Читать книгу In den Fängen der Stasi - Ellen G. Reinke - Страница 10

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7. Ein Kleinod im Grünen

Die Mutter von Heinz, eine sehr gut verdienende frei niedergelassene Zahnärztin, hatte ein Boot an einem der Berliner Seen liegen und hätte das zugehörige Grundstück käuflich erwerben können, um darauf einen Fertigteil-Bungalow aufzustellen. Für dessen Bestellung war jedoch eine Baugenehmigung erforderlich. Für eine solche Genehmigung musste man aber Grundstücksbesitzer sein. Das Land wiederum wollte sie nur kaufen, wenn sie dort ein Häuschen aufstellen dürfte. Ein DDR-typischer Circulus vitiosus!

Sie bat Jo um Hilfe und er wusste Rat. Ein ehemaliger Kommilitone von ihm war in der Staatlichen Bauaufsicht unseres Stadtbezirkes tätig. Dieser besorgte pro forma eine Aufstellgenehmigung für ein solches ca. 20 m² großes Häuschen in den Schrebergarten meiner Eltern mit einer Fläche von kaum mehr als 100 m². Also bestellten wir den Fertigteil-Bungalow auf unseren Namen.

Allerdings erfuhren wir wenige Wochen später von der Mutter von Heinz, dass die Bestellung solcher Häuschen infolge der Absatzschwierigkeiten in das NSW (Nicht Sozialistisches Wirtschaftsgebiet) nunmehr frei sei. Man brauchte keine Baugenehmigung mehr.

Wie also weiter? Wir berieten. Die Zahnärztin bestellte selbst auf ihren Namen und wir beließen es bei unserer Bestellung, denn bei einer Lieferzeit von mehreren Jahren würden wir dann auch in der Lage sein, uns ein Wochenendgrundstück zu leisten. Allerdings wurden aus der Lieferfrist von mehreren Jahren plötzlich nur noch mehrere Tage. Und ehe wir uns versahen, lagerten die Fertigteile zweier Bungalows im Garten der Mutter von Heinz. Was tun? Wir brauchten ein Grundstück und merkten erst jetzt, dass dies gar nicht so leicht war. Wir sprachen alle möglichen Leute, ich vor allem Patienten, an. Ziemlich aussichtslos! Doch eines Tages rief mich ein Patient an, er sitze gerade mit dem Förster zusammen und der habe möglicherweise etwas für uns.

Ein Hoffnungsschimmer? Also fuhren wir sofort los. Der Förster erzählte uns, dass ein Grundstücksbesitzer, den er gemahnt hatte, weil dieser sein Holzsoll von fünf Festmetern nicht abgegeben hatte, gesagt hätte: „Am liebsten würde ich verkaufen.“ Als wir an dem Grundstück ankamen, sah und wusste ich: das oder keins! 5000 m², Wald, Wiese, Felsen, ein Schiefer-Steinbruch, als Grenze ein Bächlein, kein Vis á Vis, keine Nachbarn und im Triebischtal genau zwischen zwei Dörfern, die einen Kilometer von einander entfernt waren, gelegen. Obwohl im Moment alles recht verwüstet und der Steinbruch teilweise zugeschüttet war, brauchte man nicht allzu viel Phantasie, sich vorzustellen, welche Idylle hier entstehen konnte. Ein echtes Kleinod!

Mit dem Besitzer waren wir uns schnell einig, der Preis akzeptabel. Guten Mutes beantragten wir eine Baugenehmigung, nicht ahnend, dass unsere Chancen gleich Null waren. Einzelstandort! Nur Komplexstandorte wurden genehmigt. Der Staat musste ja seine Schäfchen unter Kontrolle haben. Das Bauamt schien uns hold zu sein, denn man bot uns sogar Komplexstandort-Grundstücke an, die aber wollten wir nicht. Wir hatten kürzlich Bekannte in ihrem Wochenendhaus besucht. Sie besaßen einen komfortablen Bungalow auf einem 200 m² Grundstück, Komplexstandort. Zur Begrüßung wurde auf der Terrasse Sekt, den unsere Gastgeberin im Haus in Kaffeetassen gefüllt hatte, getrunken. Die Nachbarn sollten nicht sehen, was wir tranken. Die Unterhaltung war im Flüsterton erfolgt. Die Nachbarn brauchten nicht zu wissen, worüber man sprach.

Die Nachbarn, die Nachbarn…

Jeder verdächtigte den anderen, ihn zu bespitzeln und sei es nur aus Neid. Hätten wir so etwa unsere Wochenenden verbringen sollen? Nein Danke! Dann hätten wir ganz verzichtet.

Ich weiß nicht, wie es uns gelang, das Bauamt davon zu überzeugen, wenigstens eine Standort-Begehung durchzuführen, bevor es uns eine schriftliche Absage erteilen würde, aber die Begehung fand statt. Zu unserer Überraschung erschienen gleich drei Mitarbeiter der Behörde. Zwei von ihnen wären wohl zu Kompromissen bereit gewesen, aber der dritte, der Kreisarchitekt, ein junger Mann mit roten Haaren, verabschiedete sich von mir mit den Worten: „Hoffnungsloser Fall, junge Frau, ganz klarer Einzelstandort.“ Ich schaute ihm fest in die Augen und erwiderte: „Für mich gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Ich bin Ärztin und ich habe noch nie aufgegeben. Ich kämpfe nicht nur bis zum letzten Atemzug, sondern auch darüber hinaus. Selbst in diesem Falle werde ich kämpfen.“ Jo hatte das mit angehört und fragte mich, ob ich glaubte, dass dies etwas genützt hätte. Ich schüttelte den Kopf.

Am nächsten Tag rief mich ein Mitarbeiter des Bauamtes an. Es war glücklicherweise einer meiner Patienten. Ich erwartete eine Absage, doch ich traute meinen Ohren nicht, als er mir erklärte, dass wir gute Chancen hätten. Wo kam auf einmal der Sinneswandel her? Er erzählte mir, dass der Architekt auf der Heimfahrt plötzlich gesagt hätte: „Ich werde mich für die Frau einsetzen, die hat mir das Leben gerettet.“ Er war irgendwann einmal mit Magenbluten im Schock, also bewusstlos, ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als er wieder zu sich kam, war ich gerade um ihn bemüht und somit für ihn der rettende Engel gewesen. Aufgrund meiner Worte hatte er sich daran erinnert. Ich hingegen konnte mich nicht auf ihn besinnen. Jetzt schienen sich die Rollen vertauscht zu haben.

Und wirklich, nach langem Hin und Her hat man uns eine Ausnahmegenehmigung, die auf höherer Ebene beschlossen werden musste, erteilt. Wir waren stolze Besitzer einer Datscha, wie man im Volksmund die Wochenendgrundstücke nannte.

Mit sehr viel Fleiß und Mühe gelang es uns, dieses schöne Fleckchen Erde zu einem idyllischen Zufluchtsort zu machen, der seinesgleichen suchte.

Hinter dem Bungalow, den wir am Hang aufgestellt hatten, stand eine große alte Eiche. Und um sie herum hatten wir den Schiefersteinbruch frei geschachtet. Die alten verrotteten Obstbäume auf der Wiese waren entfernt und teilweise durch neue ersetzt worden. Den Mischwald, der etwa die Hälfte des Grundstücks betrug, hatten wir gesäubert und dabei einen kleinen Kletterfelsen frei gelegt.

All das war ein Traum für jeden Naturliebhaber. Hier verbrachten wir unsere Wochenenden, selten allein, oft mit gleich gesinnten guten Freunden. Unsere Lagerfeuer im Steinbruch waren beliebt und begehrt, aber den staatlichen Stellen wohl auch ein Dorn im Auge. Die Heimatlieder, die wir zur Gitarre bis in die frühen Morgenstunden am Lagerfeuer sangen, waren bestimmt keine kommunistischen Gesänge.

Es gab also für uns doch einen Ort, wo wir uns pudelwohl fühlen konnten.

Unsere Fluchtpläne hatten wir vorübergehend auf Eis gelegt, denn wir sahen keine Möglichkeit, das Land zu verlassen. Mit unserem Leben wollten wir nicht spielen. An der gesamten DDR-Grenze herrschte Schiessbefehl.

8. Gut und Böse dicht beieinander

1972 schien zunächst ein gutes Jahr für uns zu werden. Im Oktober war unsere Tochter Cornelia geboren worden. Wir nannten sie meist nur Conny. Kurz vorher hatten wir in eine Wohnung der AWG (Arbeiter Wohnungsbau Genossenschaft) umziehen können. Es war eine sehr gefragte Neubau Wohnung mit Zentralheizung. Die Warmmiete für unsere Dreizimmerwohnung betrug 57,89 Mark (Ost). Allerdings musste man ein paar Hundert Mark Einlagen zahlen und sowohl zur Aufnahme als auch jährlich so genannte Aufbaustunden ableisten, die nur in Sonderfällen mit Geld abgegolten werden konnten. Die Wohnung hatten wir von Jos älterem Bruder Werner übernehmen können. Er hatte eine in Dresden lebende Ungarin geheiratet und war nun mit ihr nach Ungarn ausgewandert. Um dem Zugriff der DDR- Behörden gänzlich zu entkommen, hat er später sogar die ungarische Staatsbürgerschaft angenommen. Dadurch konnte er ins westliche Ausland reisen.

Im Allgemeinen bin ich nicht futterneidisch. Aber als er uns Jahre später Fotos von der Hochzeit der ältesten Schwester Gerda in Washington D.C. oder sogar von Hawaii, wo die mittlere Schwester Hanna hingezogen war, zeigte, empfand ich nicht nur Neid!

Für uns hatte Werners Wohnsitz in Ungarn viel Positives. Dadurch konnten wir uns wenigstens ab und zu auch mal einen Auslandsurlaub leisten, denn der Umtausch von DDR-Mark war staatlich reguliert. Man durfte pro Tag 30 Mark wechseln. Davon hätte man jedoch entweder nur Unterkunft oder aber Verpflegung bezahlen können.

Gegen Ende des Jahres wurde meine Schwiegermutter schwer krank und die Prognose war sehr ernst. Gerda wollte ihre Mutter zu Lebzeiten noch einmal sehen. Sie beantragte die Einreise in die DDR und gab wahrheitsgetreu an, dass sie in Washington in der Botschaft der BRD arbeite. Wir gingen davon aus, dass die Stasi dies alles - und noch mehr - bereits wusste, aber...

Mein Mann, der ja Fernstudent war, befand sich im November für eine Woche an der Bergakademie Freiberg.

In dieser Zeit schreckte mich eines Nachts das Läuten der Türklingel aus dem Schlaf. Obwohl ich es als Ärztin gewohnt war, nachts gerufen zu werden, spürte ich mein Herz bis zum Hals schlagen. Ich hatte ja keinen Dienst und es war auch nicht das Telefon, das mich geweckt hatte. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich zwei mir unbekannte Männer und schlussfolgerte blitzschnell, dass etwas Schlimmes passiert sein müsse. Da die beiden mich sprechen wollten, ging ich zur Haustür, und sie zeigten mir durch das Türglas hindurch ihre Ausweise.

Stasi! Oh mein Gott! Mein Herz raste noch mehr. Der Pulsschlag dröhnte mir in den Ohren. Verunglückt war also niemand. Hoffentlich hatten sie Jo nicht verhaftet. Er war doch immer so vorsichtig gewesen, eigentlich viel vorsichtiger als ich. Ich ließ die ungebetenen Gäste in die Wohnung und sie erkundigten sich, wo Jo sei, sie müssten ihn sprechen. Eine Erklärung, warum sie ihn sprechen wollten und wieso sie mich mitten in der Nacht herausklingelten, hatten sie nicht nötig.

Als sie weg waren, zitterte ich wie Espenlaub und war wie gelähmt. Ich wusste weder einen Grund dafür, warum die beiden mich mitten in der Nacht so in Angst und Schrecken versetzt hatten, noch was ich hätte tun können. In meiner Ratlosigkeit rief ich Wolfgang, einen guten Freund, an, ob ich ihn sprechen könne. Als Wolfi, wie wir ihn kurz nannten, kam, wollte ich mich entschuldigen. Doch er fiel mir ins Wort, er wisse, dass ich ihn nicht zum Spaß nachts anrufe und fragte mich, wie er mir helfen könne. Oft habe ich später in der BRD noch an diese Episode gedacht, wenn mich jemand fragte: „Weißt du wie spät es ist?“, selbst wenn es meiner Meinung nach nicht zur Unzeit war, dass ich ihn angerufen hatte. Das hier war ein echter Freund! Ich schilderte Wolfi den Vorfall und er meinte, ich könne gar nichts machen. Falls die Stasileute unverzüglich ins Internat gefahren seien, wären sie eh vor uns dort gewesen. Schlafen konnte ich nicht mehr und ich weiß auch nicht, wie ich den nächsten Tag hinter mich gebracht habe. Aber als abends Jo ausnahmsweise kurz nach Hause kam, brach ich in Tränen aus. Er hatte also nichts Verbotenes getan und war frei.

Fast atemlos lauschte ich seinem Bericht: Die Stasileute hatten ihn am Morgen aus einer Vorlesung zur Vorbereitung für eine wichtige Klausur herausgeholt und ihn stundenlang bearbeitet. Man hatte durchblicken lassen, dass Jos gesamte Familie bereits seit der Republikflucht von Gerda und Hanna 1958 unter Beobachtung gestanden habe. Außerdem hatten sie Jo und dessen Schwestern geheimdienstliche Aktivitäten für fremde Mächte, die eine Inhaftierung rechtfertigten, unterstellt. Die Krankheit der Mutter sei nur ein Vorwand für Gerdas Besuch aus den USA. Man würde aber von einer Strafverfolgung wegen Spionage absehen, wenn Jo dabei behilflich wäre, einen Kontakt zu Gerda herzustellen, um sie für Kundschafterdienste zu gewinnen. Sinnigerweise nannte man die Spione für die DDR „Kundschafter des Friedens“.

Der Schock saß tief. Was war passiert? Wieso konnte Jo in das Visier der Geheimdienste geraten? Fragen über Fragen. War es gar nicht die Abteilung Abwehr der Stasi, die unsere Familie in die Mangel nahm? Wollte man Jo etwa erpressen? Das MfS (Ministerium für Staatssicherheit) wusste sicher genauso gut wie wir, dass diese ungeheuerlichen Vorwürfe nicht der Wahrheit entsprachen. Auf jeden Fall hatte man es geschafft, uns zu verängstigen. „Eine intelligentere Lösung, als dich einzuschüchtern, konnten sie wohl nicht finden?“ Trotz des Schreckens, den sie mir nachts eingejagt hatten, begriff ich offensichtlich den Ernst der Lage nicht. Jo sah mich an und ich wusste, dass ihn die ganze Geschichte unendlich belastete. „Es dürfte für die Stasi ein Leichtes sein, uns etwas unterzujubeln“, sagte er resignierend.

Oh mein Gott! Eiskalt lief es mir den Rücken herunter. Ich spürte förmlich, wie sich die Härchen meiner Haut aufzustellen begannen, noch bevor die Gänsehaut zu sehen war. Würde Jo dem Druck standhalten?

Wir überlegten hin und her und dann stand für uns fest, dass diese Erpressungstaktik nur von der Abteilung Aufklärung stammen konnte. Man wollte an Gerda heran.

Damals wussten wir natürlich noch nicht, dass die Spionagestrategie des Strippenziehers, auch „der Mann ohne Gesicht“ genannt, darauf gerichtet war, in die Führungszentren insbesondere der bundesdeutschen Gesellschaft und Politik einzudringen. Die Agenten von Markus Wolf schafften es bekanntlich bis in die einflussreichsten Stellungen, selbst bis zum Referenten des Bundeskanzlers. Aber Guillaume war zu diesem Zeitpunkt noch nicht enttarnt.

Wir konnten beide natürlich nicht einschätzen, was sich daraus entwickeln würde. Doch ich war zunächst heilfroh, dass Jo frei war.

Die nächsten Wochen waren schrecklich. Aller paar Tage berichtete mir Jo, dass die Stasi ihn wieder von der Arbeitsstelle weggeholt hätte. Er war inzwischen in einem Wissenschaftlich Technischen Zentrum für Baumechanisierung Abteilungsleiter. Die Gespräche hatten manchmal in einem Auto, meist aber in einer konspirativen Wohnung stattgefunden. Das Ziel war unschwer zu erkennen. Sie wollten um jeden Preis an meine Schwägerin aus Washington heran. Jo sollte detaillierte Angaben machen über deren Einreise und Aufenthaltsdauer, Interessen hinterfragen, zum Beispiel welche Veranstaltungen sie gern besuchen würde und was für Kontakte noch zu früheren Freunden und Bekannten bestünden bzw. vorgesehen wären. Er gab Unwissenheit vor und wurde angewiesen, dies in Briefen zu erfragen. Da wir damals schon guten Grund zur Annahme hatten, dass sämtliche Post kontrolliert werde, tat er es auch.

Je näher der Tag der Einreise heranrückte, desto aggressiver und länger wurden die Gespräche, die nun nur noch in konspirativen Wohnungen stattfanden. Man bot Eintrittskarten für gefragte Veranstaltungen, die wir offiziell so kurzfristig nicht hätten erhalten können, und auch Geld an. Es war sogar zu kleinen Handgreiflichkeiten gekommen, da Jo sich das Geld nicht hatte zustecken lassen. Als er jedoch merkte, wie ernst diese Angelegenheit der Stasi war, wollte er Gerdas Besuch stornieren. Jetzt drohten die Beauftragten des MfS erneut mit einer Inhaftierung, falls er die Einreise seiner Schwester verhindere. Man brauche nur den Verdacht der Spionagetätigkeit der Familie wieder aufzurollen.

Eine Woche vor Gerdas Einreise wurde Jo von den Festlegungen der Stasi unterrichtet: Die Einreise hatte über den Checkpoint-Charlie, den Ausländerübergang, zu erfolgen. Jo sollte Gerda mit dem PKW dort abholen und einen Stopp an der Autobahnraststätte Freienhufen einlegen. Selbst die Mitnahme der kranken Mutter nach Berlin konnte die Beobachtungen nicht verhindern. Wir wussten nicht einmal, ob man im Auto eine Wanze installiert hatte. So sagte Jo seiner Schwester bei der ersten Umarmung nur kurz, dass die Stasi alles beobachte und mithöre.

Das Weihnachtsfest 1972 war keins, an das wir uns gerne zurückerinnern. Gerda hatte sich wohl gewundert, dass sie als Deutsche über den Ausländerübergang einreisen sollte, aber sie kam ja aus den USA. Jedoch als man ihr auch den Zwangsumtausch erlassen wollte, hatte sie darauf bestanden, zu bezahlen. Daraus schöpften die Behörden Verdacht, dass Jo sie unterrichtet haben müsse, was er ja in Wirklichkeit auch getan hatte.

Der Besuch spielte sich fast nur im Familienkreis ab, denn wo wir uns mit Gerda auch aufhielten, wir konnten die Stasileute quasi riechen. Zu Hause sprach Jo kaum über die ständigen Rückfragen der Stasi zu geplanten Tagesabläufen und wenn, dann stellte er das Radio lauter. Keiner war sich sicher, ob die Wände nicht doch Ohren hatten. Gab es entscheidende Probleme zu besprechen, so gingen Jo und Gerda immer „frische Luft schnappen“. An den Elbwiesen hielt sich im Winter kaum jemand auf, da hätte man sehen können, wenn man belauscht würde. Oft wurden die angeblich geplanten Tagesabläufe von uns absichtlich kurzfristig geändert und Jo handelte sich Vorwürfe ein. Doch er konnte sich da gut herausreden, die Schwester sei volljährig und entscheide selbst, was sie tun und besser lassen wolle. Sie hätte ja auch über seine Berichterstattung nichts wissen dürfen. Einmal jedoch waren wir mit Gerda, der jüngsten Schwester Uschi und einem befreundeten Ehepaar, welches informiert war, in der Mazurka Bar, unserer Stamm-Bar auf der Prager Straße, tanzen. Wir kannten den Restaurantleiter gut und er hatte immer ein paar Plätze für uns. Als er uns begrüßte, sagte er nur kurz, dass DIE, damit war die Stasi gemeint, heute mit einer auffällig großen Mannschaft angerückt seien. Jo und unserer Freund schirmten Gerda so gut ab, dass sie schon immer zum Tanzen unterwegs war, wenn ein Herr sie auffordern wollte. Wir drei anderen Frauen tanzten des Öfteren mit einem der durchweg gut aussehenden netten Herren, die an diesem Abend zahlreich solo anwesend waren. Üblicherweise war hier eher Pärchenbetrieb. Gerda hatte ein kleines Plastikmännchen mitgebracht. Es war ein runder Kopf mit einer Indianerfeder, der durch eine Sprungfeder verbunden in einer Halbkugel mit Beinen steckte. Wenn man den Kopf oben antippte, bewegte er sich hoch und runter. Dabei gab es Laute von sich, als ob es lache, ein „Lachemännchen“ also. Wir tanzten um das Männlein herum und es begleitete uns auch an die Bar. Alle hatten eine Mordsstimmung und es war insgesamt ein wunderschöner Abend. Eigentlich hätten wir ganz froh über den Ausgang des Abends sein können, denn es war den Stasileuten nicht gelungen, an Gerda heranzukommen.

Aber… Es war uns nicht nur entgangen, dass das Lachemännchen verschwunden war, sondern auch, dass Uschi mehrere Tänze mit ein und demselben Herrn getanzt und ihm ihre Telefonnummer mitgeteilt hatte. Dieser Herr hatte dann am nächsten Tag unter dem Vorwand, das Lachemännlein zurückgeben zu wollen, ein Rendezvous mit Uschi vereinbart. Er hatte wohl auch die Figur wieder mitgebracht, aber sie hatte leider ihre Funktion verloren. Was wohl die Stasi in ihm vermutet hatte? Auf jeden Fall war es den „Fachleuten“ nicht gelungen, das Männlein wieder in den ursprünglichen Zustand zu versetzen. Als wir etwas von der Geschichte mitbekamen, war es schon zu spät. Uschi hatte sich bereits mehrmals mit dem Typen getroffen und sich unsterblich in ihn verliebt. Man sagt nicht umsonst, dass Liebe blind mache. Sie weigerte sich, ihn aufzugeben. Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Normalerweise hätte auch sie erkennen können, dass er bereits begonnen hatte, Fragen zu stellen, auf die ein echter Liebhaber niemals käme. Typisch für die Stasihelden, sich immer an das schwächste Glied heranzumachen.

Jo sprach ein Machtwort. Ob sie uns alle vernichten wolle! Es gab Krach in der Familie.

Gerda konnte sich mit der Situation nicht abfinden. Sie sei ein freier Mensch. So zog sie es vor, baldmöglichst abzureisen. Der Zweck ihrer Reise, ihre todkranke Mutter noch einmal zu sehen, war erfüllt. Bei einer Nacht- und Nebelaktion brachte Jo sie in den ersten Januartagen wieder nach Berlin. Der Zwangsumtausch für die restlichen zehn Tage war verfallen.

Dass dies jedoch nicht der einzige Verlust für Gerda war, erfuhren wir erst viel später. Bereits vor der Reise war sie von den zuständigen Stellen in der Botschaft belehrt und auf mögliche Verwicklungen und die damit verbundenen nervlichen Belastungen hingewiesen worden. Außerdem hatte man ihr klar gemacht, dass sie, falls sie reise, ihre fachlich interessante Tätigkeit nicht beibehalten dürfe. Die Familienbande waren jedoch stärker als ihr Ehrgeiz und so war sie in eine andere Abteilung versetzt worden.

Da wir zunächst Ruhe hatten, hofften wir, dass der Spuk für uns beendet wäre. Aber weit gefehlt! Im März wurde Jo erneut von der Stasi vorgeladen und nun warf man ihm vor, dass die gestellten Ziele der Aktion durch sein Versagen hatten nicht erreicht werden können. Es wurde behauptet, er habe die Schweigepflicht, die ihm auferlegt worden war, verletzt und Vertraulichkeiten weitergegeben, die zur vorzeitigen Abreise seiner Schwester geführt hätten. Somit habe er verhindert, dass eine Verbindung zu Gerda hergestellt und eine „Kundschafterlinie“ aufgebaut werden konnte. Jo erklärte, dass er weder sich noch seine Schwester für Spionagedienste missbrauchen lassen würde, lieber gehe er wieder als Maurer arbeiten. Daraufhin erwiderte man ihm: „Wo Sie in Zukunft arbeiten werden und wie es mit Ihnen weiter geht, das bestimmen WIR.“ Er musste unterschreiben, dass er sich verpflichte, zehn Jahre über die Angelegenheit zu schweigen. Bei Nichteinhaltung der Schweigepflicht habe er mit Exmatrikulation, Verlust des Arbeitsplatzes und sogar Inhaftierung zu rechnen.

Uns war inzwischen klar geworden, dass unsere Familienkonstellation mit dem Bruder in Ungarn, der offiziell zu seinen Verwandten sowohl in der DDR als auch in den USA reisen konnte, ideal für eine Spionagelinie gewesen wäre.

Obwohl wir danach nichts vom MfS hörten, folgten für uns schreckliche Wochen und Monate. Wir rechneten täglich mit neuen Schikanen der Stasi.

Ich musste mich auf meine Facharztprüfung vorbereiten und meine Schwiegermutter lag im Sterben. Verständlicherweise traute sich nach diesen Ereignissen keine der Schwestern aus Amerika, die DDR zur Beerdigung der Mutter zu betreten.

Unsere Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Fast wäre unsere Ehe gescheitert. Aber irgendwie haben wir die Kraft aufgebracht, das alles zu kompensieren.

Allerdings hatten wir nur einen Gedanken: Ja keine Fehler machen und nicht auffallen. Wir rechneten mit einer ständigen Überwachung, aber die Stasi schien uns vergessen zu haben.

In den Fängen der Stasi

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