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3. System und Geschichte

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H: Herr Kollege Biser, die traditionelle Theologie des Abendlandes zeichnet sich durch eine saubere, durchkonstruierte Systematik aus. Nun hat aber jede Systematik innere Konsequenzen, und dazu gehört eine gewisse Zwanghaftigkeit: Im System kann ein Mensch nicht er selbst sein. Und ich denke, dass auch in dieser Hinsicht die alte Theologie zu manchen Ergebnissen geführt hat, die heute dringend der Neuauslegung bedürfen.

B: Ja, Herr Heinzmann, Ihre Bemerkung erinnert mich an einen Buchtitel: „Dogma als Zwangsidee“. Da kommt ja genau das zum Ausdruck, und das bringt mich auf die Idee, die Neue Theologie noch unter einem ganz anderen Gesichtspunkt darzustellen. Die alte Theologie, der wir ja keine Vorwürfe machen, sondern die wir zu verstehen suchen, um die Notwendigkeit einer Alternative herauszustellen, stand im Bann einer Denkweise, die durchaus mit dem zu tun hat, was dieser Titel „Dogma als Zwangsidee“ zum Ausdruck bringt. Derjenige, der hier eine verhängnisvolle Weichenstellung herbeigeführt hat, war einer der größten Denker der Christenheit: Augustinus. Augustinus war zwar der Meinung, dass man die Besseren – wie er sich ausgedrückt hat – durch Überzeugung zum Christentum führen könne, doch die meisten würden durch Angst und Nötigung zum Christentum gebracht. In diesem Zusammenhang ist ihm eine zusätzliche Fehlleistung unterlaufen. Entgegen dem alten Grundsatz, dass aus Bildaussagen keine Direktiven abgeleitet werden können, hat er der Aufforderung des Herrn im Gleichnis vom großen Gastmahl, „compelle intrare – nötige sie, einzutreten“, die Rechtfertigung der Gewalt gegenüber Dissidenten und Abtrünnigen entnommen. Das haben sich die nachfolgenden Generationen nicht zweimal sagen lassen; es kam zu Ketzerverfolgungen, es kam zu den Albigenserkriegen, es kam zur Inquisition. Solange aber auf diese Weise Gewalt geübt oder auch nur billigend hingenommen wurde, war eine Art Schleier über das Evangelium gezogen, denn Gewalt ist das diametral entgegengesetzte Prinzip zu dem, was Jesus gewollt und getan hat.

Vielleicht muss ich nochmals kurz auf die Lebenssituation Jesu zurückblenden: Jesus stand vor einer äußerst schwierigen politischen Situation. Die Mehrheit seines Volkes wollte aufgrund der schrecklichen Behandlung durch die Römer den Befreiungskrieg gegen Rom; Jesus aber wusste: Wenn dieser Krieg stattfindet, wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Deswegen wollte er unter allen Umständen das Volk vor dieser Katastrophe bewahren. Er konnte es nur, indem er das Prinzip der absoluten Gewaltlosigkeit proklamierte und den Menschen nahezubringen suchte. Er ist daran gescheitert.

H: Darf ich noch ein kleines, korrigierendes Wort zu Augustinus hinzufügen: Augustinus hat lange gelebt und hat viele Stadien auf seinem Lebensweg durchlaufen. Die Position, die Sie angesprochen haben, betrifft den späten Augustinus. Der frühe und der mittlere Augustinus hatte anderes zu sagen als der späte, der maßgeblich wurde für die künftige Geschichte der Kirche. In seinem Spätwerk sind meiner Meinung nach zwei zentrale christliche Elemente verlorengegangen. Das ist einmal die Würde der Person – dass Glaube immer ein Akt personaler Freiheit sein muss – und zum anderen, dass das Heil Gottes unverfügbar ist, dass es nicht identifiziert werden darf mit der geschichtlichen Größe der Kirche.

B: Das war eine sehr wichtige Korrektur, denn selbstverständlich sollte durch das, was ich gesagt habe, die Größe Augustins nicht geschmälert werden. Er hat die „Bekenntnisse“ geschrieben, das erste ganz große autobiographische Buch, das überhaupt nur in der Tradition der Sprachleistungen Jesu und des Apostels Paulus zustande kommen konnte. In diesen Bekenntnissen stehen Worte von einer wahrhaft überwältigenden Schönheit, angefangen vom Ausgangssatz „Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe gefunden hat in Dir“ bis hin zu dem Ausruf „Spät habe ich dich geliebt, du ewig alte und ewig neue Schönheit, spät habe ich dich geliebt!“ – wie gesagt, Augustinus soll in seiner Größe nicht geschmälert werden. Aber es gehört zur Tragik seiner Lebensgeschichte, dass er von diesen Einsichten abgerückt ist und unter dem Eindruck einer Lebenskrise, über die wir keine näheren Auskünfte haben, diese verhängnisvolle Weichenstellung für die spätere Kirchengeschichte verursachte. Dem setze ich nun die These entgegen, dass der durch die Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen über das Evangelium gelegte Schleier endlich entfernt und der Blick auf seine Mitte dadurch freigegeben werden muss. Grundsätzlich geschah das durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), das sich, wegweisend für die ganze Menschheit, zu der Erkenntnis erhob, dass Konflikte politischer, sozialer und religiöser Art niemals mehr mit den Instrumentarien der Gewalt, sondern nur noch auf dem Weg des Dialogs ausgetragen werden können. Darin besteht zweifellos eine der größten Leistungen der Kirchengeschichte, denn damit hat sich die Kirche grundsätzlich von der Gewalttradition verabschiedet. Dadurch fiel der verdunkelnde Schleier vom Evangelium ab und dadurch entstand die Chance, zur Mitte des Evangeliums vorzudringen und seines Zentrums ansichtig zu werden. Darum bemüht sich die Neue Theologie.

H: Und dieser Kernansatz führt natürlich in vielfältigen Brechungen durch das ganze Gelände der Theologie. Wo sehen Sie den wichtigsten Punkt, den Sie dabei angehen wollen?

B: Der allerwichtigste Punkt ist die Neuentdeckung Jesu. Das ist für mich die eigentliche Mitte des Christentums. Es muss uns doch einmal klar werden, dass jede Religion ihr Existenzrecht einzig und allein von ihrer eigenen und spezifischen Schau des Gottesgeheimnisses herleitet. Das ist der Grund, um dessentwillen Religion überhaupt möglich ist, und das ist dann auch das Recht und das Privileg jeder einzelnen Religion.

Nun stellt sich die Frage: Worin besteht das Proprium, also die spezifische Gottessicht des Christentums? Ist es derselbe Gott, wie ihn der Buddhismus wenigstens in Frage stellt, wie ihn Judentum und Islam meinen, oder ist es ein neuer Gott? Ich muss allerdings diese meine Bemerkung sofort vor einem Missverständnis schützen: Selbstverständlich gibt es nur einen einzigen Gott, und selbstverständlich verehren im Grunde alle Religionen diesen Gott, aber es macht nach meiner Überzeugung einen elementaren Unterschied, wie dieser Gott gesehen wird, ob er so gesehen wird wie in allen anderen Weltreligionen. Dort ist Gott stets ein ambivalenter, ein zwischen Güte und Härte, zwischen Liebe und Zorn oszillierender Gott, bei dem man nie weiß, ob er, wenn er mir seine gütige Seite zuwendet, mich nicht doch wieder mit seiner Strafgerechtigkeit bedroht und ins Gericht zieht. Dieser Gott ist von Jesus überwunden worden, und es wird eine Aufgabe der Neuen Theologie sein, das endlich mit aller Deutlichkeit und vor allen Dingen, wie Sie ja mit Recht angemerkt haben, mit allen Konsequenzen ans Licht zu bringen.

H: Genau dieser Gedanke ist aber einer der großen Angriffspunkte von Seiten verschiedener Fachkollegen. Sie sind der Meinung, das Gottesbild würde dadurch relativiert, es würde beliebig; die Menschen könnten tun, was sie wollen, es gäbe überhaupt keinen Anspruch mehr. Was würden Sie darauf erwidern?

B: Das ist ein Kummer, den ich mit Ihnen teile, lieber Herr Heinzmann, denn ich höre, dass es eine ganze Theologengruppe gegeben hat, die sich tagelang mit der sogenannten Dunkelseite Gottes befasst hat, und dass ein Buch erschien, wonach – wie es im Titel heißt – das ungeliebte Thema des Zornes Gottes wieder ins Bewusstsein gehoben werden muss. Es gibt demnach eine breite Tendenz in der heutigen Theologie, dass endlich wieder der Gott der Strafe, der Gott des Gerichtes, der Gott des Zornes ins Bewusstsein gehoben werden müsse, weil nur er von den Menschen ernstgenommen werde. Was das rückbezüglich auf das Menschenbild bedeutet, das haben diese Kollegen ja wohl nie bedacht. Aber mir ist dabei noch etwas ganz anderes aufgefallen. Genau das, was diese Theologen heute vertreten, steht im „Antichrist“ von Friedrich Nietzsche. Zu Beginn dieser aggressivsten seiner Schriften fragt dieser: „Was wäre ein Gott, der nicht Hass, Zorn und Rache kennte? Man könnte ihn auf sich beruhen lassen und vergessen.“ Die Theologen, die diese Position vertreten, laufen somit ahnungslos in die längst von Nietzsche aufgestellte Falle. Das ist doch wohl eine ganz bedenkliche Entwicklung. Und bedenklicher erscheint es mir noch, dass es sich dabei um den Rücksturz in das vorjesuanische Gottesbild handelt.

H: Aber trotzdem ist zu fragen: Haben solche Kollegen nicht genügend Anhaltspunkte im Alten Testament, sogar im Neuen Testament, auf die sie sich beziehen können? Wie muss das Neue Testament verstanden werden, wenn all jene Stellen, die ähnlich klingen, in die richtige Perspektive kommen sollen?

B: Darauf gibt es eine ganz grundsätzliche Antwort: Die eigentliche Offenbarung des Christentums besteht nicht im Neuen Testament, sondern besteht in dem, um dessentwillen das Neue Testament überhaupt entstanden ist, und das ist Christus, der Sohn Gottes, der, nach einem Wort des Johannesevangeliums, vom Herzen Gottes gekommen ist, um uns unkundigen Menschen die Kunde von Gott zu bringen und uns über Gott aufzuklären. Wenn er vom Herzen Gottes kommt, kommt er vom Quellgrund der Liebe, und wenn er gesandt wird, um uns zu belehren, ist das ein Akt der Liebe. Wer mit einem anderen spricht, tut es ja eigentlich aus einem Impuls der Zuwendung und der Liebe heraus. Und das heißt, aus diesen zwei Gründen konnte Jesus nur eine Liebesbotschaft vorgetragen haben.

Das Neue Testament ist nur der Niederschlag seiner Botschaft, ist das Ergebnis der Rezeption, das Ergebnis des Verstandenwerdens oder auch des Missverständnisses. Und es ist jedermann, der sich mit neutestamentlichen Fragen beschäftigt, klar, dass die Urkirche auch Gelegenheit genommen hat, ihre eigenen Meinungen Jesus in den Mund zu legen. Deshalb muss die Mitte des Evangeliums wiedergewonnen und zum Leuchten gebracht werden.

H: Diese Überlegungen, Herr Kollege Biser, münden offenbar in eine Ihrer zentralen Thesen über das Christentum, nämlich dass das Christentum keine primäre Schriftreligion ist. Darüber soll dann in der nächsten Sendung gesprochen werden.

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