Читать книгу Zukunft des Christentums - Eugen Biser - Страница 17

7. Mensch, wo bist Du?

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H: Das Christentum ist eine Offenbarungsreligion. Offenbarung an sich gibt es aber nicht. Der Adressat der Offenbarung gehört wesentlich dazu. Das heißt: Wenn man über das Christentum reden will, muss man auch vom Menschen sprechen; denn ein Wort, das nur gesprochen, aber nicht vernommen wird, ist kein Wort, sondern bestenfalls ein Geräusch. Eine zentrale Rolle nimmt deshalb im Gang unserer Überlegungen die Frage ein: Was ist der Mensch? Es ist daher auch kein Zufall, dass in Ihrem Lebenswerk der Mensch an zentraler Stelle steht. Wenn ich frage: Was ist der Mensch, ist im Grunde genommen schon eine Fehlentscheidung impliziert, denn ich frage im Geist der griechischen Philosophie und damit in einer Denkrichtung, die nicht kompatibel ist mit den christlichen Grundgegebenheiten. Ich muss fragen: Wer ist der Mensch? Und Sie spitzen die Frage noch einmal zu und fragen: Wo ist der Mensch?

B: Das hat seinen guten Grund. Zunächst aber möchte ich Ihrer These zustimmen, wonach im Christentum jeder Satz über Gott auch etwas über den Menschen aussagt. Beide gehören dazu: Zu dem, der sich mitteilt, gehört der, der diese Mitteilung aufnimmt. Und deswegen stellt sich diese Frage. Seit 2500 Jahren lautet sie so, wie eben von Ihnen thematisiert: Was ist der Mensch? Sie haben jedoch sofort hinzugefügt, dass das nach meiner Konzeption nicht die richtige Fragestellung ist. Ich möchte aber doch auch dieser Frage Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie beginnt, höchst aufschlussreich, mit dem Ödipus-Mythos. Da kommt Ödipus in seine spätere Königsstadt Theben; doch am Stadtrand lauert die Sphinx, die jedem Vorbeikommenden eine Frage stellt. Wer sie nicht zu lösen vermag, den stürzt sie in den Abgrund hinab; und dort liegen bereits die Gebeine all derer, die versagt hatten. Die Frage heißt: Was ist das? Am Morgen geht es auf vier Beinen, am Mittag auf zwei, am Abend auf drei? Ödipus ist der einzige, der die Antwort weiß: Es ist der Mensch. Am Morgen kriecht er auf allen vieren, am Mittag geht er auf seinen beiden Beinen, am Abend braucht er einen Stock, und dann geht er auf drei Beinen. Die Sphinx ist über diese Antwort so entsetzt, dass sie sich selbst in den Abgrund stürzt, und der Weg nach Theben ist frei. Doch diese Frage: „Was ist der Mensch?“ ist – wie Sie sehr deutlich gesagt haben – die Frage nach dem unveränderlichen Wesen des Menschen. In dieser Ausrichtung hat sie den philosophischen Denkweg bis zu Immanuel Kant begleitet, der alle Fragen des menschlichen Fragenkönnens – Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? – schließlich in seinem Spätwerk auf die eine Frage zusammengeführt hat: Was ist der Mensch? Das heißt natürlich, dass diese Frage eine ungeheure Spannweite aufweist. Man könnte, weil Kant ja ein etwas amusischer Philosoph war, auch noch die Kunst hinzufügen und sagen: In allen Leistungen und allen Äußerungen des menschlichen Geisteslebens geht es eigentlich um diese Frage: Was ist der Mensch? Alle Leistungen der Philosophie, Ethik, Literatur und Kunst sind im Grunde nur immer neu ansetzende Versuche, diese Frage zu beantworten. Doch in unserer Zeit ist der Mensch auf eine so nie gewesene Weise auf den Prüfstand gestellt worden – durch die beiden Weltkriege ebenso wie durch die beiden entsetzlichen Diktaturen, die den Menschen in seinem Selbstbewusstsein zu verändern suchten –, deswegen genügt die klassische Frage nicht mehr.

H: Dass die Philosophie von Anfang an nach dem Wesen des Menschen fragt, ist unbestritten. Daneben hat sich aber in der jüdisch-christlichen Denktradition ein Verständnis des Menschen herausgebildet, das nicht so sehr an dem allgemeinen Wesen interessiert ist, dessen Aufmerksamkeit vielmehr dem Einzelnen, der Person gilt. Im Nachdenken über die Trinität, die Dreifaltigkeit Gottes, kommt es zu den ersten Klärungen des Personbegriffs, der dann herangezogen wird, um die Singularität des Menschen zum Ausdruck zu bringen. Schließlich war es Thomas von Aquin, der das christliche Verständnis des Menschen als Person philosophisch konzipierte und dem Essentialismus griechischer Philosophie den christlichen Personalismus gegenüberstellte. Der Mensch ist nicht ein Fall von Menschsein, sondern ein einmaliger Existenzmodus. Dieser Rang des Personseins findet seinen handlungstheoretischen Ausdruck darin, dass auch das subjektiv irrende Gewissen verpflichtenden Charakter hat. Der Mensch ist moralisches Subjekt und darf niemals fremdbestimmt werden. Dieses spezifisch christliche Verständnis des Menschen, das heute in hohem Maße gefährdet ist, muss mitbedacht werden, wenn die Problematik, von der zu sprechen sein wird, im angemessenen Kontext stehen soll.

B: Selbstverständlich müssen wir diese Entwicklung berücksichtigen, die ich für besonders wichtig halte; denn der Personbegriff ist zunächst einmal im Blick auf die innertrinitarischen Verhältnisse entwickelt worden. Es gehört sicher zum Großartigsten der Geistesgeschichte, dass ein Begriff, der zunächst für Gott erdacht und entworfen worden ist, sich schließlich als Schlüssel zum Selbstsein des Menschen herausstellte. Das dürfen wir nie vergessen; denn es handelt sich dabei um eine der ganz großen Leistungen der christlichen Philosophie- und Theologiegeschichte.

Nun kehre ich aber zu meinem Ausgangsgedanken von dem Prüfstand zurück, der gezeigt hat, dass so nach dem Menschen nicht länger gefragt werden kann: Warum? Weil vor allem eine der Tatsachen in dieser klassischen Anthropologie gar nicht erklärt werden konnte, nämlich die Geschichtlichkeit des Menschen. Dass sich das Menschsein geschichtlich ereignet, dass wir Menschen alle in die Geschichte eingebunden und von ihr mitbetroffen sind – meistens als deren leidende Partizipanten, aber immerhin so, dass wir dazugehören –, das konnte immer nur als Faktum behauptet, nicht aber bewiesen werden. Meine Anthropologie kann es zeigen, und sie zeigt es dadurch, dass sie aufweist: Der Mensch hat eine Geschichte mit sich selbst.

Doch zunächst muss ich jetzt nochmals auf die genauere Fragestellung zurückblenden; sie lautet: Wo bist Du? Diese Frage steht im Alten Testament, und sie ist wohl deshalb gerade von jüdischen Auslegern in ihrer Triftigkeit erkannt worden. Es ist bekanntlich die Frage, die Gott dem sündig gewordenen Menschen stellt, nachdem er sich unter den Bäumen des Gartens vor ihm versteckt hat; denn da ruft Gott: Wo bist Du? Das klingt natürlich zunächst wie eine harmlose Identifikationsfrage. Aber in der späteren Ausdeutung, besonders bei Buber und Rosenzweig, hat sich gezeigt: Da geht es um ungleich mehr, um etwas, was das menschliche Selbstverhältnis betrifft.

Auf dem Weg dazu hat der Renaissancephilosoph Pico della Mirandola diese Frage aufgegriffen und entfaltet. Er lässt den Schöpfer zu Adam sagen: „Ich habe dir keine bestimmte Wohnstätte zugewiesen. Du kannst wohnen, wo du willst. Ich habe dir auch keine bestimmte Gestalt auferlegt, du kannst die dir genehme Gestalt selber auswählen. Du kannst dich zur Höhe des Göttlichen erheben, du kannst dich aber auch in die Niederungen des Tierischen fallen lassen.“ Das ist diese Geschichte des Menschen mit sich selbst. Die von mir erwähnten jüdischen Denker, die diese Frage in ihrer vollen Bedeutung und Triftigkeit erkannt haben, sind die Denker des dialogischen Prinzips, denen das Zweite Vatikanum das Stichwort für die Neugestaltung aller christlichen Verhältnisse entnommen hat, nämlich das Stichwort „Dialog“. Sie erblickten in der Wo-Frage den denkerischen Zugriff, auf dessen Basis die Sache des Menschen ausgetragen werden muss.

Ich sprach gerade von den beiden Möglichkeiten: dass der Mensch aufsteigen kann zur Höhe des Göttlichen – und das Christentum hat ja dafür einen Kulminationsbegriff, wenn es sagt: Wir sind zur Gotteskindschaft berufen –, dass er sich aber auch fallen lassen kann, bei Pico della Mirandola bis zur Niedrigkeit des Tierischen – ich würde sagen: bis zu jenen Zuständen der Selbstaufgabe, der Selbstwegwerfung und schließlich der Selbstzerstörung, deren sich dann jene Diktatoren bemächtigen, die es darauf angelegt haben, den Menschen bis in seine innersten Überzeugungen hinein zu manipulieren. Das ist die Geschichte des Menschen mit sich selbst. Er kann sich erheben, er kann sich selber veredeln und das anstreben, was ich als den Kern des ganzen Kulturlebens bezeichne, nämlich die Persönlichkeitskultur. Er kann sich entfalten und ausgestalten, er kann das jeweils Bessere aus sich machen, er kann die ungehobenen Möglichkeiten und Talente in sich freisetzen und dadurch seine Persönlichkeit perfektionieren. Er kann aber auch das Gegenteil tun: Er kann sich fallen lassen, er kann den Weg des geringeren Widerstands gehen, er kann mit den Wölfen heulen, sich mit der großen Masse treiben und sich von den Medien und Propagandisten einreden lassen, was er tun soll. Dann befindet er sich im Zustand der Selbstentfremdung. Aus alledem ergibt sich dann die Erklärung der Tatsache, dass er in die Weltgeschichte hineingehört, und zwar deswegen, weil er eine Geschichte mit sich selbst durchlebt.

H: Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ein Großteil Ihres philosophischen Lebenswerkes eben dieser Existenzerhellung des Menschen gilt, und ich denke, es ist deutlich geworden, wie wichtig es ist, ob man den Menschen so oder anders versteht. Gleichzeitig erhebt sich die Frage: Was bedeutet das für eine christliche Theologie, die den Menschen bisher entweder nicht richtig gesehen oder in eine Richtung stilisiert hat, die ihm überhaupt nicht gerecht wird, und zwar konkret in unserer Zeit?

B: Es bedeutet vor allen Dingen, dass sie sich vergegenwärtigen muss, dass der Mensch durch das Christentum nicht diszipliniert, sondern über seinen naturalen Stand erhoben wird. „Seht doch, welch große Liebe der Vater zu uns hegt“, heißt es am Schluss des Neuen Testamentes, „dass wir Kinder Gottes nicht nur heißen, sondern es sind.“ Eine christliche Theologie muss dieses Optimum des Menschen im Blick haben; doch vielfach ist das Gegenteil geschehen: Man hat dem Menschen eingeredet, dass er sich selber erniedrigen müsse, man hat die Aufforderung des Evangeliums zur Selbstverleugnung in einer völlig defizienten Weise ausgelegt, wie sie nie gemeint war. Gemeint war damit, wie ich vorhin schon einmal angedeutet habe, dass dem Raum gegeben werden müsse, der in uns wohnt. Das ist natürlich etwas ganz anderes als die selbstzerstörerische Form der Selbstverleugnung. Hier müsste also ganz neu nachgefasst und eingesetzt werden; das hätte enorme Konsequenzen für das ganze christliche Erziehungswesen, aber auch für die Selbstkultivierung jedes Einzelnen.

Das Christentum muss dem Menschen mehr zutrauen, als bisher faktisch geschehen ist, einfach deswegen, weil Gott ihm mehr zutraut. Weil Gott ihn als seinen Partner haben will und als denjenigen, zu dem er Kind sagen kann, so wie der Mensch dann seinerseits zu Gott Vater sagen darf. Damit berühren wir noch einmal die Gottesentdeckung Jesu, die in diesem einen Wort beschlossen ist. Es war die große, revolutionäre Tat Jesu, dass er zu Gott „Vater“ sagte. Wenn man dem entgegenhält, das gäbe es auch in manchen Indianergebeten und erst recht in vielen Hochreligionen einschließlich des Judentums, kann man nur antworten: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe, und wenn zwei dasselbe sagen, ist es ebenfalls nicht dasselbe. Wenn Jesus zu Gott „Vater“ sagt, ist das der Durchbruch in ein vollkommen neues Gottesverhältnis, wie es von keinem anderen je auch nur anvisiert, geschweige denn erreicht worden ist.

H: Ihre überzeugenden Ausführungen werfen zugleich eine Reihe von Problemen auf, die in künftigen Gesprächen behandelt werden müssen.

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