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9.Die Angstüberwindung

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H: Wenn man über den Menschen nachdenkt, stößt man, wie wir gesehen haben, sehr schnell auf die nicht wegdiskutierbare Einsicht, dass er sterben muss, dass er endlich ist. Und mit dem Tod ist unmittelbar das Phänomen der Angst verbunden, das zurückwirkt auf das ganze Leben. Welche Erklärung hat nun die Neue Theologie für diese Problematik?

B: Wenn die Neue Theologie etwas taugt, muss sie zu diesen beiden Problemen etwas zu sagen haben. Dann muss sich das Christentum erstens als die Religion der Todüberwindung und zweitens als die der Angstüberwindung erweisen; denn die Angst ist der Vorbote des Todes. Wer tief geängstigt ist, hat das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen, und das ist nichts anderes als ein Vorgefühl des Todes. Aber gegenüber diesen beiden Grundkonditionen gibt es zwei gewaltige Hemmnisse. Wir leben nicht nur in einer Zeit der Todesverdrängung, sondern wir leben auch in einer Zeit der Angstverdrängung; und das wäre vielleicht nicht einmal so schlimm, wenn nicht das Christentum hier eine zusätzliche Barriere aufgebaut hätte.

Zunächst möchte ich noch einmal mit allen Diagnostikern betonen: Wir leben in einem Zeitalter der Angst. Eine so noch nie dagewesene Lebensangst – so sagt der Philosoph Karl Jaspers – ist zum unheimlichen Begleiter des modernen Menschen geworden. Das haben Dichter vom Range Werner Bergengruens und Gertrud von le Forts und Denker vom Range Martin Heideggers mit allem Nachdruck bestätigt. Ich sprach gerade davon, dass hier von Seiten des Christentums eine zusätzliche Barriere aufgebaut worden ist; denn nach dem, was die meisten Christen unter Christentum verstehen, ist das Christentum keineswegs die Religion der Angstüberwindung, sondern die Religion der Angstsuggestion. Und tatsächlich haben die Kirchen jahrhundertelang gemeint, durch die Suggestion von Sünden-, Teufels- und Höllenängsten die Menschen disziplinieren und zur Akzeptanz ihres Angebotes bewegen zu können. Es gibt ein erschütterndes Buch des zwinglianischen Pfarrers Oskar Pfister, eines Freundes von Sigmund Freud: „Das Christentum und die Angst“. Die Bilanz dieses Buches zeigt, dass sämtliche christlichen Konfessionen, soweit sie in vielen dogmatischen und kultischen Fragen auseinandergingen, doch in einem Punkt übereinstimmten: Dem Menschen muss Angst gemacht werden, dann ist er gefügig und unterwirft sich den Geboten und Anordnungen der Kirche. Diese Strategie hat sich allerdings in unserer Zeit aufgelöst. Die jungen Menschen nehmen das längstens nicht mehr so ernst wie die älteren, die durch diese Pädagogik traumatisiert sind.

Unabhängig davon muss nun gefragt werden: Stimmt das überhaupt, dass das Christentum Ängste suggeriert, oder stimmt die These der Neuen Theologie, dass das Christentum die Religion der Angstüberwindung ist? Wenn das gezeigt werden soll, muss zunächst einmal gesehen werden, dass es ein gewaltiges Panorama von Ängsten gibt: Inklusionsängste, Isolationsängste, ökologische Ängste, soziale Ängste, religiöse Ängste, Lebensängste. Es kommt also darauf an, die Wurzelängste herauszufinden, an denen der Mensch vor allen Dingen leidet. Und ich sehe drei derartige Fundamentalängste.

Das erste ist die Angst des Menschen vor Gott; und der Atheist hat nicht den mindesten Grund zu meinen, dass er davon unbehelligt bleibt, denn auch er sucht nach einer letzten Orientierung, nach einem letzten Halt und einer letzten Geborgenheit, wo immer er sie zu finden glaubt. Das ist die erste dieser Grundängste. Die zweite ist die Angst des Menschen vor dem Mitmenschen, die Sozialangst. Und die dritte ist die unheimlichste aller Ängste: Es ist die Angst des Menschen vor sich selbst, die Existenzangst. Wenn man das einmal erkannt hat, dann wird klar: Hier kann das Christentum eingreifen, hier kann es seine angstüberwindende Kompetenz unter Beweis stellen.

H: Mit dieser Zeitdiagnose machen Sie, Herr Kollege Biser, das christliche Gottesbild – befreit von den Verdunkelungen einer fehlgelaufenen Entwicklung – zum unterscheidenden Kriterium zwischen den verschiedenen Religionen und ihren Angeboten.

B: Zweifellos. Damit hängt auch die Möglichkeit der Überwindung dieser ersten aller Ängste zusammen. Das Christentum unterscheidet sich dadurch fundamental von allen anderen Weltreligionen – so viel es auch mit ihnen in anderer Hinsicht gemeinsam hat –, dass es nicht einen ambivalenten Gott vertritt, der einmal liebt und dann wieder droht und straft, sondern den Gott der bedingungslosen Liebe. Und dieser Gott der bedingungslosen Liebe, den nach meiner tiefen Überzeugung erst Jesus entdeckt und in seiner Botschaft zur Geltung gebracht hat, dieser bedingungslos liebende Gott darf und kann nicht gefürchtet werden; denn er nimmt den Menschen diese tiefste aller Ängste, die Gottesangst, aus der Seele. Wer diesen Gott einmal im Glauben angenommen und gefunden hat, der hat keinen Grund mehr, Gott zu fürchten. Und deswegen ist die schlimmste aller Ängste von ihm genommen.

H: Aber ist dieser Gott der bedingungslosen Liebe nicht unmittelbar in Gefahr, beliebig zu werden, so dass man sagen kann: Ob so oder so, es ist am Ende gleichgültig. Er hat schon alles besorgt.

B: Das ist ein Einwand, der leider auch von einer jüngeren Theologengeneration zurzeit erhoben wird: Dieser Gott der Liebe sei ein Gott der Beliebigkeit, er toleriere alles, und deshalb könne man ihn vergessen. Diese Theoretiker übersehen nur, dass sie damit, wie ich bereits gegen sie eingewendet habe, in die längst von Nietzsche – ausgerechnet im „Antichrist“ – aufgestellte Falle hineinlaufen, da auch für Nietzsche nur ein Gott des Zornes, des Hasses und der Rache ernstgenommen werden kann. In Wirklichkeit ist der Gott der Liebe die größte Herausforderung, da dem Menschen aufgrund seiner Gespaltenheit zwischen Selbstsucht und Selbstflucht und seiner dadurch bedingten Gebrochenheit der ambivalente Gott, der zwischen Güte und Drohung oszilliert, weit mehr entspricht als der Gott der bedingungslosen Liebe. Er überkommt ihn vielmehr wie ein gleißendes, blendendes Licht, ja wie ein „verzehrendes Feuer“, da er ihm zwar alles bis zur Hingabe seines Sohnes gibt, aber auch Liebe aus ganzem Herzen und ganzer Lebens- und Geisteskraft von ihm erwartet und fordert.

Das alles wird bei dem angesprochenen Einwand völlig übersehen. Demgemäß heißt die erste und grundlegende Forderung: Gib Gott das, was er dir gibt! Du sollst ihn lieben aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele, aus ganzer Wesens- und Geisteskraft. Das ist ja eine derart ungeheuerliche Forderung, dass man daran beinah zerbrechen möchte. Indessen gibt es eine Lösung, die allerdings schon in die Tiefendimension des Christentums hineinführt, und die besteht darin, dass dieser Gott, der dieses Ungeheuerliche von uns verlangt, es für uns tut: Er liebt sich selbst in uns.

H: Kann man zeigen, dass die Überwindung dieses fehlgeleiteten Gottesbildes zugleich die Überwindung der beiden anderen Ängste anvisiert, die Sie vorhin angesprochen haben?

B: Unbedingt, denn die zweite Angst hängt natürlich mit dem Gebot zusammen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Der Nächste ist der Partner, ohne den wir weder leben könnten, ohne den wir weder die Fähigkeit der Sprache besäßen noch das Glück der Liebe erleben könnten, ohne den wir somit überhaupt nicht menschlich existieren könnten. Aber die Lebenserfahrung zeigt, dass wir auch den liebsten Menschen nie ganz an uns herankommen lassen. Ein letzter Sicherheitsabstand wird gewahrt, weil wir die Befürchtung nicht loswerden, dass sich der ersehnte Partner von heute über kurz oder lang in sein verhasstes Gegenteil verwandeln könne. Und wenn man die Geschichte menschlicher Beziehungen betrachtet, besonders im Feld der Ehe, dann ist das eine nur allzu begreifliche Befürchtung. Dagegen muss nun ebenfalls mit dem Evangelium argumentiert werden. In diesem Sinne hat Kierkegaard, der große dänische Dichterphilosoph, gesagt: Den Satz – du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst – müsste man eigentlich anders übersetzen, nämlich nicht: liebe ihn wie dich selbst, sondern: liebe ihn als dich selbst. Erkenne, dass dein eigenes Schicksal im anderen auf dem Spiel steht: Wenn du ihn annimmst, nimmst du dich selber an; wenn du ihn verwirfst und ihn fallen lässt, gibst du dich selber auf. Deswegen ist die Liebe Gottes auch die Heilung der Problematik unserer Beziehung zum Partner, zum Nächsten.

H: Und damit steht der letzte Schritt an, nämlich das Problem, dass man sich selbst nicht ganz vertraut und vertrauen kann.

B: Richtig, denn der Mensch ist zutiefst gebrochen, so dass er sich seiner weder in gesundheitlicher noch in intellektueller und vor allen Dingen auch nicht in moralischer Hinsicht ganz sicher sein kann. Es können Verhältnisse auftreten, in denen auch die allerbesten Vorsätze versagen; deswegen diese Angst des Menschen vor sich selbst, die unheimlichste aller Ängste. Indessen wäre unsere ganze Überlegung auf Sand gebaut, wenn nicht auch hier eine Heilung von Seiten des Evangeliums erfolgen könnte. Ich sehe hier sogar die schönste aller Möglichkeiten, aus dieser Angst befreit zu werden: durch das Geschenk der Gotteskindschaft. Es ist ein Gedanke, zu dem sich das Neue Testament am Ende geradezu jubelnd erhebt, wenn der Erste Johannesbrief mit dem bereits angeführten Satz dazu auffordert: „Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt, dass wir Kinder Gottes nicht nur heißen, sondern es sind.“ Wer sich durch Gottes Vaterliebe zu diesem Hochziel des Menschen geführt weiß, fühlt sich trotz aller Hinfälligkeit, trotz aller Versuchlichkeit und trotz seiner ganzen Erbärmlichkeit ans Herz Gottes gezogen und findet dort den Fixpunkt der Existenz, der alles überstrahlt, was dem Menschen an Negativität und Beeinträchtigung anhaftet. Deshalb kommt es entscheidend darauf an, im Interesse der Angstüberwindung das Motiv der Gotteskindschaft neu zu entdecken und an die Menschen heranzutragen. Darin besteht dann die Therapie der dritten und unheimlichsten aller Ängste. Wenn das gelingt, ist das Christentum in der Tat als die Religion der Angstüberwindung erwiesen.

H: Die Tatsache, dass die Rede von der Gotteskindschaft in der heutigen Theologie nicht unbedingt im Vordergrund steht, ist zugleich ein Symptom für die Tatsache, dass das Christentum von seiner eigenen Identität noch entfernt ist und dass genau in dieser Richtung von der Neuen Theologie ein entscheidender Beitrag geleistet werden kann und muss.

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