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10. Die Gottessohnschaft Jesu

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H: Nach dem Zeugnis des Neuen Testamentes ist die Gotteskindschaft das eigentliche Ziel christlicher Existenz. Dieser Begriff erinnert unmittelbar an das Problem der Gottessohnschaft. Bevor dieses Problem geklärt ist, kann man über die Gotteskindschaft nichts Fundiertes aussagen. Wie es gedacht werden kann und wie es verstanden werden muss, dass Jesus der Sohn Gottes ist, dieser Sachverhalt ist naturgemäß einer der zentralen Inhalte christlicher Reflexion. Im Laufe der Jahrhunderte wurden ganze Bibliotheken mit entsprechenden Traktaten über dieses Thema gefüllt. Sie alle haben eines gemeinsam, sie sind nur für hochspezialisierte Fachleute verstehbar. Eröffnet die Neue Theologie eine Möglichkeit, dieses Geheimnis so darzustellen, dass es nicht nur theologischen Ansprüchen genügt, sondern darüber hinaus auch von einem Nichttheologen nachvollzogen werden kann?

B: Das ist selbstverständlich eine ganz zentrale Aufgabe der Neuen Theologie, und ich würde sagen: Die Gotteskindschaft erinnert nicht nur an die Gottessohnschaft Jesu, sondern sie ist die unmittelbare Folge der weitergegebenen Gottessohnschaft Jesu. Der große Theologe William Wrede sagte vor mehr als hundert Jahren: Jesus gibt seine Gottessohnschaft auf und wird ein elender Mensch wie wir, damit wir werden, was er ist – Söhne Gottes. Nach seiner Überzeugung ist die Gotteskindschaft die weitergegebene Gottessohnschaft Jesu. Im Hinblick darauf stellt sich dann aber das große Problem: Wie ist die Gottessohnschaft Jesu zu erklären, und das vor allem im Lichte der Neuen Theologie? Wie ist Jesus zum Bewusstsein seiner Gottessohnschaft gelangt? Dabei gehört es zu den Prärogativen der Neuen Theologie, dass das Menschsein Jesu ernstgenommen wird; denn Jesus muss als Mensch all das einholen, was er nach dem christlichen Dogma von Ewigkeit her ist. Weil er ein menschliches Bewusstsein wie wir hat, ein Bewusstsein des Fragen-Müssens, auch des Zweifeln-Könnens, muss vor diesem Hintergrund geklärt werden, wie er zur Gottessohnschaft gelangte.

H: Das besagt, dass die traditionelle Vorstellung, Jesus habe von Kind auf immer schon gewusst, was seine Aufgabe sei, dass diese traditionelle Vorstellung verabschiedet werden und einer neuen Reflexion dieses Problems weichen muss.

B: Unbedingt! Es muss sozusagen die Anthropologie in die Christologie einbezogen werden; wir müssen Jesus aus seinem Menschsein zu verstehen suchen. Dabei gibt es nicht nur die traditionelle Auffassung, wonach er alles schon von Kindheit an gewusst hat; vielmehr scheint sich auch vom Evangelium her eine einfache Lösung anzubieten, die sich aber bei näherem Zusehen als nicht haltbar erweist. Da wird Jesus nach der Taufe durch die Himmelsstimme gesagt: „Du bist mein geliebter Sohn, dich habe ich erwählt.“ Für viele Theologen ist damit das Problem gelöst: Er hat eine Vision gehabt; diese Vision war verbunden mit einer Audition – er hat etwas zu hören bekommen, und zwar dieses wunderbarste Wort, das jemals einem Menschen zugesprochen worden ist: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Aber das Ganze hat einen Haken.

H: Woher weiß man das?

B: Nach den ältesten Berichten ist Jesus der ausschließliche Hörer dieser Himmelsstimme, und es ist ausgeschlossen, dass er das dann seinen Jüngern weitererzählt hat. Deshalb entfällt diese scheinbar so einleuchtende und einfache Erklärung. Eins aber stimmt: Das ganze Evangelium ist durchzogen vom Gedanken der Gottessohnschaft, denn nicht nur die Himmelsstimme sagt ihm das; selbst der satanische Widersacher gibt zu, dass er um die Gottessohnschaft Jesu weiß, wenn er ihn in der Versuchungsszene mit der Aufforderung: „Wenn du der Sohn Gottes bist, dann sprich, dass aus diesen Steinen Brot wird, dann stürze dich da hinab!“, von seiner Sendung abzubringen sucht. So setzt es sich dann fort bis in die Verhörszene. Da wird er gleichsam durch den menschlichen Widersacher noch einmal gefragt: „Bist du Christus, der Sohn des lebendigen Gottes?“ Im Zentrum von alledem steht dann jene großartige Szene, in der Jesus an seiner eigenen Sendung und Identität irregeworden ist und in der er sich in seiner Herzensnot an seine Jünger mit der Frage wendet: „Für wen haltet ihr mich?“ Da nimmt sich Petrus ein Herz und antwortet: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes.“ Jesus reagiert geradezu enthusiastisch: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas. Nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.“ Das heißt: Aus dir hat die Himmelsstimme erneut zu mir gesprochen. Das ist der cantus firmus, der sich durch das Evangelium hindurchzieht. Wir aber müssen uns nun unter dem Eindruck der vorhin erhobenen Einwände ganz neu fragen: Wie kann das bewusstseinsgeschichtlich erklärt werden?

H: Und in diesem Zusammenhang muss erneut darauf hingewiesen werden: Alle diese Sätze sind im Licht der Auferstehung geschrieben. Es sind kerygmatische Texte, Verkündigungstexte, und es ist keine nacherzählende Biographie.

B: Das ist ein ganz wichtiger Gedanke, weil man im Grunde nie genug betonen kann, dass es das Evangelium nicht gäbe, wenn Jesus nicht auferstanden wäre. An den Lehren eines am Kreuze Hingerichteten hätte kein Mensch ein Interesse genommen; nur die Auferstehung erklärt die Entstehung des Evangeliums. Das aber hat dann die von Ihnen mit Recht angesprochene Konsequenz, dass alle Aussagen des Evangeliums im Licht von Ostern stehen. Von dort her ist dann allerdings klar, warum der Gedanke der Gottessohnschaft eine so große Rolle spielt; man darf nur an den Eingang des Römerbriefes denken: „Er wurde eingesetzt zum Gottessohn mit Macht durch die Auferstehung von den Toten.“ Wir aber haben die Aufgabe, das verstehend und glaubend nachzuvollziehen.

Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass sich die Lebensgeschichte Jesu viel dramatischer darstellt, als es gemeinhin gesehen wird. Ich sprach gerade eben von der Krisenstunde im Leben Jesu; das war die Reaktion auf den Massenabfall; am Anfang steht der riesenhafte Erfolg; die Menschen strömen ihm zu; sie begleiten ihn bis in die Steppe hinein, vergessen Essen und Trinken. Aber dann kommt es zu diesem großen Massenabfall, und Jesus steht einsam da und fragt: Wer bin ich eigentlich? Und dazu gehört dann auch, dass er von einem bestimmten Punkt an – das sagt vor allen Dingen das Lukasevangelium in aller Deutlichkeit – bewusst den Todesweg einschlägt. Er geht ganz zielsicher Jerusalem entgegen, obwohl er weiß: „Jerusalem, Jerusalem, du mordest die Propheten und steinigst die, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt. Ihr aber habt nicht gewollt.“ Er geht also auf die Stadt zu, von der er weiß, dass sie ihm den Tod bringt. Meine Erklärung knüpft nun daran an, und das muss auch im Zentrum der Neuen Theologie stehen, dass sich auf diesem Todesweg das Verhältnis Jesu zum Tod grundlegend änderte. Im anderen Fall wäre es der Weg eines Selbstmörders gewesen. Tatsächlich gibt es neuerdings die amerikanische Jesus-Biographie von Jack Miles, die genau das behauptet; doch das kann selbstverständlich unmöglich angenommen werden.

Nein, das Verhältnis zum Tod muss sich für Jesus signifikant geändert haben. Natürlich ist der Tod zunächst auch für ihn das, was er für jeden Menschen ist: das unabwendbare Schicksal, die große Herausforderung am Ende des Lebens und deswegen auch ein ihm von Gott zugewiesenes Verhängnis. Doch muss es schließlich dazu gekommen sein, dass Jesus den Tod nicht mehr als Schicksal und Verhängnis, sondern als Ansinnen und Aufgabe empfunden hat. Wenn das angenommen werden kann, haben wir die Lösung: Denn dann ist der Tod für ihn erstens der eigentliche Zielpunkt seiner ganzen Lebensgeschichte, so dass man geradezu sagen kann, dass er sein Lebenswerk nicht – wie wir Menschen erwartet hätten – durch eine grandiose Aktion, sondern durch die Passion, also durch sein Leiden und Sterben gekrönt hat. Vor allen Dingen muss sich dabei sein Gottesbild geändert haben: Gott war nicht mehr derjenige, der ihm das Todesschicksal auferlegte, sondern derjenige, der ihm den Tod als Aufgabe gestellt hat. Gott ist für ihn nicht mehr nur der Herr über Leben und Tod, sondern der ihn ins Haus seiner Liebe einladende Vater. Hier sehe ich den eigentlichen Durchbruch zum Gedanken an die Vaterschaft Gottes, wie er sich dann in der Gottesanrufung „Abba, Vater!“ artikuliert. Und korrespondierend dazu erblicke ich hier auch – zweitens – das Erwachen Jesu zum Bewusstsein seiner Gottessohnschaft; denn wenn Gott der Vater ist, ist er der Sohn.

H: Die gesamte Entwicklung hat also zwei Seiten: einmal das Verhältnis zu Gott und zum andern das Zu-sich-selbst-Kommen. In diesem Prozess wird ihm schließlich seine Aufgabe bewusst, die im Tod kulminiert und in der Auferstehung ihr eigentliches Ziel erreicht.

B: Es ist ja interessant, dass einer der größten Denker des ausgehenden Mittelalters, Nikolaus von Kues, das schon genauso gesehen hat. Er sieht die ganze Gottesoffenbarung als eine die ganze Weltgeschichte durchtönende Stimme. Sie erklingt zunächst einmal im Herzen des Menschen. Dann ruft Gott diese Stimme durch den Mund der Propheten in die Geschichte hinein; im letzten der Propheten, Johannes dem Täufer, wird sie dann zur Stimme des Rufenden in der Wüste. Nachdem sie in Jesus Mensch geworden ist, durchläuft sie eine ganze Reihe von unterschiedlichen Modulationen, bis sie schließlich im Todesschrei des Gekreuzigten ausklingt. Das entspricht nun genau dem, was Sie gerade gesagt haben: Es ändert sich jetzt das ganze Bild der Offenbarung, aber mit ihm zusammen auch das Bild des Lebenswerkes Jesu, und der Tod ist dann nicht mehr ein passives Geschehen, das ihm widerfährt, sondern die Tat, mit der er sein ganzes Lebenswerk krönt.

H: Aber jetzt muss ich doch noch einmal zu dem Ausgangsbegriff zurückkommen: Was heißt Gottessohn? Es sind ja alles Begriffe aus unserer Erfahrungswelt und sie können sicher so nicht direkt auf dieses Verhältnis angewandt werden, sondern nur analog, wie man in der Fachsprache sagt. Was bedeutet das jetzt?

B: Das bedeutet, dass Jesus in einem einzigartigen Verhältnis zu Gott steht, für das sich in unserer menschlichen Terminologie nur das Bild Vater – Sohn anbietet. Man könnte es etwas wissenschaftlicher ausdrücken: Er überschreitet das kreatürliche Verhältnis zu Gott und gewinnt ein genealogisches. Gott hört nicht auf, sein Schöpfer zu sein, aber er wird für ihn zugleich etwas vollkommen Neues: sein Vater; und von da an gestaltet sich das Verhältnis Jesu vollkommen neu. Ich muss allerdings noch einmal hinzufügen: Diese Überlegung schließt das Dogma von der Präexistenz Jesu, wonach er schon von Ewigkeit her Sohn Gottes ist, keineswegs aus. Wenn das Menschsein Jesu ernstgenommen werden soll, muss er jedoch lebensgeschichtlich das einholen, was er, dogmatisch gesehen, schon von Ewigkeit her ist. Das ist die These der Neuen Theologie zur Gottessohnschaft Jesu, die ihrerseits die Grundvoraussetzung unserer Gotteskindschaft ist.

H: Das wäre dann der Versuch, in der heutigen Kategorialität und mit heutigen Vorstellungen das Gleiche zu denken, was andere Epochen mit ihren Mitteln gedacht haben.

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