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8. Die Sünde und der Tod

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H: Im Horizont christlichen Glaubens und Denkens ist der Mensch nicht nur Exemplar der Spezies Mensch, sondern er ist Person. Er steht in unvertretbarer Verantwortung vor Gott. In Ihrem Werk „Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modalanthropologie“ eröffnen Sie als weitere Perspektive die heilsgeschichtliche Sicht, welche für ein angemessenes Verständnis des Menschen konstitutiv ist. Sie zeigen darin, dass der Mensch in einem Möglichkeitsraum steht, in dem er sich von der Person zur Persönlichkeit entwickeln kann, in dem er aber auch zurückfallen kann an die unterste Grenze des Menschseins. Damit kommt nicht nur die wesenhafte Geschichtlichkeit des Menschen zur Sprache. In diesem Problemfeld steht auch die Frage nach der Sünde und deren Möglichkeitsbedingungen.

B: Das entspricht durchaus meiner Vorstellung vom Menschen. Der Mensch ist für mich das Möglichkeitswesen, eingebettet in einen Raum von Möglichkeiten, und zu diesen Möglichkeiten gehört auf der einen Seite die mögliche Erhebung zu einem Seinsstand, den er nur mit der Hilfe Gottes erreichen kann, aber auch die entgegengesetzte Möglichkeit, sich zu vernachlässigen, sich fallen zu lassen – es ist die Fallstrecke, die nach unten führt. In diesem Zwischenraum spielt sich die Geschichte des Menschen mit sich selber ab. Und das ist für mich die Erklärung eines Tatbestandes, mit dem die klassische Anthropologie nie zu Rande gekommen ist, nämlich dass der Mensch geschichtsfähig ist, dass er in die Geschichte eingebunden ist – nicht nur in die Heilsgeschichte, wie Sie ganz richtig gesagt haben, sondern auch in die Weltgeschichte. Diese Geschichtsbetroffenheit hängt damit zusammen, dass er eine Geschichte mit sich selbst durchlebt. Zu dieser Geschichte gehört – wie zu jeder – ein Chronist. Diesen Chronisten finde ich im Gewissen. Wir rechnen ja meistens nur mit der moralischen Gewissensform; das ist jenes Gewissen, das uns peinigt, wenn wir versagen, das uns lobt, wenn wir etwas Gutes getan haben. Indirekt rechnen wir jedoch auch mit anderen Gewissensformen, nämlich mit einem ästhetischen und einem intellektuellen Gewissen. Wir haben dafür nur andere Worte. Wir sagen von einem Menschen, der über ein besonderes Organ für die Unterscheidung von Kunst und Kitsch verfügt, er habe einen guten Geschmack, meinen damit aber eine Gewissensform. Und wir nennen einen Menschen, der sich nicht durch Propaganda verführen lässt und nicht den Weg der Masse geht, einen Menschen mit einem guten Urteil. Aber auch diesmal meinen wir eine Gewissensform. Und nun gehe ich davon aus, dass diese drei Gewissensformen, das moralische, das intellektuelle und das ästhetische, eine fundamentale Gewissensform als Grundlage haben, und diese nenne ich das Existenzgewissen. Das urteilt nicht über Gut und Böse, nicht über Kitsch und Kunst, nicht über Lüge oder Wahrheit, sondern es urteilt über die Art und Weise, wie der Mensch mit sich selber befasst ist – ob er seine besseren Möglichkeiten aus sich herausholt, ob er sich selber kultiviert, ob er also seine Person zur Persönlichkeit entwickelt oder ob er sich vernachlässigt, mit der großen Masse geht, ob er den Weg des geringeren Widerstands einschlägt und sich fallen lässt –, darüber urteilt das Existenzgewissen. Selbstverständlich hat dieses Existenzgewissen eine besondere Affinität zum sittlichen Gewissen. Und damit stellt sich dann die Frage: Wie steht es denn mit dem Bösen im Menschen? Wie steht es um die Sünde?

H: Damit ist aber auch gesagt, dass das von Ihnen angesprochene Existenzgewissen keine statische, sondern eine dynamische Größe ist, die ganz an das Subjekt gebunden und deshalb letztlich nicht objektivierbar ist. Und von hieraus eröffnet sich dann auch die besondere Perspektive auf die Frage nach dem moralischen Gewissen.

B: Das moralische Gewissen hat seine Tiefe dort, wo der Mensch sich der Gewalt des Bösen überlässt und selber böse wird. Das ist natürlich eine Urfrage jeder Anthropologie; denn darin besteht das bestürzende Faktum, mit dem wir ständig in unserer Welt konfrontiert sind: dass die Menschen, die eigentlich etwas Positives leisten und sich konstruktiv am kulturellen und wirtschaftlichen Leben beteiligen sollten, das Gegenteil tun, indem sie andere betrügen und andere ins Unglück stürzen. Wie wird der Mensch böse? Das ist die alte und bis zur Stunde noch immer nicht beantwortete Frage.

Es gibt natürlich eine Antwort auf diese Frage, die gerade im christlichen Raum zur dominierenden geworden ist. Sie geht zurück auf den Apostel Paulus, der im Römerbrief den Tod der Sünde Sold nennt. Damit geht die Vorstellung einher, dass der Mensch von Haus aus böse ist: böse aufgrund seiner Abstammung von Adam, der gesündigt hat und in dem alle gesündigt haben, so dass alle in seine Sünde einbezogen sind und dafür durch den Tod bestraft werden.

H: Mit diesem Hinweis sprechen Sie die sogenannte Erbsünde an. Es ist das die vermeintlich christliche Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen. Die dabei angewandte Methode ist die theologische Variante einer Ätiologie, das heißt des Versuchs, einen gegenwärtig erfahrenen und erfahrbaren Zustand auf seinen letzten Grund und Ursprung zurückzuführen. Unter Bezugnahme auf die von Ihnen zitierte Römerbriefstelle hat Augustinus das Theologumenon von der Erbsünde entworfen. Nach dieser These haben alle Menschen in Adam gesündigt. Durch die geschlechtliche Fortpflanzung wird die Natur Adams an seine Nachkommen weitergegeben, und deshalb sind am Ende alle Menschen Sünder. Augustinus ringt schwer um diese Problemlösung, aber sie ist trotzdem falsch. Zur Sünde im qualifizierten Sinne gehört unverzichtbar die Freiheit der Entscheidung und damit die Rückbindung an eine Person. Deshalb kann Sünde nie vererbt werden. Das wusste auch Augustinus. Ausdrücklich vertritt er die These: Wer nicht mit freiem Willen sündigt, sündigt nicht. Wenn er trotzdem seine Lehre von der Erbsünde vertreten konnte, hatte das seinen Grund darin, dass Augustinus auch in dieser Frage im Horizont platonischer Metaphysik dachte und dadurch das Entscheidend-Christliche verfehlte. Er war mit dem Platonismus der Meinung, dass die real existierende Spezies die übergeordnete Größe sei. So wird seine Argumentation in sich schlüssig: Alle Menschen sündigen in Adam, weil sie vereinzelte Exemplare der Art „Mensch“ sind. Mit diesem Denkmodell ist die Gerechtigkeit Gottes sichergestellt. In Adam haben alle Menschen wirklich gesündigt, alle haben in ihm den ewigen Tod verdient, und Gott handelte gerecht, wenn er alle verdammen würde. Deshalb kann Augustinus die Menschheit als massa damnata, als eine Sündenmasse verstehen. Weil Gott aber nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig ist, hat er aus unerforschlichem Ratschluss einige wenige zur Seligkeit bestimmt. In dieser Sicht wendet sich die Problemstellung: Nicht die Verdammung der Vielen, sondern die Errettung der Wenigen bedarf einer Erklärung. Mit dieser zutiefst unchristlichen Beantwortung der Frage nach dem Ursprung des Bösen hat Augustinus das Gottesbild des Neuen Testamentes pervertiert: Aus dem Gott der vorbehaltlosen Liebe ist ein Schrecken verbreitender Willkürgott geworden.

In vielfachen Brechungen lässt sich die verheerende und die Menschen traumatisierende Wirkung dieses Gottesbildes durch die Jahrhunderte verfolgen. Sie reicht über Martin Luther und insbesondere Johannes Calvin bis in unsere Gegenwart. Diese negative, gegen den Sinn der christlichen Botschaft gerichtete Tradition ist, lieber Herr Kollege Biser, geeignet, die Notwendigkeit, den Rang und die Stellung Ihrer Neuen Theologie im Gang des abendländischen Christentums ins Bewusstsein zu rufen. Aber zurück zu unserem Problem: Wie kommt man zu einer Lösung, die die genannten Aporien vermeidet?

B: Diese Lösung findet sich erstaunlicherweise ebenfalls bei Paulus. Paulus hat allerdings auch das schon vorhin zitierte verhängnisvolle Wort zu verantworten: „Der Tod ist der Sünde Sold.“ Er hat aber in der Korrespondenz mit der Gemeinde von Korinth akkurat das Gegenteil gesagt, und das sogar emphatisch: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ Dem fügt er eine hochbedeutsame Bemerkung hinzu: „Der Stachel des Todes ist die Sünde.“ Damit wird die Sache plötzlich in die Gegenperspektive umgedreht: Jetzt ist der Tod nicht mehr die Straffolge der Sünde, sondern die Sünde die Folge des Todes. Der Tod erscheint in diesem paulinischen Bild als ein Antreiber, der mit einem Treiberstachel in der Hand die Menschen zur Sünde anstachelt. So erklärt Paulus die Sündhaftigkeit des Menschen, und dies in einer Weise, die dessen Freiheit wahrt.

Jetzt ist es unsere Aufgabe, das zu reflektieren und zu erklären. Das aber führt schon bald zu der Einsicht, dass es im Menschenleben etwas letztlich Unannehmbares gibt: die Tatsache, dass wir sterben müssen. Natürlich ist das immer wieder kaschiert worden, und wir erleben ja gerade heute, dass unsere Zivilisation eine geradezu perfekte Kunst der Todesverdrängung entwickelt hat. Das ändert aber nichts an den tatsächlichen Gegebenheiten, denn mit dem Tod verhält es sich so wie im Grimmschen Märchen vom Gevatter Tod: Wenn man ihn durch den Hauseingang hinausschickt, kommt er durch die Hintertür wieder herein; der Tod lässt sich nicht verdrängen. Er ist die elementare Herausforderung und Aufgabe des Menschen. Nun aber die Frage: Was hat der Tod mit dem Bösen zu tun? Wie kommt Paulus dazu, zu sagen: Er stachelt uns zum Bösen an?

H: Ein weiteres Problem ist damit unmittelbar verbunden. Dass der Mensch endlich ist, ist unvermeidbar – mit anderen Worten: Das Böse wird am Ende auf Gott zurückgeführt, weil er den Menschen geschaffen hat. Gott kann keinen zweiten Gott schaffen; wenn er also etwas schafft, muss es wesenhaft endlich sein. Das ist die Grundsituation des Menschen und, wie Sie erklären, liegt darin die Wurzel der angesprochenen Probleme.

B: In der Tat. Das ist ja eigentlich der Kern des sogenannten Theodizee-Problems. Gott konnte jedoch nur eine relative, eine begrenzte, eine bedingte Welt erschaffen. Das klingt ganz harmlos, doch die Bedingtheit unseres Daseins wird uns in der Not unseres Sterbenmüssens drastisch vor Augen geführt und bewusstgemacht. Genau das ist der Tatbestand, mit dem wir uns nie ganz einverstanden erklären können. Dagegen erhebt sich ein innerer Protest. Und in der Reaktion darauf wird der Mensch böse. Wenn man sich die Psychologie des Mörders, mit dem man ja immer wieder in der Geschichte konfrontiert ist, vergegenwärtigt, erkennt man, dass der Mensch, wenn er schon selber sterben muss, dann die sadistische Neigung entwickelt, möglichst viele mit in seinen Tod hineinzureißen. Diese Mechanik hat auch eine mildere Vorform, und die beginnt damit, dass man andere belügt und betrügt, beschädigt und hasst, dass man ihnen also Böses antut. Das alles aber ist nichts anderes als der Versuch, die anderen in das eigene Sterben mithineinzureißen. Denn wer den anderen hasst, tilgt ihn tendenziell aus seiner Lebenswelt und ist, biblisch gesehen, „ein Menschenmörder“ (1 Joh 3,15). Hier muss dann eingesetzt werden, wenn eine Alternative gefunden werden soll. Wo findet sie sich?

Im großen Konzert der Weltreligionen gibt es nur eine, die eine wirkliche Antwort zu geben vermag, und das ist jene Religion, in deren Zentrum der Gedanke der Todüberwindung steht, die Religion, die zentriert ist im Dreh- und Angelpunkt der Auferstehung Jesu; dort allein kann eine wirkliche Todüberwindung gefunden werden.

H: Das bedeutet: Der Tod ist zugleich die Wurzel aller möglichen Ängste, denen der Mensch ausgesetzt ist. Wenn das zutrifft, könnte man das Christentum unter dieser Perspektive auch als die Religion der Angstüberwindung definieren.

B: Ganz richtig: Das Christentum ist die Religion der Angstüberwindung. Es muss nur noch gesehen werden, was die Angst mit dem Tod zu tun hat. Aber dieser Zusammenhang ist manifest; denn der Tod hat ja bekanntlich einen Bruder, den Schlaf. Aber er hat auch eine sehr viel schrecklichere Schwester, die Angst.

Deswegen hängt das Problem der Todüberwindung untrennbar mit dem der Angstüberwindung zusammen. So hat die Neue Theologie die zentrale Aufgabe, das Christentum als die Religion der Angstüberwindung herauszustellen und glaubhaft zu machen.

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