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Eine Beziehungsgeschichte in der Nachkriegszeit

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Im Jahre 1945 lagen Frankreich und Deutschland ausgelaugt und blutleer am Boden und mussten ihren Weg aus dem Krieg heraus finden. Das befreite Frankreich hatte dabei zweifellos die besseren Ausgangsbedingungen, ging es aus dem Konflikt doch schließlich als Siegermacht hervor, die ihre Geschicke wieder in die eigenen Hände nehmen konnte26. Deutschland und seine Gesellschaft galt es im Rahmen der Politik des unconditional surrender vorläufig stillzulegen, um die Voraussetzungen für einen Neuanfang zu schaffen. Es stand als besiegtes und besetztes Land vor dem Scherbenhaufen seiner eigenen Geschichte. Trotz dieses Statusunterschiedes ist die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 auch die Geschichte zweier Nachbarn, die sich unter den spezifischen Bedingungen der Nachkriegszeit auf politischer, wirtschaftlicher, kultureller und mentaler Ebene einen Weg in eine neue Zukunft bahnen mussten, um die verloren gegangene Normalität in dieser Übergangszeit wiederzufinden. Die Trennungslinie zwischen Krieg und Nachkriegszeit ist dabei nicht immer einfach zu ziehen, verschwammen in dieser „Verwandlungszone“27 doch fortwährend die Grenzen zwischen vorher und nachher, wirkte der gerade überwundene offene Konflikt doch sowohl materiell als auch mental über sein Ende hinaus28. Nachkriegszeit kann folglich als eine Zeit verstanden werden, „die wesentlich durch die vielfältigen Folgen des Krieges geprägt ist“29. In der französischen Historiographie hat sich für solche Übergangsphasen der Begriff der sorties de guerre eingebürgert30, der stärker als der Begriff „Nachkriegszeit“ auf den Dynamiken insistiert und einen Prozess beschreiben will, „der soziale Dimensionen von großer Tragweite umfasst und der in gewisser Weise den Konflikt verlängert, sowohl auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene“31. Die in diesem Band zu behandelnde Periode zwischen 1945 und 1963 lässt sich folglich auf vielfältige Weise als sortie de guerre bezeichnen, in welcher der innere Frieden wiedergefunden werden musste, um auch das bilaterale Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland dauerhaft zu befrieden32 und den „negativen Frieden“ im Moment der deutschen Kapitulation in einen „positiven Frieden“ mit ausgesöhnter Friedenskultur zu überführen.

Das Jahr 1963 als Schlusspunkt unseres Betrachtungsraumes mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages am 22. Januar besitzt sozialgeschichtlich sicherlich keine Relevanz bei der Frage nach dem Ende der Nachkriegszeit33. Auch die einschlägigen Handbücher zur europäischen Integration sehen die Vertragsunterzeichnung nicht als Einschnitt, vielmehr als Nachgeschichte der Römischen Verträge „im Schatten de Gaulles“ bzw. als Reaktion auf die gescheiterten Fouchet-Pläne34. Sie stellt genauso wenig eine Zäsur im Kalten Krieg dar, die eher im Ende der Berlin- (1961) bzw. der Kubakrise (1962) zu suchen ist. Schon gar nicht ist das Datum in den ostdeutsch-französischen Beziehungen von großer Relevanz, auch wenn die SED nach dem 22. Januar 1963 eine Pressekampagne gegen die Vertragsunterzeichnung begann. Diese sagte jedoch nur wenig über den Charakter des Élysée-Vertrages aus, sondern war eher Ausdruck für einen neuerlichen Rückschlag in der von der DDR 1957/58 gegenüber Frankreich und den übrigen westlichen Ländern eingeleiteten „Anerkennungspolitik“35, die erst 1973 ihr Ziel erreichte. Wieder einmal konnte die DDR die von Bonn 1955 verkündete Hallstein-Doktrin nicht durchlöchern, welche die Aufnahme oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten als unfreundlichen Akt definierte und mit dem Abbruch diplomatischer Beziehungen drohte36. Überholen ohne einzuholen musste daher auch auf diesem Feld das Ziel von Ost-Berlin bleiben37. Die mittlerweile zugänglichen Archive der DDR verdeutlichen dabei eindrücklich, dass es sich stets um eine ménage à trois im bipolaren Koordinatensystem des Kalten Krieges handelte. Folglich kann es nicht genügen, die ostdeutsch-französischen Beziehungen gesondert zu behandeln. Vielmehr gilt es den für die deutsche Nachkriegsgeschichte so charakteristischen direkten und indirekten Formen der asymmetrischen Verflechtung38 zwischen den beiden deutschen Staaten auch auf dem Feld des deutsch-deutsch-französischen Beziehungsgeflechts nachzuspüren.

Das Jahr 1963 als Endpunkt dieser Studie richtet den Blick somit auf ein westdeutsch-französisches Schlüsselereignis. Der Kanzler und der General wollten mit diesem feierlichen Akt nicht nur das Ende der Nachkriegszeit im bilateralen Verhältnis, sondern zugleich die (west-)deutsch-französische „Versöhnung“ besiegeln, um nach einer Phase der Verständigung und Annäherung nun zur Normalität der Kooperation übergehen zu können. Dieser Ausdruck politischen Willens lässt bisweilen jedoch vergessen, dass Versöhnung – mit ihren religiösen bzw. moralischen Konnotationen39 und der für den westlichen Kulturkreis kennzeichnenden Komponente der Vergebung40 – keinen Endzustand beschreibt, gerade im Verhältnis zwischen zwei Staaten. Nicht nur das deutsch-französische Beispiel verdeutlicht, dass Versöhnung ein permanentes Handeln auf politischer und gesellschaftlicher Ebene erfordert, um den Prozess der Annäherung und Verständigung unumkehrbar zu machen. Der Begriff der Versöhnung ist auf dem Feld der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Beziehungen relativ jung und findet sich bezeichnenderweise in offiziellen und nicht-offiziellen Diskursen zur Zielbestimmung der deutsch-französischen Beziehungen in einer zuvor nicht gekannten Häufung ab Ende der 1950er Jahre. Heute verweist der Begriff der Versöhnung allgemein auf die Befriedung von Beziehungen und die Lösung von Konflikten zwischen zwei zuvor verfeindeten Gesellschaften oder Gemeinschaften.

Doch richten wir den Blick noch einmal auf die deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 zurück, für die der 22. Januar 1963 im aktuellen öffentlichen Bewusstsein nicht nur zu einem Schlüsseldatum geworden ist, sondern sogar den Status eines gemeinsamen Erinnerungsortes erreicht hat41, der nicht selten mit Mythen und harmonisierenden Betrachtungen versehen wird42. Die Bedingungsfaktoren für diesen Annäherungsprozess stellen sich jedoch in historischer Sicht komplexer dar, als es heute bisweilen erscheint. Mag man diese Beziehungsgeschichte vielleicht zu Recht mit dem Attribut der „Erfolgsgeschichte“ belegen, so sollten nicht die Blockaden, Misserfolge und Rückschläge aus dem Auge verloren werden, jedoch auch nicht die Mittel und Wege, mit denen es beiden Seiten in der Regel doch wieder gelang, abweichende Interessenlagen in Einklang zu bringen43. Gerade in den letzten Jahren hat sich gezeigt, dass das Interpretament von der „Erfolgsgeschichte“ zunehmend in den Hintergrund geriet. Neuere Studien fragen nach den von Politik, Geschichtswissenschaft und kollektivem Gedächtnis ausgeblendeten Aspekten der deutsch-französischen Beziehungen. Besonderes Interesse fand dabei die Frage der Wiedergutmachung und der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern im deutsch-französischen Kontext44. Weitere Arbeiten zur transnationalen Vergangenheitspolitik stehen aus.

Ist die Periode zwischen 1945 und 1963 in vielerlei Hinsicht als Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs zu verstehen, so lässt sie sich zugleich als Vorgeschichte des „franco-allemand“ charakterisieren, eine von den Franzosen so bezeichnete Epoche, die sich durch die Herausbildung der „Paare“ Valéry Giscard d’Estaing/Helmut Schmidt, François Mitterrand/Helmut Kohl und Jacques Chirac/Gerhard Schröder auszeichnet, durch die Gründung binationaler Organisationen wie des Deutsch-Französischen Jugendwerks (7. Juli 1963)45, durch die Institutionalisierung und Ausweitung von Kooperation bzw. Begegnung auf allen Ebenen46 und durch den deutsch-französischen „Motor“ in Europa. Die Spannbreite dieses Beziehungsgeflechts ist jedoch das Thema des folgenden Bandes der Deutsch-Französischen Geschichte; hier wollen wir uns mit der These begnügen, dass die deutsch-französischen Beziehungen nicht erst mit dem Élysée-Vertrag begannen, wie man es bisweilen lesen kann, sondern die Unterzeichnung nur möglich war, weil die seit 1945 unternommene Verständigungsarbeit ihre Früchte getragen hatte47.

Diese war nicht alleine das Werk großer Männer oder gar nur der beiden „Lichtgestalten“ Adenauer und de Gaulle48. Ein solch reduzierter Blick blendet vielmehr die Vielschichtigkeit eines Prozesses aus, an dem Akteure auf den unterschiedlichsten Ebenen teilhatten. Anders als in der Zwischenkriegszeit hatte das bilaterale Verhältnis mittlerweile eine sozio-kulturelle Unterfütterung und eine gesellschaftliche Rückbindung erhalten, die eine allgemeine Bereitschaft zu Vertrauen, Verständigung und Kooperation ermöglichte. Zum besseren Verständnis der deutsch-französischen Annäherung erscheint es daher entscheidend, die Interdependenz zwischen den unterschiedlichen Handlungs- und Akteursebenen zu beleuchten, um den Interaktionen, Schnittstellen und Komplementaritäten auf den verschiedenen Niveaus auf die Spur zu kommen. Neben den internationalen Rahmenbedingungen gilt es daher auch in besonderem Maße die transnationalen Dynamiken auf der Ebene der Zivilgesellschaft zu analysieren, um die grenzüberschreitenden Transfer- und Austauschprozesse, die wechselseitigen Wahrnehmungen und die verschiedenen Formen der Verflechtung zu beleuchten49. Überflüssig erscheint es auch auf diesem Feld, die verschiedenen Ansätze hierarchisieren bzw. in einen methodischen Wettbewerb stellen zu wollen, wie Johannes Paulmann zu Recht unterstreicht:

„Um als Historiker aber überhaupt erkennen zu können, was bei einem interkulturellen Transfer vor sich geht, muss man vergleichen: die Stellung des untersuchten Gegenstands im alten mit der in seinem neuen Kontext, die soziale Herkunft der Vermittler und der Betroffenen in einem Land mit der im anderen, die Benennung in einer Sprache mit der in einer anderen und schließlich die Deutung eines Phänomens in der nationalen Kultur, aus der es stammt, mit der, in die es eingeführt wurde“50.

Welche Bedeutung einer sozialgeschichtlichen Erweiterung bei der Erforschung der Geschichte der internationalen Beziehungen zukommt, hatten in den 1950er Jahren bereits Pierre Renouvin und Jean-Baptiste Duroselle mit dem Hinweis auf die forces profondes51 unterstrichen. Mag die Begrifflichkeit dieses Konzeptes bisweilen auch veraltet scheinen52, so hat der Ansatz nichts von seiner Aktualität verloren, wie gerade die deutsch-französischen Beziehungen zwischen 1945 und 1963 verdeutlichen. So ist auch die Forderung von Hartmut Kaelble zu verstehen, „die langsame, aber tiefgreifende Annäherung der Gesellschaftsstrukturen und Lebensweisen der beiden Länder“ im Rahmen der deutsch-französischen Aussöhnung stärker zu berücksichtigen:

„Das lange Misstrauen der Bürger beider Länder hing nicht nur mit politischer Indoktrination und politischen Erfahrungen, sondern auch mit fundamentalen Unterschieden der gesellschaftlichen Strukturen und Lebensweisen zusammen, die jedes Verständnis außerordentlich erschwerte“53.

Die „Versöhnungsgeneration“ der deutsch-französischen Beziehungen nach 1945 tritt heute nach und nach ab und macht Platz für eine jüngere Generation, die das deutsch-französische Verhältnis als gelebten Austausch und konkrete Kooperation erfährt. Ihr wird der moralisch aufgeladene, bisweilen mit Pathosformeln versehene Versöhnungsdiskurs zunehmend fremd, so dass er nur noch schwer in ihre lebensweltliche Realität zu integrieren ist und für die Gegenwart und Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen oftmals kontraproduktiv wirkt. In den Zeiten einer Neubestimmung und Neuverhandlung des deutsch-französischen Verhältnisses kommt dem Blick in die unmittelbare Vorgeschichte jedoch eine wichtige Orientierungsfunktion für zukünftiges Handeln zu.

1 Danken möchten wir an dieser Stelle für die kritische Lektüre: Prof. Dr. Jacques Bariéty (Paris), Prof. Dr. Hans Manfred Bock (Kassel), Dr. Florence Gauzy (München), Prof. Dr. Rainer Hudemann (Saarbrücken), Bernard Ludwig (Paris), Prof. Dr. Werner Paravicini (Kiel), Prof. Dr. Andreas Wilkens (Metz).

2 Vgl. POIDEVIN, BARIÉTY 1977 [487]; LAPPENKÜPER 2001 [468]; vgl. auch die anders akzentuierte Studie von ZIEBURA 1997 [503]. Vgl. zur Bedeutung von Gilbert Ziebura für die deutsch-französische Geschichtsschreibung: BOCK, KIMMEL, UTERWEDDE 2003 [70]; KIMMEL 2005 [77].

3 Vgl. ZIELINSKI 1995 [183].

4 Vgl. FREVERT 2000 [127]; BLUHM 2003 [725].

5 HAUSWEDELL 2006 [129], S. 12.

6 De GAULLE 2000 [46], S. 1032.

7 CONZE 2007 [314], S. 269.

8 CONZE 2007 [115], S. 43.

9 Vgl. du BOIS 2003 [247].

10 JUDT 2006 [322], S. 16.

11 MORAN 1966 [83], S. 193.

12 GÖRTEMAKER 1999 [401], S.35.

13 Vgl. GADDIS 2007 [252], S. 18.

14 Vgl. LOTH 2000 [259], S. 285.

15 STÖVER 2007 [267], S. 21.

16 SHEEHAN 2008 [342], S. 21.

17 BOYER 2007 [108], S. 490.

18 ELVERT 2006 [316],S. 1.

19 Vgl. BOCK 1999 [108].

20 Vgl. MÖLLER, Horst, HILDEBRAND, Klaus (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949–1963, München 1997, Bd. 3, bearbeitet von Herbert ELZER), S. 1. Vgl. dazu auch KISSENER 2004 [825], S. 183; LAPPENKÜPER 2003 [469].

21 Vgl. RÖDDER 2007 [664].

22 BENDER 2007 [384], S. 43.

23 Vgl. GREINER 2009 [254].

24 Vgl. SOUTOU 2003 [275].

25 BENDER 2007 [384], S. 76.

26 Vgl. HÜSER 2003 [460]; HÜSER 2005 [209].

27 Vgl. zur Terminologie: LOTH, RUSINEK 1998 [1320].

28 Vgl. DEFRANCE, ECHTERNKAMP, MARTENS 2008 [117]; VON LINGEN 2009 [1254].

29 Vgl. ECHTERNKAMP, MARTENS 2007 [120], S. 1f.

30 Vgl. AUDOIN-ROUZEAU, PROCHASSON 2008 [101].

31 Vgl. ROUSSO 2007 [1245], S. 273.

32 Vgl. SENGHAAS 1995 [166].

33 Vgl. die Überlegungen zum Ende der Nachkriegszeit in: DEFRANCE 2006 [116].

34 BRUNN 2002 [310], S. 138ff.; BITSCH 1999 [308], S. 241.

35 Vgl. PFEIL 2001 [650].

36 Vgl. KILIAN 2001 [211]; GRAY 2005 [200].

37 Vgl. PFEIL 2004 [484].

38 Vgl. KLESSMANN 2005 [138]; KLESSMANN, LAUTZAS 2006 [411].

39 Vgl. BEESTERMÖLLER, REUTER 2002 [103].

40 Vgl. LEFRANC 2002 [145].

41 Vgl. FRANK 2005 [1211].

42 Vgl. DEFRANCE, PFEIL 2005 [447].

43 Vgl. MARCOWITZ 2005 [632].

44 Vgl. weiter gehende Überlegungen zu dieser Frage in: MOISEL 2004 [641], S. 10f.; DELORI 2007 [450], S. 11–19.

45 Vgl. BOCK, DEFRANCE, KREBS, PFEIL 2008 [741].

46 Vgl. MIARD-DELACROIX, HUDEMANN 2005 [480].

47 Vgl. BOCK, PFEIL 2005 [738].

48 Vgl. zu dieser These auch die Beiträge in: SCHWABE 2005 [490].

49 Vgl. MILZA 1998 [153]; PATEL 2004 [159]; BUDDE, CONRAD, JANZ 2006 [109].

50 PAULMANN 1998 [160].

51 Vgl. als systematische Einführung in das Konzept: RENOUVIN, DUROSELLE 1991 [163].

52 Vgl. zur Einordnung in die französische Historiographiegeschichte: FRANK 2003 [126]; SOUTOU 2000 [170]; WIRSCHING 2008 [179], S. 182ff.; MARCOWITZ 2005 [149]; MARTENS 2007 [151]; HUDEMANN 2004 [135].

53 KAELBLE 1991 [588], S. 10.

WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X

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