wenn du möchtest, auf den Dachboden gehen und Klavier spielen – ich habe gern ein wenig Einschlafmusik zu meinem Nickerchen, und den Abwasch können wir auch später machen.“
Sie zwinkerte ihrer Enkelin zu und schlurfte leicht schwankend in Richtung Wohnzimmer, das sie seit Opas Tod auch als Schlafzimmer nutzte. Sie hatte Jana einmal anvertraut, dass sie dies tat, weil sie es nicht mochte, nachts im Ehebett aufzuwachen und zu begreifen, dass niemand mehr neben ihr lag:
„Eine Couch ist zwar vielleicht nicht ganz so gemütlich, aber sie ist ein klassisches Singlemöbel. Und das bin ich ja jetzt wieder, nicht wahr? Ein Single …“
Ach, Oma …, dachte Jana traurig. Wie sie so alleine in der Küche stand und aus unbestimmten Gründen darauf wartete, dass im Wohnzimmer das Licht ausging, spürte sie zum ersten Mal seit langem, wie sehr ihr Basti fehlte. Es mochte ja nicht immer alles eitel Sonnenschein gewesen sein zwischen ihnen, aber war das nicht in jeder Beziehung so? Und dass Basti sich keine Mühe gegeben hätte, konnte sie ihm nicht vorwerfen. Im Gegenteil …
Ich hätte ihm mehr zuhören sollen, als er von seinen Geigenbauerplänen erzählte …, dachte sie mit einem intensiven Gefühl der Reue. Ich hätte mich mehr für seine Bedürfnisse interessieren müssen! Doch die Einsicht kam zu spät. Jetzt musste sie eben nach vorne schauen und weitermachen, so gut es ging.
Mit diesem Gedanken schleppte sich Jana die zwei Stockwerke zum Dachboden hinauf, um sich an ihr Klavier zu setzen – neben dem kleinen Hocker das einzige Möbelstück dort. Es war ein altes Mahagoni-Steinwaypiano aus dem Jahre 1923, das direkt neben der Eingangsluke stand – an einem Ort, den der Lichtkegel der Dachgaube niemals erreichte.
Zu seinen Glanzzeiten hatte das Klavier sich eines Ehrenplatzes im Wohnzimmer erfreuen können. Doch als Omas Finger zu steif geworden waren, um auf ihm zu spielen, hatten Janas Großeltern es hier hinauf transportieren lassen. Oma hatte Jana geraten, wenigstens abends zum Spielen eine Standlampe aufzustellen, doch Jana hatte bisher darauf verzichtet. Ein guter Pianist muss auch spielen können, ohne die Tasten oder seine Hände zu sehen. Eine sinnvolle Übung war es also allemal.
Jana legte die Finger auf die Klaviatur, erfühlte die Taste g1, an deren rauem Rand sie sich immer orientierte, und begann mit Chopins Nocturne Nr. 20 in Cis Moll.
Während sie spielte, schrumpften wie gewohnt alle Sorgen des Alltags zu einem leichten, dumpfen Bauchschmerz, den sie kaum mehr wahrnahm. Es war, als unterhalte sie sich mit einem alten Freund, der ebenso lebendig war wie sie. Im Gegensatz zu den Menschen war auf das Klavier Verlass: Jede Taste, jeder Ton hatte seinen Platz. Das Klavier war immer da, harrte still und geduldig Janas Rückkehr und wies sie niemals zurück.
Aber es hatte keinen Herzschlag, fühlte keinen Schmerz und keine Einsamkeit. Und es konnte nicht sterben …
Mitten im Stück hob Jana die Hände von den Tasten – und katapultierte die Welt in Schockstarre. Mit einem Mal war es still – so vollkommen still, als hätte jemand den dünnen Faden durchschnitten, an dem ihre Seele hing. Jana riss die Augen auf. Hastig klappte sie den Klavierdeckel zu und stolperte blind in die andere Ecke des Raumes.
Das Notebook lag noch genau dort, wo sie sich erinnerte, es hingelegt zu haben. Sie schaltete es an und wartete, bis das blendend helle Hintergrundbild, das sie mit ihren Großeltern auf einer Sommerwiese zeigte, erschien. Laut Batterieanzeige reichte der Akku noch für eine halbe Stunde.
Gerade genug.