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3.2 Die Bedeutung von Pflege und Gesundheit während einer Pandemie

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Gerade in solch einer Pandemie sind Pflegekräfte besonders gefragt und stellen erwartungsgemäß ihre Stärken zur Verfügung. Diese Erwartung wird von der Politik, von den einzelnen Institutionen und Arbeitgebern, von den Krankenkassen sowie von den Pflegebedürftigen und von ihren Angehörigen an die Pflegekräfte gerichtet. In der Pandemie gehen Pflegekräfte wegen zahlenmäßiger Unterbesetzung oft über ihre Grenzen hinaus. Wegen des Personalmangels wird unter den konkurrierenden Unternehmen um Wiedereinsteiger in den Pflegeberuf regelrecht gebuhlt. Sogar mit Prämien werden Pflegekräfte angeworben. Auch Pflegekräfte, die bereits in Rente oder aus anderen Gründen aus dem Beruf ausgeschieden sind, werden rekrutiert und mit unterschiedlichen Aufgaben in verschiedenen Pflegebereichen eingesetzt, zumindest als Hilfspersonal. Hier setzt die Allgemeinheit wieder auf die besondere Persönlichkeit, auf das Gemeinwohlverständnis und auf die starke Haltung der Pflegekräfte.

Gerade in dieser Pandemie kommen die Stärken des Pflegeberufs besonders zum Tragen. Die Profession Pflege agiert aufgrund ihrer Stärken mit analytischer, koordinierender, kommunikativer, edukativer, diagnostischer und evaluativer Kompetenz (Abt-Zegelin, 2002; Stemmer, 2003; Kruse, 2003; alle zit. n. Michaelis, 2005, S. 272). Der anspruchsvolle und wertvolle Pflegeberuf mit seiner besonderen Haltung ist sich seiner Verantwortung und seiner Bestimmung bewusst, dass er auch in jeder Krise für jeden Pflegebedürftigen parat steht.

Die zuständige Pflegekraft ist permanent Ansprechpartner für die Gesundheitsversorgung des jeweiligen pflegebedürftigen Menschen. Kein anderer Beruf ist in solch umfassendem Maße auf die Gesundheit der Menschen ausgerichtet wie die Pflege, die sich in ihrer Berufsausübung ausschließlich und vollumfänglich mit der jeweiligen komplexen Situation kranker und pflegebedürftiger Menschen sowie deren ebenso komplexer Versorgung beschäftigt. Gesundheit stellt als Zentralwert das Hauptziel der Pflege dar (vgl. Lademann, 2018; Cassier-Woidasky, 2007).

Darüber hinaus hat sich durch die Coronapandemie Gesundheit als der Zentralwert unserer gesamten Gesellschaft herauskristallisiert. Während es eine Vielzahl von Krankheiten gibt, gibt es nur eine Gesundheit (Schroeter & Rosenthal, 2005, S. 14). Gesundheit ist ein absoluter Wert. Das Bewusstsein für Gesundheit ist durch die Pandemie gestiegen. Erst dadurch wurde auch die Pflege deutlich mehr in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit gerückt. Gesundheit wird zum zentralen Ziel der politischen Anstrengungen, weil nur durch den Erhalt der Gesundheit die Existenz der Menschen und damit die Existenz der Gesellschaft gesichert werden kann. Gesundheit ist das höchste Gut. Dieses muss geschützt werden.

Um die Gesundheit der Bevölkerung nicht weiter zu gefährden, wird sogar die Wirtschaft zurückgefahren. In wiederholten Lockdowns, die über mehrere Wochen anhalten, treten die Mitarbeitenden von Industriebetrieben Kurzarbeit an, die Mitarbeitenden von Verwaltungen begeben sich ins Home-Office, große Kaufhäuser und viele Gewerbebetriebe schließen vorübergehend. Auch das öffentliche Leben wird begrenzt, Kunst- und Kulturveranstaltungen werden ausgesetzt, Kindertagesstätten, Schulen und Universitäten sowie Vereine schließen weitestgehend, damit die Verbreitung der Krankheitserreger verhindert wird. Private Feiern mit vielen Personen werden verboten. Alle gesellschaftlichen Aktivitäten werden auf ein Minimum reduziert in der Hoffnung, dass dadurch die Gesundheitsgefährdung der Menschen eingedämmt werden kann.

Gleichzeitig geht die Politik durch das Zurückfahren des gesellschaftlichen Lebens große Risiken ein, weil die Menschen als Gemeinschaftswesen zwingend auf Kontakte angewiesen sind. Vor allem für Kinder und Jugendliche, die dann keine Gleichaltrigen treffen dürfen, aber eben auch für Kranke, Alte und Schwache unserer Gesellschaft bedeutet Kontaktverbot die Gefahr von Entwicklungsstörungen, von Vereinsamung mit Folgeschäden und von Langzeitschäden durch Vernachlässigung. All das bedroht ihre menschliche Existenz. Diese Schäden sind sehr viel gravierender als materielle Verluste, die durch die Krise verursacht werden. Materielle Verluste können sehr viel leichter aufgefangen oder ausgeglichen werden als gesundheitliche Schäden, die als Folge der sozialen Kontaktbeschränkungen bestehen bleiben.

Da niemand die Dauer dieser gravierenden Einschränkungen vorhersagen kann, nehmen die Risiken der Schäden und der Existenzgefährdung für die Mitglieder unserer Gesellschaft zu.

Außerdem wächst die Wahrscheinlichkeit, dass zunehmend mehr Menschen aus verschiedenen Gründen neben finanzieller vor allem pflegerische und psychosoziale Unterstützung benötigen, um Schäden für ihre Gesundheit und Existenz abzufedern.

Das Zurückfahren im Lockdown betrifft alle gesellschaftlichen Aktivitäten und die allermeisten Berufe, ausgenommen die Pflege. Die Pflege wird hochgefahren. Mehr Intensivplätze werden eingerichtet, möglichst viele Pflegekräfte werden maximal ausgelastet und je nach Bedarf flexibel eingesetzt, viele ehemals Ausgeschiedene werden sogar reaktiviert und zumindest in Hilfstätigkeiten eingebunden. Neue Tätigkeitsbereiche entstehen z. B. in Corona-Testzentren, Impfzentren oder in der speziellen Nachbehandlung von Corona-Erkrankten.

Durch die Pandemie wird der hohe Stellenwert der Pflege offenbar. Sie ist das maßgebende Bindeglied zwischen denen, die in ihrer Existenz bedroht sind, und der überaus problematischen, teilweise sogar lebensfeindlichen Umwelt, in der sie leben. Durch die Coronapandemie wird die Existenzrelevanz der Pflege für alle deutlich, aber besonders für diejenigen, die so schwer betroffen sind von den Kontaktbeschränkungen, weil sie sich nicht selbst versorgen, ernähren und pflegen können und auf Unterstützung angewiesen sind. Pflege ist für sie ein Rettungsanker.

Pflege nimmt innerhalb des Gesundheitswesens und innerhalb unserer Gesellschaft wegen ihrer Existenzrelevanz im Unterschied zu anderen Berufen eine besondere Stellung ein. Denn aufgrund ihrer vielfältigen Möglichkeiten kommt Pflege ständig ihrer alltäglichen Fürsorge für die Pflegebedürftigen nach. Zusätzlich sorgt sie aber auch in besonderen Krisensituationen für die Existenzsicherung derer, die in ihrer (gesamt-)gesundheitlichen Versorgung gefährdet sind.

Die Tatsache, dass die Politik anlässlich der Coronakrise der Pflege endlich eine gewisse Relevanz zuspricht, überrascht. Denn die Relevanz ergibt sich überhaupt nicht aus der Krise, sondern aus dem Inhalt des Berufsbildes der Pflege, aus den Aufgaben dieser Profession sowie aus den Stärken. und Kompetenzen der Pflegenden. Allerdings ist die Relevanz der Pflege in der Krise nicht mehr zu übersehen und schon gar nicht mehr zu verleugnen. Sehr schade, aber es spricht für sich, dass die Politik nicht schon in den letzten Jahrzehnten über die Relevanz der Pflege gesprochen hat und sich offenbar nie darüber wirklich Gedanken gemacht hat.

Die sehr ungenaue Bezeichnung »systemrelevant«, mit der geradezu nur als Randnotiz angemerkt wird, dass die Pflege »schon eine gewisse Bedeutung« für die Gesellschaft hat, ändert nichts daran, dass sich die Politik bis jetzt nicht gründlich mit dieser Profession und ihrer existentiellen Bedeutung auseinandersetzt. Nur so ist zu erklären, dass bis jetzt aus der scheinbaren Erkenntnis der »Systemrelevanz« keine Konsequenzen abgeleitet wurden, die den Pflegeberuf in seiner Entwicklung oder in seinem gesellschaftlichen Status weiter voranbringen. Selbst zur Bundestagswahl im September 2021 erklärt keine Partei in ihrer Wahlwerbung und in den Parteiprogrammen, dass sie maßgebliche Veränderungen für den Pflegeberuf, geschweige denn eine Umstrukturierung des Gesundheitswesens zugunsten der Pflegenden, noch nicht mal in Teilen, vorsieht. Stattdessen werden allgemeine Wahlparolen formuliert, die plakativ »Gehaltserhöhungen« oder »eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen« beinhalten. Worin konkret die Verbesserung bestehen soll oder wie sie herbeigeführt werden soll, wird nicht erläutert. Das ist enttäuschend.

Eine Einmalzahlung als Corona-Bonus, ein Applaus oder ein einzelnes, lapidares Statement eines Politikers wirken auf die Pflegekräfte eher wie Hohn, wenn sich ansonsten die Probleme im Arbeitsalltag weiter anhäufen und verschlimmern.

Da stellt sich die Frage, ob bzw. wann sich Politik und Gesellschaft überhaupt endlich auch zu gewissen Pflichten gegenüber dem Pflegeberuf bekennen und diese erfüllen werden.

Existenzrelevant!

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