Читать книгу Die Brücke aus Glas - Zsóka Schwab - Страница 6
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ОглавлениеAm nächsten Tag erwachte ich mit hämmernden Kopfschmerzen.
Ein greller Sonnenstrahl drang durch die weißen Spitzenvorhänge meines einzigen Fensters bis zu dem Bett an der Wand, wo er den Knotenberg aus schwarzer Kutte und Deckenbezug malerisch in Szene setzte.
Die schwarzweiße Schminke hatte sich als Rache für die schlechte Behandlung auf meinem ganzen Kopfkissen verteilt. Na toll …
Ich brauchte einige Minuten auf der Bettkante, um halbwegs zu mir zu kommen. Dann schleppte ich mich samt Bade- und Rasierzeug in die Wohnheimdusche, um mich vom personifizierten Tod wieder in einen Menschen zurück zu verwandeln.
Unter der Brause tauchten die Bilder der vergangenen Nacht Stück für Stück wieder aus dem Dunst meiner betäubten Gehirnwindungen auf.
„Idiot!“, schimpfte ich so laut, dass es von den Kacheln widerhallte. Gemeint war immer noch Thorsten Stockhausen. Wenn er sich bei mir Freiheiten herausnahm, meinetwegen – aber bei Zoé hörte der Spaß auf!
Wäre es wenigstens ein grob gepixeltes Bild gewesen, auf dem sie nicht zu erkennen war. Aber nein, der Trottel hatte diesem Maurer unbedingt eines von denen schicken müssen, die im Sommer am Baggersee entstanden waren, und auf denen Zoé einen Bikini trug.
„Vollidiot!“
Rasch drehte ich das Wasser ab und erledigte Abtrocknen, Anziehen, Zähneputzen und Rasieren im Turbogang. Mit einem Mal hatte ich das dringende Bedürfnis, meine Schwester zu sehen, und zwar sofort.
Auf dem Weg zu meinem Schal in der Zimmerecke kam ich an meinem Computer vorbei. Der schwarze Bildschirm auf dem Schreibtisch starrte mir entgegen wie ein blinder Zyklop. Vielleicht sollte ich noch schnell meine E-Mails checken? Immerhin erwartete ich noch eine Nachricht von einer Kommilitonin, die mir eine PDF-Datei für das Arbeitsmedizintestat schicken wollte.
Kurz entschlossen setzte ich mich in meinen Chefsessel, fegte mit dem Arm einen Stapel knitteriger Vorlesungsmitschriebe und drei leere Coladosen zur Seite und schaltete unter der Tischplatte den Computer an.
Zuerst überprüfte ich meine Hauptadresse. Die PDF-Datei war noch nicht angekommen, dafür eine Einladung der Fachschaft, an der traditionellen, uniweiten Weihnachtsbenefizveranstaltung mitzuwirken.
Dieses Jahr sollte das Geld in ein neues Spielzimmer investiert werden, welches man den Kindern, die Weihnachten in der Uniklinik verbringen mussten, einrichten wollte.
Eigentlich eine ganz nette Idee.
Ich loggte mich aus und wollte den Internetbrowser schon herunterfahren, da fiel mir meine andere E-Mail-Adresse ein. Mein Blick zuckte zur Uhrenanzeige in der rechten unteren Spalte: Viertel nach elf. Gut möglich, dass Bastian Maurer Thorstens hirnlose Nachricht schon gelesen hatte.
Mit einem etwas flauen Gefühl in der Magengrube gab ich mein Passwort ein und klickte auf „Login“.
Sie haben eine neue E-Mail.
Ich atmete scharf ein. Halb verärgert, halb neugierig öffnete ich den Posteingang – und musste über mich lächeln. Es war nur Werbung. Was sonst. Ohne noch einen weiteren Gedanken an diesen Blödsinn zu verschwenden, zog ich mir meine Sneakers an und schlüpfte in meine warme, orangeschwarze Sportjacke. Dann machte ich mich auf den Weg zum Waldrand, um Zoé zu suchen.
Wie immer brauchte ich eine Weile, um meine Schwester in der Wildnis aufzuspüren. Dank ihrer schulterlangen hellbraunen Locken und dem sandfarbenen Trenchcoat verschmolz sie perfekt mit der herbstlichen Farbenpalette der Bäume und Gräser, was keineswegs ein Zufall war.
Zoé studierte Kunst mit Schwerpunkt Malerei, daneben war sie jedoch auch eine begeisterte Fotografin. Ihre Lieblingsmotive waren Naturlandschaften und die Tiere des Waldes und der Felder. Besonders Rehe hatten es ihr angetan, von denen es in den zahlreichen Wäldern, welche die Ortschaft umgaben, nur so wimmelte. Selbst in der Nähe des Flusses, der die Stadt entzwei teilte, waren die Tiere vereinzelt gesichtet worden. Dennoch war es nicht einfach, sie vor die Linse zu bekommen – besonders, wenn man sich weigerte, von einer Super-Paxette aus dem Jahre 1954 zugunsten einer modernen Digitalkamera Abschied zu nehmen.
Auch heute baumelte das antike Ungetüm von Zoés schmalem Handgelenk, als sie mir fröhlich winkend aus einem unkrautüberwucherten Waldpfad entgegenkam. Wir erreichten einander auf der hügeligen, sonnengewärmten Wiesenfläche, die an den Wald grenzte.
„Gabo! Das ist ja eine Überraschung! Wolltest du nicht ausschlafen?“
Ihre lachenden, goldgesprenkelten Augen zwinkerten mich schelmisch an. Mir wurde sofort warm ums Herz.
„Und wer hält dich dann davon ab, alleine durch die Wälder zu streunen?“
Ich nahm sie kurz in die Arme und küsste ihren Scheitel. Dazu musste ich mich ein wenig hinabbeugen, denn Zoé war fast zwei Köpfe kleiner als ich.
„Du solltest wirklich besser auf dich Acht geben. Papa tötet mich, wenn dir etwas passiert.“
Sie verdrehte die Augen.
„Mir tut schon keiner was. Erzähl doch lieber von der Party. Wie war’s?“
Doch so leicht ließ ich mich nicht ablenken.
„Ich meine es ernst, Kartoffelnase, du weißt doch, es geht nicht nur um böse Menschen … es ist einfach nicht gut, wenn du so viel alleine bist.“
Ein kaum merklicher Schatten legte sich über Zoés Blick. Es gab Themen, die sie lieber mied, und ich hatte gelernt, das zu respektieren. Nur manchmal, wenn ich fühlte, dass es nötig war, erinnerte ich sie sanft daran.
„Es ist sehr lieb, dass du dir Sorgen machst, Gabo. Aber du musst aufhören, dich für mich verantwortlich zu fühlen. Ich bin schon groß … na ja, zumindest im Geiste.“
Sie lächelte freundlich, doch ihr Blick war fest.
„Und jetzt erzähl mir von der Party!“
Da es sinnlos war, mit ihr zu diskutieren, tat ich ihr den Gefallen. Doch als ich Thorstens dämliche Foto-Aktion ansprach, lachte sie zu meinem Missfallen laut heraus.
„Armer Stocki. Ist er noch am Leben?“
„Ich erinnere mich nur noch dunkel daran, was ich mit ihm gemacht habe …“, brummte ich. „Es könnte schon sein, dass die Sense irgendwie mit im Spiel war.“
Zoé gab mir einen kleinen Schubs.
„Ach komm, ist doch egal. Bei einem dünnen Zwerg wie mir schaut eh keiner zweimal hin.“
Ich spürte ein unangenehmes Zwicken im Magen. „Meine Schwester ist kein dünner Zwerg!“, deklarierte ich gereizt.
„Nein, deine Schwester ist natürlich das wundervollste Wesen der Welt.“ Sie sagte es ganz sachlich, doch in ihren Augen blitzte der Schalk. Ich machte den Mund auf, klappte ihn jedoch wieder zu. Ihr zu sagen, dass sie genau das für mich war, wäre mir übertrieben rührselig vorgekommen.
„Und das alles nur, weil diese Jana es gewagt hat, Thorstens heilige Party zu stören.“ Zoés Schultern erbebten abermals vor Lachen. „Sie muss ganz schön mutig sein, sich alleine einem ganzen Haus voller Hexen und Ungeheuer zu stellen. Und dann erhält sie auch noch so einen reizenden Willkommensgruß von dir.“
Mir schoss die Hitze ins Gesicht. Bei Tageslicht betrachtet war die ganze Angelegenheit noch peinlicher als vergangene Nacht.
„Zum hundertsten Mal: Es war keine Absicht!“
„Das wäre ja noch schöner.“
Nachdenklich legte sie den Zeigefinger an ihr zierliches Kinn.
„Ich glaube, ich würde sie gerne mal kennen lernen. Wenn sie wirklich so talentiert ist, wie du sagst, könnten wir vielleicht irgendwann zusammen etwas auf die Beine stellen – vorausgesetzt natürlich, sie bleibt dauerhaft hier.“
Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn mir die Idee nicht gerade gefiel. Weshalb, wusste ich selbst nicht.
„Was ist eigentlich mit Mellie?“, fragte Zoé unvermittelt. „Seid ihr jetzt zusammen?“
Stimmt, Melanie war ja auch noch da. Ich überlegte kurz. „Keine Ahnung.“
Zoés große Bernsteinaugen wurden noch einen Tick größer.
„Du musst doch wissen, ob du mit jemandem zusammen bist oder nicht!“
Wieder zuckte ich mit den Schultern.
„Sie hat vor ein paar Stunden angerufen, aber da schlief ich noch, und das Handy war aus.“
Wahrscheinlich hatte sie sich erkundigen wollen, ob ich die Nacht heil überstanden hatte.
„Du solltest sie bald zurückrufen“, riet Zoé. „Jemanden, der einen mag, im Ungewissen zu lassen, ist grausam und unfair.“
„Und du solltest dich lieber mal um dein eigenes Liebesleben kümmern, statt immer nur um meines.“
Ich zerzauste ihr liebevoll das Haar.
„Keine Sorge, ich werde sie schon noch anrufen.“
Tatsächlich hatte ich das vor, denn ich hatte Melanie gern, auch wenn ich noch nicht wusste, in welche Richtung es mit uns ging. Und jetzt hatte ich keine Lust, darüber nachzudenken.
Glücklicherweise zwang mich Zoé nicht dazu. In der Zwischenzeit waren wir am Flussufer angekommen, und sie lief ein Stück vor, um eine Trauerweide abzulichten, die ihre gelbgesprenkelten Äste malerisch in das ruhig dahinfließende Wasser tauchte.
„Ich glaube, von der Brücke ist die Aussicht noch besser“, rief ich ihr zu. „Von dort hast du auch die anderen Bäume am Ufer im Bild.“
Zoé ließ die Kamera sinken und betrachtete das Panorama mit fachmännisch prüfendem Blick.
Anschließend spazierte sie auf die alte Betonbrücke, die sich in einem weiten Bogen über den Fluss streckte wie eine wasserscheue Katze. Erst als sie fast auf der anderen Seite angekommen war, blieb sie stehen.
„Du hast recht, das hat was – Gabo, du hättest wirklich Fotograf werden sollen! Du hast ein viel besseres Auge dafür als ich.“
Sie zeigte mir das typische begeisterte Zoé-Strahlen, das ihr ganzes Gesicht zum Leuchten brachte. Dann gehörte sie wieder ganz ihrer Kamera.
„Wahnsinn, was für Farben!“
Bis sie alle nötigen Rädchen für Schärfe und Belichtungszeit eingestellt hatte, hatte ich sie längst eingeholt.
„Ich glaube, zu Weihnachten kaufe ich dir eine Digitalkamera …“, warf ich wie nebenbei in den Raum, während ich mich neben ihr gegen die Reling lehnte. Zoé blickte unverwandt durch den Sucher.
„Untersteh dich.“
Ich musste lachen. Das war immer so an diesem Punkt unserer traditionellen, vorweihnachtlichen Kamera-Diskussion.
„Wie hältst du das nur aus? Sechsunddreißig Bilder auf einem Film, und für jedes brauchst du eine viertel Stunde!“
„Du erinnerst dich doch, was Opa gesagt hat.“
Von ihm stammte übrigens das unschätzbare Erbstück.
„Zeit und Liebe sind das Wertvollste, was wir haben. Deshalb braucht alles, was von Wert sein soll, möglichst viel davon.“
Und sie drückte den Auslöser.