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Alles begann damit, dass ich mich auf Jana Bergmanns Füße erbrach.

Das war natürlich nicht geplant. Jana Bergmann war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort: Am 31. Oktober 2007 gegen Mitternacht in der Kastanienallee 35 vor der Türschwelle der Stockhausens.

Manchmal führt uns eine Kette aus vielen winzigen Zufällen an einen Punkt, der unser Leben verändert. Und diese hier ereignete sich folgendermaßen:

Mein bester Freund, Thorsten Stockhausen, war – wie eine seiner Verflossenen zu sagen pflegte – eine gestandene Saufnase. Mehr noch: Wann immer jemand in den Raum warf, dass irgendwer doch mal wieder eine Party schmeißen müsste, war Thorsten der Erste, der „Hier!“ schrie. (Ein zwanghaftes Verhalten, dessen psychologische Ursachen nie abgeklärt wurden, obwohl wir mal überlegt hatten, eine Promotionsarbeit daraus zu machen.)

Nun hatte Thorsten dieses Halloween also zufällig sturmfreie Bude, weil seine Eltern geschäftlich verreist waren. Und als sein bester Freund war ich der Erste, den er überredete, mit ihm einen draufzumachen.

„Du kennst doch die alte Weisheit, Gabe: Prüfungen kann man wiederholen, Partys nicht.“

Tatsächlich stand uns zwei Tage darauf ein Unitestat in Arbeitsmedizin bevor. Aber wie ein weiteres Glied der kosmischen Zufallskette es wollte, verspürte ausgerechnet an diesem Tag keiner von uns das Bedürfnis, die verschiedenen Arten der Krankenversicherung durchzubüffeln.

Also kam es, wie es kommen musste: Gegen Mitternacht hatte ich grob geschätzt vier Becher Bier, eine Miniflasche Wodka und eine Tüte gammelige Kartoffelchips intus, die in meinem Magen einen Ringkampf ausfochten, welcher seinen epischen Höhepunkt ausgerechnet bei Jana Bergmanns Ankunft erreichte. Leider begann der Showdown auch noch just in dem Moment, als ich mit Thorstens Cousine Melanie wild knutschend neben der Eingangstür lehnte.

Ich habe bis heute keine Ahnung, wie wir dorthin gekommen waren, denn angefangen hatten wir – da bin ich mir ziemlich sicher – im Wohnzimmer neben der dröhnenden Stereoanlage.

Ich weiß noch, dass mich Melanies knallblau getönten Haare an die Frisuren der Troll Dolls erinnerten, mit denen meine Schwester als kleines Kind gespielt hatte. Ihr blaugrünes Elfen-Make-up war grotesk verschmiert, was wohl hauptsächlich auf meine Kappe ging. Doch der Teil des Abends, in dem das eine Rolle spielte, war schon lange vorüber. Genau wie die Bedeutsamkeit der Frage, was eigentlich aus meiner brillanten Totenkopf-Schminke geworden war. Dieses Stadium so früh zu erreichen, war keine Selbstverständlichkeit, daher war ich mit dem Verlauf der Party soweit hochzufrieden, bis – ja eben bis …

„Was’n los?“

Melanies erstauntes Gelalle, als ich mich von ihr löste klang, als spräche sie durch einen dicken Stofflappen. Für einen kurzen Moment alkoholgetränkten Stumpfsinns begriff ich selbst nicht, was mit mir nicht stimmte. Doch als mir der kalte Schweiß ausbrach, gingen endlich die Alarmglocken an.

„Shit … sorry!“

Hastig raffte ich meine schwarze Sensenmann-Kutte, stürzte zur nächstbesten Tür, riss sie auf und spie mir jenseits der Schwelle die Eingeweide aus.

Als ich mich endlich in der Lage fühlte, die Augen zu öffnen, schimmerte mir mein ehemaliger Mageninhalt in der plötzlichen Dunkelheit wie helle Lackfarbe entgegen – Farbe, die jemand auf einem Paar schwarzer Stiefel verkleckert hatte.

Ach, du Sch...!

Böses ahnend hob ich den Blick himmelwärts und entdeckte eine behandschuhte Faust vor meinem Gesicht.

„Reizend“, erklang eine frostige junge Frauenstimme. Die dazugehörige Person senkte den Arm. „Ich wollte gerade anklopfen.“

Wie der Meister der Einfalt glotzte ich zu ihr hinauf, ehe ich auf die Idee kam, mir über den Mund zu wischen und aufzustehen.

„Schuldigung … wegen der Schuhe …“

Durch die brennende Magensäure klang meine Stimme ganz kratzig, was ich allerdings noch eher ertragen hätte als den säuerlichen Gestank nach Erbrochenem, der mich beinahe umhaute.

Der Frau entging er bestimmt auch nicht, dennoch sagte sie kein Wort, während sie aus ernsten, bebrillten Augen zu mir empor sah.

Die drei grinsenden Kürbislampen, welche Thorsten und ich am Nachmittag auf den Stufen der Eingangstreppe verteilt hatten, tauchten ihre Gestalt in rötliches Flackerlicht – gerade hell genug, um erkennen zu lassen, dass sie einen wahrscheinlich dunkelbraunen und sicherlich für Sibirien geschneiderten Kordmantel trug. Gut zwei Drittel ihres Kopfes steckten in einer dunklen Wollmütze, unter welcher sich eine Flut aus schwarzen, welligen Haaren ergoss. Der Rest war hinter einem grobgestrickten Schal verborgen, der sich um ihren Hals schlang wie eine Anakonda. Seltsam, dachte ich, wir haben doch mindestens fünf Grad über Null …

„Alles in Ordnung, Gab … oh!“

Melanie hatte sich offenbar soweit gefangen, um mir zu folgen. Und als hätten die anderen nur auf sie gewartet, tummelte sich hinter mir das Partyvolk nun derart, dass ich beinahe gegen die Frau hinter der Schwelle geschubst wurde.

Selbst die Musik im Haus war verstummt, sehr zu meinem Unbehagen. Leute, das ist eine Studentenfete. Es ist ja wohl keine sehenswerte Pionierleistung, auf einer Studentenfete zu kotzen.

„Was gibts’n da zu sehen?“

Eine von Kopf bis Fuß rotbemalte, muskulöse Gestalt mit nacktem Oberkörper kletterte über den Buckel eines auf der Schwelle hockenden, schaulustigen Kobolds.

„’N Abend“, grüßte der Hellboy für Arme, alias mein Kumpel Thorsten, als er an meiner Seite ankam. In einer Kompetenz ausstrahlenden Geste rückte er seinen verrutschten Haarreif mit den abgesägten Styroporteufelshörnern zurecht.

„Können wir irgendwie helfen?“

Die Frau schien sich inzwischen von der Überraschung über den „warmen“ Empfang erholt zu haben.

„Thorsten? Das bist doch du, oder?“

In den Augen meines Kumpels flackerte Verwirrung.

„Äh, kennen wir uns?“

Die Frau verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn herablassend an.

„Hätte ich mir ja denken können …“

Da Thorsten offensichtlich immer noch kein Licht aufging, nahm sie vorsichtig ihre schwarz umfasste Brille ab und zog den Schal soweit hinunter, dass eine kleine, gerade Nase zum Vorschein kam.

„Der Schnellste warst du ja noch nie“, spottete sie. „Und bei deinen Freunden warst du auch nie besonders wählerisch.“

Sie streifte mich mit einem eisigen Blick, ehe sie die Augen erneut hinter ihrer Brille verbarg. Mich beschlich die Vermutung, dass die Linsen womöglich aus schusssicherem Panzerglas bestanden – entworfen vom Geheimdienst zum Schutz der Allgemeinheit … Trotzdem, so leicht ließ sich ein Gabriel Wiegand nicht einschüchtern!

„Na, hören Sie mal!“, empörte ich mich mit noch etwas schwerer Zunge. „Es war keine Absicht, und ich hab mich entschulligt!“

Thorsten legte eine Hand auf meine Schulter, als wären wir alte Kriegskameraden.

„Du brauchst sie nicht zu siezen, Gabe, sie ist wesentlich jünger als wir. Hast du überhaupt schon die Schule fertig, kleine Ja…?“

„Wer mich siezt und wer nicht, hast du nicht zu entscheiden!“, fuhr ihm unser Gegenüber harsch über den Mund. „Ich bin inzwischen auch volljährig!“

„Ich bin inzwischen auch volljährig!“, äffte Thorsten sie mit Mickey-Maus-Stimme nach.

„Ganz toll für dich. Und was willst du? Monster haben wir hier drin schon genug.“

Um uns herum wurde es still – so still, dass man das leise Rascheln des Windes in den trockenen Kronen der Kastanien hören konnte, nach denen die Straße benannt worden war. Thorsten hatte eine große Klappe, das war allgemein bekannt. Doch niemand, nicht einmal ich, hatte ihn jemals so mit jemandem reden hören – erst recht nicht mit einer Frau.

„Du weißt, was ich will“, zischte das Mädchen düster. „Das Gleiche, was ich bisher immer wollte, wenn ich um diese Zeit an deine Tür klopfte.“

Ein verhaltenes, anzügliches „Uuuh“ wehte durch unsere kleine Runde, doch Thorstens Miene blieb ernst – eine Beobachtung, die mich noch viel mehr stutzen ließ als sein fieser Spruch.

„Mann, seit fünf Jahren bist du nicht mehr hier aufgekreuzt, und jetzt fängst du schon wieder damit an?“, stöhnte er. „Wir tun doch nichts! Wir feiern nur ein bisschen!“

„Falls du es vergessen hast, das hier ist keine Strandvilla auf Mallorca. Du lebst in einem Reihenhaus, und da grenzt eines nun einmal an das andere. Ist es denn zu viel verlangt, dass ihr die Musik wenigstens ein bisschen leiser stellt? Du weißt doch, dass meine Großmutter krank ist.“

Diesen Worten folgte ein enttäuschtes „Aaah“ des Begreifens. Es ging also nur um den Lärm! Wie langweilig … In den hinteren Reihen wandten sich die Ersten ab.

„Ach, das bisschen Kopfweh …“

Thorsten kratzte sich hilflos hinter den Hörnern. „So schlimm kann es gar nicht sein, wenn ihr Zustand sich nach fünf Jahren nicht geändert hat …“

„Als ob du das beurteilen könntest!“, versetzte das Mädchen giftig, und schaffte es dadurch auch noch, seine Autorität als Medizinstudent zu untergraben.

„Wie wär’s denn, wenn du ihr mal Oropax kaufst?“, fauchte Thorsten.

„Wie wär’s denn, wenn ich mal die Polizei rufe?“, hielt sie dagegen.

Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte man zusehen, wie Thorstens Gesicht unter der roten Schminke um ein paar Nuancen dunkler wurde.

„Mach doch, was du willst!“

Er wirbelte herum und bahnte sich wie ein grollendes Gewitter den Weg zurück ins Haus.

Ein Hagel feindseliger Blicke traf das Mädchen, als die Gesellschaft sich anschickte, dem Hausherrn zu folgen. „Spaßbremse …“, murmelten einige.

„Spießerin!“

Das Mädchen reckte unter dem Schal kämpferisch das Kinn, sagte jedoch nichts mehr.

Ich ertappte mich dabei, dass sie mir ein wenig leid tat. So viele große Studenten gegen ein einziges Mädel, das vielleicht noch zur Schule ging … Ich konnte nichts dafür, kleine Mädchen erweichten immer mein Herz – vielleicht weil sie mich an meine Schwester Zoé erinnerten. Zoé war zwar nur zwei Jahre jünger als ich, aber sie löste in mir immer das Bedürfnis aus, sie zu beschützen. Das war schon während unserer Kindheit so gewesen und in den vergangenen Jahren sogar noch ein bisschen schlimmer geworden.

Und jetzt stand hier dieses Mädchen, das zugegebenermaßen etwas resoluter auftrat als meine kleine Schwester. Aber man konnte ihr ja kaum verdenken, dass sie sich um ihre kranke Oma sorgte. Und nicht zu vergessen: Ich hatte ihr auf die Stiefel gekotzt. Das mochte eventuell nicht unwesentlich zu ihrer schlechten Laune beigetragen haben.

„Ähm …“, begann ich ein wenig ungeschickt, als wir schließlich alleine auf dem Treppenabsatz standen.

„Wenn du kurz wartest, hole ich Wasser und einen Lappen, dann können wir … kann ich den Dreck da wegmachen.“

Das Mädchen blinzelte, als erwachte es aus einem Traum. Es fokussierte mich.

Doch auf ein dankbares Lächeln wartete ich vergebens.

Stattdessen kehrte sie mir den Rücken zu und ging fort. Einfach so, ohne einen Mucks.

Als hätte sie bloß einen gemütlichen Abendspaziergang hinter sich, schlenderte sie den kurzen gepflasterten Weg durch den Stockhausen’schen Vorgarten zum Gartentor, bog auf dem Bürgersteig links ein und legte im Nachbarsgarten den entgegengesetzten Weg bis zur Haustür zurück.

Ich blieb allein zwischen den Kürbissen und starrte ihr wie ein Trottel hinterher. Erst das leise Zuschnappen der Tür ließ mich zusammenzucken.

Was war denn das?

Mochte ja sein, dass Frauen empfindlich waren, wenn es um ihre Schuhe ging. Aber dass sie mich nicht einmal mehr eines Wortes würdigte … Dabei war ich doch wirklich höflich gewesen.

Während meine Verärgerung von Sekunde zu Sekunde wuchs, merkte ich plötzlich, dass mir trotz der Sensenmann-Kutte um die Beine fröstelte.

Am Ende verkühle ich mich noch wegen der …

Mit bibbernden Zähnen und einem Haufen unfreundlicher Gedanken kehrte ich in das Haus zurück.

Die Brücke aus Glas

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