Читать книгу In den Fängen der Stasi - Ellen G. Reinke - Страница 4

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1. Medizinerfasching

Februar 1967, ein Tag wie jeder andere, oder doch nicht?

Noch ahnte ich nicht, dass an diesem Tag eine Wende in meinem Leben eingeleitet werden sollte. Es war Medizinerfasching im Parkhotel Weißer Hirsch in Dresden.

Bisher hatte ich keinen Faschingsball auslassen können. Und so war ich auch in diesem Jahr längst im Besitz einer der nicht nur bei Medizinern sehr begehrten Eintrittskarten. Längst hatte es sich in ganz Dresden herumgesprochen, dass beim Medizinerfasching so richtig die Post abgeht. Aber ich hatte absolut keine Lust, hinzugehen. Ich versuchte, vormittags im Hörsaal und mittags in der Mensa, die Karte loszuwerden. Doch es war wie verhext. Keiner wollte sie, zu kurzfristig. Noch vor ein paar Tagen hätte man sie mir aus den Händen gerissen.

Zu Hause relaxte ich etwas und überlegte: Gehe ich hin oder gehe ich nicht. Ich hatte kürzlich eine Beziehung abgebrochen, war ungebunden, beste Voraussetzungen, sich zum Fasching richtig amüsieren zu können. Warum also nicht? Nein, eigentlich war mir gar nicht danach. Aber es tut doch gut, sich mal richtig austoben zu können. Hatte ich mich nicht schon genügend ausgetobt? Spaß kann man nie genug haben. Man kann aber auch vernünftig sein.

Was also tun?

Ich ging meinen Gedanken nach: Mein Leben war bisher ziemlich normal verlaufen. Den Bombenangriff auf Dresden habe ich als Zweijährige nicht bewusst erlebt. Und dass wir zunächst zu fünft in der Zweizimmerwohnung meiner Oma hausten, hatte ich nur noch in dunkler Erinnerung. Die Gründung der DDR fiel mit meiner Einschulung 1949 zusammen. Als ich 1950 meine Tante in der Bundesrepublik besuchte, beneidete ich zwar die Menschen, denen es wesentlich besser als uns ging, aber ich nahm es als gegeben hin. Den 17. Juni 1953, jenen denkwürdigen Tag der Zerschlagung des Volksaufstandes, habe ich wohl bewusst erlebt und als ungerecht empfunden, aber man hatte mich schon Schweigen gelehrt. Ich wollte weder meine Eltern noch meine Zukunft gefährden. Natürlich bin ich auch Junger Pionier gewesen. Wer wäre denn ohne Halstuch zur Oberschule, so hieß in der DDR das Gymnasium, zugelassen worden. Schon meine Konfirmation 1957 war ein Hinweis für keine rechte Linientreue. Dennoch hatte ich das Glück, die relativ konservative Kreuzschule in Dresden besuchen zu dürfen, an der auch die Chorknaben des weltberühmten Dresdener Kreuzchors unterrichtet wurden. Zwei Monate vor dem Mauerbau bestand ich das Abitur, die Reifeprüfung, und war inzwischen reif genug, um abwägen zu können. Wie alle meiner Mitschüler wollte ich weiterkommen. So war ich auch egoistisch genug, kein Märtyrer sein zu wollen. Als am 13. August 1961 der „Antifaschistische Schutzwall“, so nannte man die Mauer offiziell, errichtet wurde, brach in vielen Menschen die Hoffnung zusammen, ihr Leben irgendwann in Freiheit fortsetzen zu können. Ich war eine von den Vielen. Hier in der DDR waren wohl die Gedanken frei, aber man lebte in ständiger Angst, sie doch einmal ungewollt oder aber dem Falschen zu äußern. Und das konnte leicht geschehen. Viele Stasileute gaben sich als Andersdenkende aus und schimpften über den Staat, nur um ihr Gegenüber auszuhorchen. Die Partei musste sich doch ein Bild über die Volksmeinung schaffen. Natürlich trug ich wie die anderen das Blauhemd. Wie hätte man eine Zulassung zum Studium erhalten können, wenn man nicht in der FDJ gewesen wäre. Ich wollte auf jeden Fall studieren. Nach einem Praktischen Jahr im Krankenhaus begann ich mit dem Vorklinischen Studium an der Humboldt Universität in Berlin. Unser Anatomieprofessor wohnte in Westberlin und hatte sein Lehrbuch dort auch verlegt. Wer aber die Anatomieprüfung bestehen wollte, musste nach dem „Waldeyer“, wie der Name des Professors und des Buches lautete, lernen. In der Bibliothek gab es wohl zehn Exemplare dieses Lehrbuches, aber wir waren 625 Studenten! Wie mögen ca. 600 Studenten an einen „Waldeyer“ gekommen sein? Vor dem 13. August 1961, dem unvergesslichen Tag des Mauerbaus, hatten die Studenten nach Westberlin fahren und Blut spenden oder sich mit Nachtwachen im Krankenhaus die erforderlichen D-Mark für das Lehrbuch verdienen können. Aber jetzt? Offiziell besaß ja niemand Westverwandtschaft. Und falls es bekannt geworden ist, hatte er angeblich die Beziehungen abgebrochen. Für seine Verwandtschaft kann ja bekanntlich keiner etwas.

Wer sich bei staatlichen Stellen beklagte, dass an einer Universität der DDR nach Lehrbüchern gelehrt wurde, die in diesem Staat nicht käuflich waren, erhielt zur Antwort, dass auch in der DDR Anatomiebücher verlegt würden. Dieser oder jener wagte wohl auch, andere Lehrbücher zu benutzen, aber das ging nicht gut aus. Ich habe selbst mit eigenen Augen gesehen, dass der allmächtige Herr Professor einem Studenten ein DDR-Anatomiebuch, den „Voss-Herlinger“, weggenommen und zerrissen hat. Ein Unding? Natürlich! Sich beschweren? Wäre möglich gewesen, aber nur wenn man sein Anatomiestudium hätte an einer anderen Universität fortsetzen wollen. Manchmal lässt man die Dinge besser wie sie sind.

Man musste schweigen, auch über die Schreckensnachrichten von den Todesschüssen an der Mauer in unserer unmittelbaren Nähe. Damals waren es meist nur Stacheldrahtzäune. Aber auch wenn man schwieg, solche Untaten können niemals vergeben und erst recht nicht vergessen werden. Meine Freundin und ich lernten einmal beim Tanzen zwei nette Jungs, die wir aufgrund ihres Dialekts sofort als Landsleute identifizieren konnten, kennen. Wir vermuteten, dass sie Grenzsoldaten seien und ließen sie natürlich unsere Zurückhaltung spüren. Auf unsere Frage hin, ob sie auch auf Menschen schießen würden, erwiderten sie, was wir meinten, welche Wahl sie wohl hätten. Auch später haben wir noch oft an die armen Jungs und deren Gewissenskonflikte gedacht. Die wahren Täter waren doch diejenigen, die den Schießbefehl gaben, nicht die, die ihn ausführten. Mörder!

Eine Erinnerung an ein weiteres Ereignis zeigt, wie marode das System war: Wir mussten jedes Jahr zu Beginn des Herbstsemesters zum Ernteeinsatz nach Mecklenburg fahren. Einmal waren wir in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft), die einen Vorsitzenden hatte, der uns alle wie ein General herumkommandierte. Natürlich mochte ihn niemand. Am letzten Tag haben wir einen Schlafanzug mit Stroh ausgestopft und ihn in fröhlicher Runde im Lagerfeuer verbrannt. Selbst den dicken Bauch des LPG-Vorsitzenden hatte die Strohfigur. Einen Namen hat keiner genannt. Als wir dann wieder in Berlin waren, durften wir den Hörsaal nicht betreten. Jeder aus der Seminargruppe musste einzeln zum Verhör. Die Stasi war da und man unterstellte uns, wir hätten den Staatsratsvorsitzenden verbrannt. Wie schlimm musste das schlechte Gewissen sein, wenn man überall Gegner vermutete.

Allerdings hatte die Mauer auch etwas Positives für uns Studenten. Da die Westberliner nicht mehr ohne weiteres in den Ostsektor reisen konnten, waren die Theater halb leer. Für ein paar Pfennige gab es „Studentenkarten“, das waren verbilligte Eintrittskarten für Studenten, in fast allen Theatern. Und wir haben das ausgiebig genutzt. Wie gern erinnerte ich mich an die zahlreichen Theater- und Opernbesuche. Eigentlich liegt mir klassische Musik mehr als Tanzmusik, wie zum Beispiel beim Faschingsball.

Ach du meine Güte! Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Die Zeit war fortgeschritten. Es war schon dunkel und ich hatte noch immer keine Entscheidung gefällt, ob ich zum Faschingsball gehe oder nicht. Ich war nicht mehr in Berlin, sondern hier in Dresden. Das Physikum in der Tasche, steckte ich mitten im klinischen Studium. Das Geld war knapp und eine Eintrittskarte für den Medizinerfasching nicht gerade billig. Also konnte man sie nicht verfallen lassen.

Im Parkhotel war eine Mordsstimmung.

Obwohl ich zusammen mit meinen Kommilitonen an einem Tisch einen Sitzplatz hatte, kam ich nicht zum Sitzen. Von Saal zu Saal ziehend, machte ich meinem Kostüm nicht gerade Ehre, denn ich hatte mich als „Mauerblümchen“ angezogen. Damals gab es noch keine Leggins. Blickdichte schwarze Strumpfhosen erfüllten den gleichen Zweck. Darüber trug ich einen losen roten Kittel, den ich selbst genäht und mit weißer Farbe darauf die Fugen der Mauersteine sowie Strichmännlein, „Fritz ist doof“ und Ähnliches gemalt hatte. Dazu hatte ich eine alberne Schleife im Haar. Mit künstlichen Sommersprossen im Gesicht wollte ich auch entsprechend doof aussehen. Allerdings schien das zum Fasching niemanden abzuschrecken. Laufend wurde ich zum Tanzen aufgefordert. Langsam wurde ich durstig, aber es hätte eine längere Wartezeit bedeutet, ein Bier zu bekommen. Sooft ich eins bestellt hatte, tanzte ich schon wieder, bevor die Kellnerin mit dem ersehnten Bräu kam. Doch der Durst wurde immer größer und so wartete ich irgendwann auch geduldig, Körbe verteilend, an meinem Tisch auf das bestellte Bier. „Wenn ich Ihnen ein Bier besorge, tanzen Sie dann mit mir?“, fragte mich ein Typ und ich nickte. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte, aber im Handumdrehen war er mit einem halben Liter Bier wieder da und genau so schnell hatte ich es ausgetrunken. Bei so prompter Löscharbeit war die Dankbarkeit natürlich groß und ich tanzte nicht nur einen Tanz mit Johannes. Ich nannte ihn kurz Jo. So zog ich wieder von Saal zu Saal, allerdings mit ihm. Nach einiger Zeit meinte ich, das Bier „abgetanzt“ zu haben und verabschiedete mich, um für „kleine Mädchen“ zu gehen, ich müsse das Bier loswerden. Eigentlich meinte ich damit Jo, denn es war nicht gerade der Sinn des Faschings, den ganzen Abend mit dem gleichen Partner zu tanzen. Dank eines Plausches im Vorraum jenes Örtchens hielt ich mich da auch etwas länger auf als gewöhnlich. Jedoch als ich die Toilette verließ, stand dort, natürlich rein zufällig, Jo und lud mich an die Bar ein. Wer hätte da widerstehen können, zumal ich ja schon wieder Durst hatte. Ich wurde ihn nicht los. Auch seinen Freund Felix lernte ich kennen. Er war mir nicht sonderlich sympathisch. Aber er war mit dem Auto da und bot mir an, mich mit seinem Wagen nach Hause zu bringen. Nun wollte ich Jo auch nicht mehr loswerden. Heute klingt das makaber, aber 1967 in der DDR war ein fahrbarer Untersatz, zumindest in Studentenkreisen, eine ausgesprochene Rarität. So konnte mir das Frieren an der Straßenbahnhaltestelle erspart bleiben. Taxis waren nicht nur rar, sondern für Studenten auch unerschwinglich. Also vereinbarte ich, wiederum aus Dankbarkeit, für den nächsten Tag ein Rendezvous mit Jo. Ich müsste ja nicht hingehen.

Doch die Freude über den luxuriösen Heimweg hielt nicht lange an. Zu Hause stellte ich mit Schrecken fest, dass mein kleines Handtäschchen fehlte. Ich hatte es in die große Tasche mit den dicken Klamotten, die ich ja im Auto nicht hatte überziehen müssen, gesteckt. Es musste beim Gedränge an der Garderobe rausgerutscht sein.

Gleich am nächsten Morgen rief ich im Hotel an, keine Spur von meiner Tasche. Für mich wäre der Verlust des Personalausweises und des Studentenausweises, abgesehen von den paar Mark Inhalt der Geldbörse, ziemlich schmerzlich gewesen. So hoffte ich inbrünstig, dass mein Täschchen im Auto raus gefallen und von Felix gefunden worden wäre. Da ich von Jo weder Adresse noch Telefonnummer hatte, blieb das Rendezvous meine einzige Hoffnung. Ich musste hingehen.

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