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2.2 Erfahrungsberichte zu den Werten des Pflegeberufes

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Während ich über diese Zusammenhänge nachdenke, erinnere ich mich an eine Situation, die ich mit einem Chefarzt einer Kinderklinik erlebt habe:

Mitte der 1990er Jahre, war die Mitaufnahme von Eltern bei ihren Kindern noch nicht selbstverständlich. Die Mitaufnahme von sozial schlecht gestellten Eltern wurde gern abgelehnt. Oft wurde Platzmangel als Grund angegeben, um sie nicht aufnehmen zu müssen. Trotzdem war auch bei starker Belegung immer noch irgendwie Platz für privatversicherte Eltern, selbst wenn sie in einem Zimmer in einem anderen Gebäudeteil der Kinderklinik untergebracht wurden. Diese Ungleichbehandlung hat mich sehr gestört, weil alle Kinder gleichermaßen ihre Eltern gerade im Krankenhaus besonders brauchen, unabhängig vom sozialen Stand. Darüber geriet ich einmal in eine Diskussion mit dem damaligen Chefarzt der Kinderklinik. Als er mit seinen Argumenten am Ende war, schrie er mich an: »Halten Sie sich da raus! Ihre Aufgabe ist, anderen Leuten den Arsch abzuwischen! Befassen Sie sich nicht mit Themen, die Ihren Horizont übersteigen!« Dazu sagte ich damals: »Wenn Sie jemals in eine Situation kommen, wo Sie sich nicht selbst den Arsch abwischen können, werden Sie feststellen, wie wichtig das ist, und es wird Ihnen nicht gleichgültig sein, wer das macht und wie es gemacht wird.« Damit war das »Gespräch« für mich beendet und ich drehte mich um und ließ ihn stehen.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte der Chefarzt, der seine Überlegenheit ausdrücken wollte, gerade den sensibelsten Bereich der Pflege angesprochen, nämlich die Intimpflege.

Bei der Intimpflege werden die Stärken der Pflege besonders deutlich. Denn es ist tatsächlich sehr wichtig für Pflegebedürftige, wie die Intimpflege durchgeführt wird. Häufig wird gerade daran eine gute Pflegekraft erkannt. Warum? Wenig berührt das Schamgefühl kranker bzw. pflegebedürftiger Menschen so stark wie die Intimpflege. Sie erfordert ein sehr ausgeprägtes Feingefühl der Pflegekraft beim Umgang mit den Pflegebedürftigen. Wer bei der Intimpflege Hilfe benötigt oder jemals benötigt hat, weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass Pflege selten mehr Vertrauen und eine größere Vertrautheit erfordert. Müller (2018) erläutert: »Kaum ein anderer Beruf arbeitet so nah am Menschen wie die professionelle Pflege.« Diese Nähe betrifft die »direkte körperliche Nähe und das Eingreifen in die Privat- und Intimsphäre« (Müller, 2018, S. 96). Das ist im wahrsten Sinne des Wortes so.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Situation während meiner Ausbildung, als ich einen Einsatz im Kreißsaal hatte und bei einer Hochschwangeren vor dem geplanten Kaiserschnitt, dessen Termin kurzfristig anberaumt wurde, die Körperpflege durchführen sollte. Die Frau stand vor einer Drillingsentbindung und war mutterseelenallein im Kreißsaal, da ihr Mann beruflich unterwegs war. Ich habe sie auf alle Pflegemaßnahmen immer vorbereitet, alles vorher mit ihr abgesprochen, sie um Rückmeldung gebeten, ob sie etwas in einer bestimmten Weise gehändelt haben wollte, und die Pflegemaßnahmen einschließlich der Intimpflege trotz der gebotenen Eile ruhig, mit Bedacht und Sorgfalt immer in Absprache mit ihr durchgeführt. Nebenbei habe ich mit ihr noch über die bevorstehende Sectio gesprochen, ihre offenen Fragen beantwortet und sie aufgebaut, sodass sie der OP mit einer positiven Grundstimmung entgegensah. Als wir mit der Vorbereitung fertig waren, war die Frau so dankbar und gerührt, dass sie mich unter Tränen in den höchsten Tönen gelobt hat. Dieses Erlebnis war für mich auch deswegen so besonders, weil ich anschließend der Sectio und der Geburt der Drillinge im Gyn-OP als Zuschauerin beiwohnen durfte und mein Dienst an diesem Tag damit »gekrönt« wurde. Es war wunderschön, als die kleinen Erdenbürger der Reihe nach ans Licht der Welt geholt wurden und mit zartem Piepsen ihre Ankunft bekanntgaben. Alle im Gyn-OP Anwesenden waren glücklich über das gute Gelingen der Geburt. Und die Mutter erst! Sie war gleichermaßen selig und erleichtert.

Noch Wochen und Monate nach der Geburt ihrer Drillinge, die zwar klein und zierlich, aber alle gesund waren, musste die Frau immer mal wieder mit ihnen in die Kinderklinik kommen zu Kontrolluntersuchungen. Jedes Mal, wenn sie mich sah, sprach sie mich auf unsere damalige Begegnung an und jedes Mal lobte sie mich wie am ersten Tag.

Diese Erfahrung und viele andere schöne Erlebnisse mit PatientInnen und Angehörigen, die ich während meiner Berufstätigkeit kennengelernt habe, erfüllen mich mit tiefer Zufriedenheit. Ich bin dankbar, dass ich diesen Beruf so viele Jahre ausüben konnte, und weiß, was ich in dieser Zeit geleistet habe. Genauer gesagt, ich weiß, was ich sogar trotz widrigster Umstände geleistet habe.

Darauf will ich hinaus, wenn ich sage: Pflege setzt voraus, dass die Pflegekraft sich nicht nur über die Werte im Klaren ist, die dieser Beruf beinhaltet und repräsentiert, sondern auch über die Stärken, die bei der Ausübung von Pflege gefordert werden und die sie selbst mitbringen oder sich erarbeiten muss, wenn sie diesen Beruf dauerhaft und erfolgreich ausüben und dabei selbst bei guter Gesundheit (= ganzheitlich umfassende Gesundheit als harmonische Einheit von Körper, Geist und Seele) bleiben will.

Pflege als sehr anspruchsvoller und sehr wertvoller Beruf braucht folglich Pflegekräfte mit reifer und stabiler Persönlichkeit, um sowohl den ihnen Anvertrauten als auch der Profession Pflege gerecht zu werden. Das reine Fachwissen allein ist dazu nicht ausreichend. Pflege braucht starke Persönlichkeiten. Pflege muss stark sein für die Pflegebedürftigen, für ihre Angehörigen, für die Gesellschaft insgesamt und für den Staat. Ganz unabhängig von den im Alltag sonst schon üblichen Anforderungen und schwierigen Arbeitsbedingungen führt die Coronapandemie das jetzt erst recht allen Menschen vor Augen.

2 Gratifikationskrise: ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und als Gegenwert erhaltener Belohnung führt zu Stressreaktionen, die sich unterschiedlich äußern z. B. als kardiovaskuläre Krankheiten, psychiatrische Störungen, Depressionen, Alkoholabhängigkeit, muskuläre Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich (Ulich & Wülser, 2010).

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