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Soziale Not

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Das Kriegsende hatte dem Massensterben ein Ende gesetzt, doch Existenzunsicherheit, soziale Not und insbesondere der Hunger als europäisches Phänomen der Nachkriegszeit machten das Überleben auch nach der Einstellung der Kampfhandlungen bisweilen zu einem schwierigen Unterfangen, waren sowohl Deutsche als auch Franzosen von der lebensnotwendigen Mindestkalorienmenge von ca. 2400 in der unmittelbaren Nachkriegszeit doch zumeist weit entfernt. In Paris brachte es ein Erwachsener im August 1944 gerade einmal auf 900 Kalorien; 1210 waren es im September und 1515 im Mai 194519. 70 % der französischen Männer und 55 % der Frauen hatten im Vergleich zur Vorkriegszeit an Gewicht verloren; ein Drittel aller Kinder litt an Wachstumsstörungen. So waren die französischen Jugendlichen im Jahre 1945 zwischen sieben und elf Zentimeter kleiner als ihre Altersgenossen 1935 und wogen zwischen sieben und neun Kilo weniger. Zudem begünstigte das Untergewicht die Anfälligkeit für Krankheiten und Seuchen, denen in erster Linie Kinder und Alte zum Opfer fielen. So kann es nur wenig überraschen, dass laut französischen Meinungsumfragen die Versorgung mit Brot, Fleisch sowie anderen Grundnahrungsmitteln das Denken der Franzosen bestimmte und den Schwarzmarkt florieren ließ20. Die Hoffnung vieler Franzosen, dass mit dem Ende der deutschen Besatzung und der damit einhergehenden Entnahmen aus der laufenden Produktion auch das Ende des Mangels gekommen sei, erwies sich als Illusion. Lebensmittelkarten gehörten bis 1949 zum Alltag der Franzosen, deren Unzufriedenheit sich nicht nur gegen die Politiker richtete, sondern auch gegen die Landwirte und Zwischenhändler, denen Wucher vorgeworfen wurde, so dass es immer wieder zu Plünderungen kam21. Trauer, Zerstörung und permanente Kaufkraft-, Nahrungsmittel-, Bekleidungs- und Brennmaterialnot ließen die Euphorie im Moment des Kriegsendes somit schnell Desillusion und moralischem Leid Platz machen. Nicht ohne Grund sprach der Schriftsteller und Journalist Joseph Kessel daher von einer „liberté sans joie“22.

„Genießt den Krieg, der Frieden wird furchtbar!“ Mit diesem Satz hatte die Flüsterpropaganda während der letzten Kriegsmonate die Deutschen auf das Elend der Nachkriegszeit vorbereitet. Angesichts von körperlicher Verelendung und Unterernährung sahen sich viele Deutsche in ihren Ängsten bestätigt23. Hatten die Deutschen im Durchschnitt 1940 und 1941 2445 Kalorien pro Tag und 1943 noch 2078 Kalorien zu sich genommen, brachten es die Menschen in München im Sommer 1945 nur auf 1300 Kalorien, in Stuttgart auf 1000, und die Kumpel im Ruhrgebiet mussten sich gar mit 700 bis 800 Kalorien begnügen. Neben regionalen Unterschieden lassen sich auch spürbare Differenzen zwischen den einzelnen Zonen feststellen. 1946 betrugen die amtlich festgesetzten Kalorienzahlen in der amerikanischen Zone 1330, in der sowjetischen 1083, in der britischen 1050 und in der französischen 900 Kalorien24. Nur 12 % der Kinder erreichten Ende 1945 das ihrem Alter entsprechende Normalgewicht, viele waren von Hungerödemen gezeichnet, insbesondere die Vertriebenenkinder25. Den Mangel versuchten die Deutschen über eine „Schattenwirtschaft“ auszugleichen, so dass Schwarzmarkt und Hamsterfahrten schnell zu den verbreiteten Erfahrungen der frühen Nachkriegsgesellschaft zählten. Dies umso mehr, weil die lebensnotwendige Versorgung durch die Zuteilungen aus Lebensmittelkarten nicht mehr gewährleistet wurde. Auch wenn sich die Versorgung mit Konsumgütern und Lebensmitteln in Westdeutschland nach der Währungsreform 1948 spürbar verbesserte, wurden die Rationierungen und damit auch die Lebensmittelkarten erst 1950, in der DDR erst 1958 abgeschafft. Mangel und Hunger waren in diesem Ausmaß in Deutschland ein Phänomen der Nachkriegszeit und hatten nicht bereits während des Krieges eingesetzt wie in Frankreich, das während der vierjährigen Besatzungszeit von den Deutschen ausgeplündert worden war, so dass es – wie die anderen von der Wehrmacht besetzten Länder auch – unfreiwillig einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Kriegsführung und zur Versorgung der deutschen „Heimatfront“ geleistet hatte, wie Tony Judt zutreffend konstatiert: „Die Nazis lebten, solange es ging, vom Reichtum ihrer Opfer – so dass die deutsche Zivilbevölkerung erst 1944 die Folgen der Versorgungsengpässe zu spüren bekam“26. Der 8. Mai 1945 war aus sozialgeschichtlicher Perspektive für die meisten Deutschen folglich keine einschneidende Zäsur. Viele empfanden die Nachkriegsjahre angesichts der physischen Realität der Zerstörung und der alltäglichen Not als „schlechte Zeit“, die erst mit der Währungsreform ihr Ende fand27.

WBG Deutsch-französische Geschichte Bd. X

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