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2 Die Stärken der Pflege Birgit Ehrenfels

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Der Pflegeberuf hat viele schöne Seiten. Pflege erfüllt einen hohen ethischen Anspruch durch die Hilfe und Unterstützung, die Pflegende den Menschen bei gesundheitlichen Problemen zukommen lassen, und durch die große Verantwortung, die mit der Pflege anderer Menschen übernommen wird. Das macht den Beruf auch zu einer sehr sinnvollen Arbeit. Pflege ist auf den Menschen ausgerichtet und findet im Kontext der Gesundheitsversorgung statt. Dadurch ist Pflege ein sehr sozialer Beruf. Pflege ist außerdem sehr abwechslungsreich und wird nie langweilig. Die Pflegenden müssen sich immer wieder neu auf viele verschiedene Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen einstellen. Pflege entwickelt sich fachlich auch immer weiter. Ein rasanter medizinisch-technischer Fortschritt und immer neue pflegewissenschaftliche Erkenntnisse treiben diese Entwicklung voran. Insofern bleibt der Beruf immer interessant. Darüber hinaus bietet er ein großes Spektrum an Betätigungsfeldern, sodass eine Pflegekraft verschiedene Möglichkeiten hat, sich in diesem Beruf zu verwirklichen.

Aber jede Person, die in der Pflege arbeitet, selbst wenn sie dort nur ein Praktikum macht, merkt schnell: dieser Beruf ist kein Zuckerschlecken. Pflege ist physisch, mental und psychisch überaus anstrengend, unabhängig davon, ob man in der Krankenpflege, Kinderkrankenpflege oder Altenpflege tätig ist, ob man in der ambulanten Pflege, im Krankenhaus, in einem Seniorenpflegeheim oder in der Psychiatrie arbeitet. Die Anforderungen sind enorm hoch.

Wer in der Pflege arbeitet, wird im Berufsalltag mit vielen Ansprüchen und Herausforderungen konfrontiert. Das liegt zum Teil an Gegebenheiten, die der Beruf naturgemäß mit sich bringt. So machen z. B. sehr schwere Krankheitsbilder, mit denen Pflegekräfte umgehen müssen, oder extreme Versorgungslagen bis hin zur Sterbebegleitung oder der Kampf um Leben und Tod bei einer Reanimation den Beruf sehr anstrengend. Außerdem hat z. B. jede/-r Pflegebedürftige bezüglich der Pflege Erwartungen, die individuell verschieden sind und die die Pflegenden nach Möglichkeit erfüllen. Ferner fordern Ausbildung und Gesetzesvorschriften von einer Pflegekraft in bestimmten Situationen ein bestimmtes Vorgehen. Ausbildungsinhalte und Gesetzesvorschriften sind aber keine konstanten Größen, sondern ändern sich je nach Erfordernissen und Entwicklungsstand des Berufes und der Gesellschaft. Das beste Beispiel ist die aktuelle Coronapandemie mit den speziellen Schutzmaßnahmen, die per Gesetz den Pflegekräften während ihrer Arbeit auferlegt werden. Zudem stellt jeder Arbeitgeber an eine Pflegekraft eigene Ansprüche, z. B. zeitliche Verfügbarkeit, Bereitschaft zu Weiterbildungen und Fortbildungen, Übernahme anderer Tätigkeiten wie Anleitung (von Praktikanten, Auszubildenden oder Berufsanfängern) oder Lagerhaltung. Schichtdienst zu leisten, ist notwendig, da viele kranke und alte Menschen rund um die Uhr versorgt werden müssen. Viele Pflegebedürftige brauchen 24 h an allen 365 Tagen im Jahr pflegerische Versorgung. Und die Pflegekräfte sind in ihrem Dienst immer ansprechbar und ziehen sich nicht zurück. Das sind nur einige Anforderungen, denen sich Pflegekräfte stellen müssen und die unumgänglich sind. Zum Teil erschweren darüber hinaus aber unnötige und störende organisatorische und strukturelle Gegebenheiten die Arbeit, z. B. hierarchische Machtstrukturen, ungeregelte Pausen, häufige und viele Überstunden, eine Unmenge schriftliche Dokumentation in Papierform und/oder digital (oft sogar doppelt oder mehrfach), fehlende arbeitserleichternde Hilfsmittel, schlechte personelle Ausstattung, schlechte Diensteinteilung, ungünstige Arbeitskleidung, schlechte oder unzureichende Arbeitsmaterialien, schlechte Raumgestaltung und ungünstige Einrichtung der Pflegezimmer (veraltete Klingelanlagen, enge Räume, veraltete Bäder bzw. Nasszellen, schlechte Lüftungsmöglichkeiten etc.).

Die stetig zunehmende ambulante Behandlung von Kranken hat in den Krankenhäusern zu einer ebenfalls steigenden Fluktuation geführt, d. h., in immer kürzerer Zeit werden immer mehr kranke Menschen durch ein Krankenhaus geschleust. Dadurch müssen alle Abläufe viel schneller abgewickelt werden: viel häufigeres Ein- und Ausräumen der Zimmer, erhöhter Bedarf an Hilfsmitteln, Materialien, Medikamenten und Wäsche, die gerichtet und wieder entsorgt werden müssen, viel mehr Büroarbeit. Kranke werden bis in den Abend und auch am Wochenende entlassen. Dieser Durchlauf verursacht mehr Unruhe und Stress sowohl für die Pflegenden als auch für die Kranken. All das birgt insgesamt ein erhöhtes Fehlerrisiko und für die Bewältigung dieser Mehrarbeit wird entsprechend mehr Personal benötigt, sowohl Fachkräfte als auch Hilfskräfte.

In den Senioren- und Pflegeheimen hat sich die Zahl der alten und hochaltrigen BewohnerInnen sowie Pflegebedürftigen extrem erhöht. Plätze in der Tagespflege oder Kurzzeitpflege sind rar. Wegen der großen Nachfrage werden Wartelisten geführt. In den Heimen wird immer mehr Pflegepersonal mit hoher Fachkompetenz benötigt, um den multimorbiden (= mit vielen Erkrankungen behafteten) Menschen in ihren komplexen Versorgungslagen trotzdem einen guten Lebensabend zu ermöglichen.

Bei den ambulanten Pflegediensten steigt ebenfalls ständig die Nachfrage nach häuslicher Versorgung von Pflegebedürftigen. In manchen Regionen kann der Bedarf an ambulanter Pflege nicht mehr zufriedenstellend gedeckt werden.

Diese Mangellagen sind für die im Pflegeberuf Tätigen äußerst unbefriedigend und bedeuten für sie einen zusätzlichen Stressfaktor, da tagtäglich eine wachsende Arbeitslast auf immer weniger Schultern verteilt wird.

Das sind inzwischen »normale« Anforderungen, die an Pflegende in ihrer täglichen Arbeit gestellt werden.

Mit der Coronapandemie sind nicht nur die Belastungen in der Pflege vielfach gestiegen, es wurde eine neue Dimension erreicht. Erstmals müssen die Pflegenden selbst ständig Nachweise über ihren eigenen Gesundheitsstatus erbringen und sich seit mittlerweile zwei Jahren ständig testen lassen. Abgesehen von wunden Nasen und Rachen vieler Pflegenden wird seit Monaten allen Pflegenden die Gefahr, in der sie sich durch die Versorgung der Kranken selbst befinden und die damit auch ihrer Familie droht, ständig vor Augen geführt. Tatsächlich wurden auch viele Pflegekräfte durch ihre Arbeit mit Corona angesteckt, wie Auswertungen der Barmer oder der Techniker Krankenkasse belegen. Viele Kranke, die notfallmäßig in ein Krankenhaus eingeliefert werden, müssen schnell versorgt werden, bevor ihr Testergebnis zur Coronainfektion vorliegt, und sie müssen auch behandelt werden, obwohl sie positiv sind. Viele Pflegekräfte haben sich dadurch in Ausübung ihrer täglichen Arbeit selbst mit Corona infiziert und viele an Corona erkrankte Pflegekräfte leiden unter den Folgen von Long-Covid oder Post-Covid. Seit nunmehr zwei Jahren besteht für die Pflegenden ebenfalls die ständige Pflicht zur Einhaltung besonderer Hygienevorschriften (spezielle Schutzkleidung, Desinfektionsmaßnahmen etc.). Pflegekräfte können die Schutzkleidung nicht einfach nach Belieben während der Arbeit ablegen, sondern müssen acht Stunden mindestens mit dichtem Mund-Nasen-Schutz, teilweise noch mehr vermummt mit Schutzkittel, Haube und Handschuhen ihren Dienst versehen. Des Weiteren müssen sich die Pflegekräfte in allen Krankenhäusern ebenso wie in Senioren- oder Pflegeheimen ständig mit einem kompletten Umorganisieren des ganzen Arbeitsbetriebes befassen: PatientInnen und BewohnerInnen testen, positiv Getestete isolieren, d. h. umquartieren in ein anderes Zimmer, Zimmer ein- und ausräumen, besondere Schutz- und Hygienematerialien bereitstellen, spezielle Schutz- und Hygienemaßnahmen vornehmen, zusätzliche Dokumentation führen, außerdem ständig Besucher kontrollieren und Besucher testen. Das sind bereits seit Monaten dauernde und irgendwann ermüdende, zusätzliche Belastungen aller Pflegenden. Dazu kommen noch die erschwerte Pflege der an Corona Erkrankten, die Sorge und oft der Kampf um das Leben der schwer Erkrankten, teilweise wegen Bettenmangels noch verbunden mit der Triagierung (= Einstufung nach Dringlichkeit bei der Behandlungsreihenfolge) oder mit der Angst vor einer möglichen Triagierung. Alle diese Umstände geben vielen Pflegenden den Rest und führen letztlich zu ihrer Überlastung.

Seit zwei Jahren werden den Pflegenden durch die Politik ständig wechselnde gesetzliche Regelungen und Anordnungen aufgebürdet, die sich regional unterscheiden, bei denen sich Bund und Länder teilweise widersprechen und bei deren Umsetzung im Arbeitsalltag sich die Pflegenden selbst überlassen bleiben. Das Pflegepersonal unterliegt als »systemrelevante« Berufsgruppe damit einer nun schon zwei Jahre dauernden extremen Fremdbestimmung.

Schon vor Corona erforderte die Bewältigung der Ansprüche und Belastungen, die auch im normalen Arbeitsalltag auf die Pflegenden einstürmen, bestimmte Voraussetzungen und Stärken von den Pflegekräften. Durch die Coronapandemie ist nicht nur die Bedeutung der Ausübung von Pflege, sondern noch vielmehr die Bedeutung der speziellen Stärken der Pflegenden enorm gewachsen. Deshalb wird nachfolgend zunächst erklärt, welche Charakteristika und besonderen Stärken mit der Profession Pflege untrennbar verbunden sind.

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