Читать книгу WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X - Corine Defrance - Страница 14

Bilanz des Zweiten Weltkriegs

Оглавление

Hatte der Erste Weltkrieg den Menschen bereits die Konsequenzen eines industriellen Krieges vor Augen geführt, wurde im Zweiten Weltkrieg als bis heute größtem Land-, Luft- und Seekampf alles Bisherige in den Schatten gestellt. Nie zuvor waren in einem solchen Ausmaße Industrie, Technik und Wissenschaft in den Dienst der Vernichtung menschlichen Lebens gestellt worden. Nie zuvor waren die kriegsbedingten Verluste auf demographischer, ökonomischer, sozialer und emotionaler Ebene größer als nach 1945. Wer dabei eine vergleichende Bilanz von Zerstörung, Leid und Elend in Krieg und Nachkriegszeit versucht, begibt sich im deutschen Fall auf das sensible Feld der Opferdiskussion, die in der Vergangenheit vielfach unter dem Verdacht stand – hier jedoch vor allem im Verhältnis von Deutschland zu seinen östlichen Nachbarn –, „dass Leid mit Leid, Schuld mit Schuld verrechnet werden soll“5. Ausgangspunkt für eine solche Bilanz kann deshalb nicht der 8. Mai 1945 sein, sondern muss der Ausbruch des von Deutschland vom Zaun gebrochenen Krieges sein, der Frankreich zwischen 1940 und 1944/45 eine vierjährige Besatzung aufzwang.

Heutige Schätzungen gehen von insgesamt über 60 Millionen Toten aus, darunter 25 Millionen Zivilisten, die durch Luftangriffe, Bodenkämpfe, Massenvernichtungen, Erschießungen, Arbeits- und Konzentrationslager, Deportation und Flucht ums Leben kamen. In Frankreich waren nach letzten Erkenntnissen ca. 400.000 Opfer (davon mehr als die Hälfte Zivilisten) zu beklagen6. Zu den ca. 150.000 Soldaten, unter ihnen auch die Kolonialtruppen und die von der Wehrmacht zwangseingezogenen Elsass-Lothringer, kommen weniger als 100.000 zivile Opfer auf französischem Territorium. Ungefähr 150.000 Franzosen wurden von den Deutschen außerhalb Frankreichs (vor allem in Deutschland und Polen) umgebracht, unter ihnen über 75.000 Juden, 21.000 Kriegsgefangene, weitere 20.000 nicht-jüdische Verhaftete und 10.000 bis 20.000 Zivilarbeiter.

Deutschland zählte ca. sieben Millionen Opfer, davon 4,5 Millionen Wehrmachtstote aus dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 und über zwei Millionen Zivilisten. Dabei schwankte die Todesquote je nach Geburtsjahrgängen erheblich. Für die Jahrgänge 1910 bis 1925 lag sie in Deutschland durchschnittlich zwischen 20 und 40 %. Mindestens zwei Fünftel der Jahrgänge 1920 bis 1925 wurden nahezu ausgelöscht7. Zu den Folgen dieser demographischen Verwerfungen gehörten u.a. ein starker Frauenüberschuss und Vaterlosigkeit, unter der ca. ein Viertel der deutschen Kinder und Jugendlichen litten. Zu dieser Verlustgeschichte gehören auch die 170.000 ermordeten deutschen Juden und 100.000 nicht-jüdische deutsche Opfer, die von den Nationalsozialisten aus weltanschaulichen und politischen Gründen umgebracht worden waren.

Die alliierten Bombenangriffe und die Kämpfe auf deutschem Territorium, aber auch Hitlers „Taktik der verbrannten Erde“ („Nerobefehl“ vom 19. März 1945) hatten weite Teile Deutschlands in den letzten Kriegsmonaten in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Besonders betroffen waren jedoch die Wohngebiete und das Transportwesen. Die Alliierten mussten bei der Bombardierung der deutschen Industrieanlagen bisweilen selber schwere Verluste hinnehmen, so dass der Schwerpunkt der Bombenangriffe ab März 1942 schon nicht mehr auf der Rüstungsindustrie gelegen hatte. Zudem mussten die alliierten Beobachter nach Kriegsende feststellen, dass ihre Luftangriffe auf die deutschen Industriezentren in den meisten Fällen kostspielige Fehlschläge gewesen waren8. Für den Produktionsrückgang ab Mitte 1944 war daher in erster Linie die Zerstörung des Transportsystems verantwortlich. So erklärt es sich, dass zu Kriegsende 40 % der Verkehrsanlagen vernichtet waren, während die Kriegszerstörungen in der deutschen Industrie nur ca. 20 % betrugen und ihre Leistung 1946 nur ca. 30 % unter dem Stand von 1939 lag9. Mit gewissem Abstand zeigte es sich, dass das Ausmaß der Kriegszerstörungen im Moment des Kriegsendes stark überschätzt wurde. In der SBZ, in der die sowjetische Besatzungsmacht als strafender Sieger auftrat, richteten die Wiedergutmachungen an die Sowjetunion und die durchgeführten Demontagen größere Schäden an als die kriegsbedingten Zerstörungen10. Werner Abelshauser kommt gar zu dem Fazit, dass die Substanz des industriellen Anlagevermögens im Mai 1945 keineswegs entscheidend getroffen war und sich etwa auf dem Stand von 1938 befand11.

Der eigentliche Leidtragende der im Jahre 1944 das deutsche Territorium erreichenden Kämpfe war die Zivilbevölkerung, die nun mit ganzer Härte erleben musste, wie die angegriffenen und besetzten Länder als Antwort auf die von Deutschen ausgegangene Gewalt zurückschlugen. In den letzten Kriegstagen wurden von der Roten Armee 40.000 Granaten auf Berlin abgefeuert, so dass die Reichshauptstadt einer Trümmerwüste glich, in der 75 % der Wohnungen unbewohnbar waren. Die anderen deutschen Großstädte erfuhren in der Regel ein ähnliches Schicksal: In Köln wurden 70 % des Wohnraums zerstört, ähnlich ging es Städten wie Dortmund (65,8 %), Duisburg (64,8 %), Kassel (63,9 %) und Kiel (58,1 %)12, während die Wohnverhältnisse auf dem Land und in den kleineren Orten deutlich besser waren. Insgesamt waren 40 % des Wohnraums in Deutschland vernichtet, 2,25 Millionen Wohnungen lagen gänzlich in Schutt und Asche, rund 2,5 Millionen Wohnungen waren schwer beschädigt13, so dass Lagerleben und vagabundierende Obdachlosigkeit für ca. 20 Millionen Deutsche zur Realität der Nachkriegszeit gehörten. Noch 1950 lebten auf dem Gebiet der Bundesrepublik über 900.000 Menschen in Notunterkünften und Massenlagern14. Jene Glücklichen, deren Wohnung intakt geblieben war, mussten diesen kostbaren Besitz schon bald mit anderen teilen, standen Einquartierungen in der Nachkriegszeit angesichts der großen Zahl von Flüchtlingen und Vertriebenen doch auf der Tagesordnung. So lebten Ende 1946 durchschnittlich 4,2 Personen in einer Wohnung, 1948 waren es gar 5,4, wohingegen es 1939 nur 3,3 waren. Im Zonenvergleich war die SBZ am stärksten von dem Flüchtlingsstrom betroffen. Von den 20,5 Millionen Menschen waren über 4,3 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene. Ihr Anteil stieg bis zur Gründung der DDR auf 25 %. Zwar war der Wohnraum in der SBZ weniger in Mitleidenschaft gezogen als der im Westen (7,0 zu 15,3 %), doch infolge des höheren Flüchtlingsaufkommens herrschte noch über Jahre ein beachtlicher Wohnraummangel15. Dieses Zusammenleben auf engstem Raum mit dem damit einhergehenden Verlust an Privatsphäre schürte die innergesellschaftlichen Spannungen in einer Zeit, in welcher der Lebensmut der meisten Deutschen schwer angegriffen war16.

Auch Frankreich musste in den Nachkriegsjahren die infolge der Bombardements und Kampfhandlungen entstandenen Trümmer beiseite räumen. Hatte der Erste Weltkrieg nur 13 Départements getroffen, waren es während des Zweiten Weltkriegs 74. 500.000 Wohnungen waren nicht mehr bewohnbar, was einem Zerstörungsgrad von etwa 20 % entsprach. Die größten Schäden musste dabei die Normandie verzeichnen, deren Einwohnerschaft zudem unter dem harten Winter 1944/45 zu leiden hatte, den sie vielfach in Holzbaracken zu überleben versuchte17. Was als Provisorium gedacht war, blieb für viele Franzosen noch zehn Jahre bittere Realität. Diese Küstenregion hatte nicht alleine unter den heftigen Rückzugsgefechten der deutschen Wehrmacht gelitten, sondern war – zur Befreiung des eigenen Territoriums – auch Opfer von westalliierten Luftangriffen geworden, bei denen die Hafenstädte Le Havre (82 %), Caen (73 %), Saint-Lô (77 %) und Rouen (50 %) am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurden, während die französische Hauptstadt Paris den Krieg nahezu unversehrt überstanden hatte. Durch diese Zerstörungen waren die Kapazitäten der französischen Handelsflotte auf ein Minimum reduziert, so dass auch die Verteilung der zum Überleben notwendigen Güter weiter erschwert wurde; hinzu kamen zerstörte Straßen, Eisenbahnlinien und Brücken. Keine Brücke zwischen Paris und Le Havre war mehr intakt, nur noch eine über den Rhein, und gerade einmal 10 % des französischen Schienennetzes waren noch befahrbar, so dass das Land quasi stillstand.

Doch nicht nur die Bevölkerung sah sich vor einem kaum zu überwindenden Berg von Problemen; auch die politische Führung befürchtete eine lang anhaltende Durststrecke, so auch de Gaulle, der im Oktober 1945 verkündete, dass Frankreich für den Wiederaufbau des Landes selbst bei unermüdlicher Arbeit 25 Jahre brauche. Doch bei aller Not zeigte sich auch hier, dass der Pessimismus der Nachkriegszeit nicht den wirtschaftlichen Realitäten entsprach. Bereits 1948 überschritt Frankreich wieder seine Vorkriegsproduktion an Kohle und Stahl. Bis 1952 wurde schließlich der Steinkohlebergbau auf den Leistungsstand der Vorkriegsstand gebracht18.

WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X

Подняться наверх