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6. Auferstehung – Dreh- und Angelpunkt des Christentums

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H: Die Einsicht, dass das Christentum nur eine sekundäre Schriftreligion ist, ist überzeugend. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wo ist nun das „primum movens“, der eigentliche Ursprung, der eigentliche Anstoß dafür, dass es zu einem solchen sekundären Niederschlag kommen konnte? Allein die historische Gegebenheit des Jesus von Nazareth scheint doch dafür nicht auszureichen.

B: Sie reicht ganz gewiss nicht aus, denn zu der am besten bezeugten Tatsache des Lebens Jesu gehört sein Tod am Kreuz. Es war, wie die Historiker der alten Zeit gesagt haben, die „turpissima mors crucis“, die er erlitten hat, den entsetzlichsten Kreuzestod, der nur Sklaven und Hochverrätern zugewiesen war. Er war also durch diesen Tod dem ersten Anschein nach total gescheitert. Außerdem lastete auf ihm aus jüdischer Sicht der Fluch Gottes, denn im Alten Testament steht der furchtbare Satz: „Verflucht sei jeder, der am Holze hängt.“

Jesus schien also in politischer, geistiger und religiöser Hinsicht vollkommen widerlegt und geächtet zu sein. Ohne dass jetzt etwas Grundstürzendes geschehen wäre, wäre das Christentum nie zu seiner gegenwärtigen Bedeutung gelangt, denn niemandem wäre es eingefallen, den Gedanken, Ideen, Lehren und Direktiven dieses total Gescheiterten nachzugehen und all dies am Schluss noch zu sammeln und Evangelienschriften zu verfassen.

Es muss also ein mächtiger Anstoß dazugekommen sein, und der bestand in seiner Auferstehung. Kurz nach dem Tod Jesu treten Frauen und Männer mit der ungeheuerlichen Aussage auf: „Ich habe den Herrn gesehen!“ Er ist nicht im Tod geblieben. Er lebt! Er ist mitten unter uns! Das hat natürlich einen vollkommenen Perspektivenwechsel nach sich gezogen. Der scheinbar Gescheiterte war gerade nicht gescheitert, sondern hat auf eine geheimnisvolle Weise am Kreuz seinen größten Triumph erlebt. Der scheinbar von Gott Verfluchte war keineswegs verflucht; vielmehr hat Gott ihm – wie es dann bei Paulus heißt – „einen Namen gegeben, der über allen Namen ist, so dass im Namen Jesu jedes Knie sich beugen muss, im Himmel, auf Erden und unter der Erde, und jede Zunge bekennen muss: Er ist der Herr“. Das hatte natürlich eine ungeheure Rückwirkung. Alles, was man jetzt noch von ihm in Erfahrung bringen konnte, war von höchster Bedeutsamkeit. So entstanden die Kollektionen seiner Worte und Weisungen, unter ihnen das als Logienquelle bekannte Spruchevangelium und auf dessen Grundlage die Evangelien.

Das muss gesehen werden und es wurde auch aufs Deutlichste von dem amerikanischen Exegeten, James M. Robinson, so gesehen, der dieses Spruchevangelium als das literarische Osterwunder bezeichnete. Das heißt dann folgerichtig: Wer das Neue Testament in Händen trägt, der besitzt die literarische Verifikation der Tatsache, dass Jesus auferstanden ist; denn ohne Auferstehung hätte es dieses Buch niemals gegeben. Doch das hat nach meinem Verständnis auch eine eminente Rückwirkung. Das besagt: Dieses Buch ist imprägniert von der Auferstehung Jesu. Auch die Dinge, die scheinbar ganz alltäglich sind, sind insgeheim vom Osterlicht beleuchtet. Das gilt vor allen Dingen für die Ereignisse des Lebens Jesu, vor allem aber für die Gottesentdeckung Jesu.

H: Damit ist das Verhältnis zwischen den Evangelien und dem Grundereignis, dem sich diese Schriften verdanken, geklärt. Nun hat aber zu allen Zeiten die Frage nach der Auferstehung oder Auferweckung Jesu dem Denkvermögen und der Vorstellung der Menschen außerordentlich große Schwierigkeiten bereitet, so dass es zahllose Theorien darüber gibt. Ich denke, man könnte vielleicht einfach das Ganze auf den Satz reduzieren: Er lebt. Würde damit nicht das Entscheidende gesagt sein?

B: Nach meinem Verständnis sehr wohl; denn all das, was in diesen Ostergeschichten gesagt wird, ist eigentlich nur eine Umschreibung dieses einen Tatbestandes: dass Jesus im Unterschied zu allen anderen Religionsstiftern nicht in die Vergangenheit abgesunken, kein Vergangener und Abwesender ist, sondern einer, der mitten in seiner Glaubensgemeinschaft lebt und darüber hinaus sogar in der ganzen Welt gegenwärtig ist. Die Auferstehung Jesu lässt sich in der Tat in diesen einen Satz zusammenfassen: Der am Kreuz Gestorbene lebt, und er lebt in den Seinen weiter.

H: Von hier aus eröffnet sich dann auch eine völlig neue Perspektive auf die Lebensgeschichte Jesu, vor allen Dingen auch auf die Kindheitsgeschichten und damit auf das Grundproblem der Inkarnation, der Menschwerdung. Wie stellen sich die angesprochenen Ereignisse aus der Sicht der Auferstehung dar?

B: So wie ich es vorhin schon angedeutet habe: Alles steht im Osterlicht, die Engel von Bethlehem und der Lichtglanz, der sie umflutet. Auch der Kerngedanke der Kindheitsgeschichten, die Jungfräulichkeit Mariens, muss als Konsequenz aus der Auferstehung Jesu begriffen werden. Die Auferstehung Jesu strahlt gleichsam auf die Mutterschaft Mariens zurück, deswegen ist Jungfräulichkeit keine physiologische Aussage, sondern – wie der Grazer Theologe Karl-Matthäus Woschitz gesagt hat – ein Würdeprädikat. Das gilt erst recht von der eigentlichen Lebensleistung Jesu. Jetzt aber muss erst einmal gesehen werden, worin diese Lebensleistung bestand, denn sie ist der Kern des Christentums. Sie ist – um es anders auszudrücken – die Mitte, die von der Neuen Theologie unter allen Umständen erschlossen und ans Licht gehoben werden muss. Wie früher schon gesagt wurde, stand das Christentum lange Zeit im Bann der Gewalt. Gewalt aber ist das diametral entgegengesetzte Prinzip zu dem, was Jesus gelebt, gewollt und getan hat. Er ist die Inkarnation der Gewaltlosigkeit, wenn man so sagen darf. Solange man in der Kirche Gewalt geübt oder auch nur billigend hingenommen hat, konnte die Mitte des Christenglaubens nicht voll erschlossen werden. Nachdem die Kirche jedoch im Zweiten Vatikanum in aller Form der Tradition der Gewalt abgeschworen und den Dialog zum Prinzip der Auseinandersetzung und der Begegnung erhoben hat, ist eine völlig neue Sachlage entstanden. Jetzt können wir zurück zur Mitte des Evangeliums, und jetzt stellt sich selbstverständlich die Frage: Was hat uns diese Mitte zu sagen? Worin besteht sie? Dabei geht es um die Frage nach der Gottesentdeckung Jesu.

H: Das besagt: Ohne das Festhalten an der Auferstehung kann es kein Christentum geben. Und der Versuch, den man ja heute immer wieder antreffen kann, die Auferstehung zu marginalisieren oder völlig auszuschalten, bedeutet, das Christentum aufzugeben.

B: Das kann ich nur unterstreichen. Ich halte das für das eigentliche Verhängnis der gegenwärtigen Glaubenssituation, dass sogar in theologischen Kreisen beider Konfessionen diese Marginalisierung stattfindet und dass man den Eindruck erweckt, dass wir ohne die Auferstehung von Jesus alles Wesentliche gewusst haben könnten. Ich habe vorhin deutlich zu machen versucht, dass das völlig ausgeschlossen ist. Ich wiederhole mich noch einmal: Den Lehren eines derart radikal Gescheiterten und schließlich von Gott Verfluchten hätte doch kein Mensch die mindeste Bedeutung geschenkt, wenn er nicht auferstanden wäre. Die Auferstehung ist die „conditio sine qua non“, der einzig einleuchtende und durchschlagende Grund, dass es das Christentum überhaupt gibt! Deswegen nun die Frage nach dem, was die Auferstehung von der Lebensgeschichte Jesu ans Licht hebt, und das ist die Frage nach dem Gottesbild Jesu.

H: Das wäre zugleich das zentrale Unterscheidungsmerkmal gegenüber allen anderen Religionen, nämlich das Verständnis Gottes. Wenn ich das richtig verstehe, hat sich dieses Gottesverständnis im Vollzug des Lebens Jesu entwickelt. Es kommt wohl erst in seinem Tod zum endgültigen Durchbruch.

B: Das ist auch meine Meinung, denn selbstverständlich muss endlich der Grundsatz des Christentums „vere Deus et homo“ – „er ist ebenso wahrer Gott wie wahrer Mensch“ – ernst genommen werden. Zum wahren Menschsein aber gehört eine Bewusstseinsentwicklung. Zum wahren Menschsein gehört der Weg des Menschen zu sich selbst, der über Fragen, vielfach auch über Zweifel hinwegführt. Wenn man unvoreingenommen in die Lebensgeschichte Jesu, wie sie von den Evangelien dargestellt wird, hineinschaut, sieht man das vollauf bestätigt. Er musste Fragen stellen, er hatte Zweifel. Er zweifelte sogar an seiner Identität. Er muss an die Jünger herantreten mit der Frage: „Wisst ihr, wer ich bin?“ Und dann diese großartige Szene im Matthäusevangelium, wo sich Petrus ein Herz nimmt und ihm sagt: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“, und wo das von Jesus geradezu enthusiastisch aufgenommen wird: „Selig bist du, Simon, Sohn des Jonas, nicht Fleisch und Blut haben dir das geoffenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist.“ Aus dem Mund des Freundes hat er die Stimme Gottes vernommen, die ihm schon bei der Taufe zugesichert hat: „Du bist mein vielgeliebter Sohn.“ Die Lebensgeschichte Jesu geht somit über Brüche und über Fragen und Zweifel hinweg zur definitiven Klärung, die – wie Sie bereits gesagt haben – ihren endgültigen Zielpunkt erst im Tod erreicht hat. Deswegen wird man über den Tod Jesu immer wieder neu nachdenken müssen.

H: Diese Problematik ist geeignet, uns noch einmal die Differenz zwischen der klassischen, traditionellen Theologie und Ihrem Ansatz bewusst zu machen. Was Sie, Herr Kollege Biser, im Anschluss an das Neue Testament über das Verhältnis Jesu zu seinem Vater, dem lebendigen Gott, dargelegt haben, bringt die klassische Dogmatik auf den Begriff: Sie spricht von der „hypostatischen Union“. Gemeint ist damit, dass die menschliche Natur Jesu in die Einheit der zweiten göttlichen Person aufgenommen ist, so dass die eine göttliche Person des Logos die göttliche und die menschliche Natur als ihr eigen besitzt. Auch wenn man diesen Sachverhalt – wie geschehen – mit deutschen Worten formuliert, lässt er sich ohne genaue Kenntnis des zugrundeliegenden Denkmodells griechischer Metaphysik weder verstehen noch vermitteln. Darin zeigt sich exemplarisch die Dringlichkeit und die Notwendigkeit, die Kategorien der traditionellen Dogmatik auszutauschen und die Inhalte neu zu überdenken und auf eine heute verstehbare Weise zur Sprache zu bringen.

B: Schon in den Paulusbriefen gibt es eine dem nahekommende Aussage: die sogenannte Präexistenzaussage. Da erklärt Paulus der Gemeinde von Korinth: „Wir haben nur einen Gott, durch den alles ist und für den auch wir sind“; und wir haben nur einen Herrn Jesus Christus, durch den alles ist und durch den auch wir sind“ (1 Kor 8,6). Die Paulusschule hat das dann zu dem Satz fortentwickelt: „Alles ist in ihm geschaffen, das Sichtbare und das Unsichtbare, Engel, Mächte und Gewalten. Alles ist für und durch ihn geschaffen und das All hat in ihm Bestand.“ Das ist im Grunde doch das, was mit der hypostatischen Union gemeint ist, und es wäre selbstverständlich eine Hilfe, dieses Dogma auf neue Weise verständlich zu machen.

H: Sie haben mit großem Nachdruck auf die Dimension des Menschseins in Jesus Christus hingewiesen. Um diesen Aspekt richtig zu fassen, müssen wir uns in einem nächsten Gespräch die Frage stellen: Was ist eigentlich der Mensch? Die Antwort eröffnet den angemessenen Zugang zum Christusgeheimnis.

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