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4. Unterscheidung des Christentums

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H: Nach dem Verständnis der klassischen, traditionellen Theologie ist das Neue Testament das normative Grunddokument des Christentums. Es sei unter dem Einfluss des Geistes Gottes entstanden und deshalb irrtumsfrei. Wie lässt sich dieser Sachverhalt mit ihrer These, Herr Kollege Biser, das Christentum sei eine sekundäre Schriftreligion, vereinbaren? Wird damit nicht die Schrift zur Zweitrangigkeit degradiert?

B: In gewisser Hinsicht, ja! Aber das hat natürlich einen ganz konkreten Hintergrund, denn die Schriften der großen Religionen haben ganz unterschiedliche Bedeutung. Es gibt primäre Schriftreligionen, wie beispielsweise den Islam oder auch das Mormonentum. Davon muss das Christentum abgegrenzt werden, und das aus Gründen, die wir im weiteren Gespräch sicher noch klären werden.

Zunächst klingt das Ganze komplizierter als es ist. Es soll mit dieser These ja nur zum Ausdruck gebracht werden, dass das Christentum erst nachträglich zu einer Schriftreligion geworden ist; denn Jesus hat ja bekanntlich selber weder geschrieben noch irgendjemandem den Auftrag gegeben, seine Lehren und Weisungen aufzuzeichnen. Es muss also gezeigt werden, wie das Christentum trotz dieses anderen Verhaltens Jesu dann doch eine Heilige Schrift hervorgebracht hat.

Das hatte mehrere Gründe: Zunächst einmal gab es eine Heilige Schrift, die auch von den Christen benutzt wurde; das war das Alte Testament. Zum zweiten war das Christentum in den Kulturkreis der griechischrömischen Literatur eingebettet, der ganz hervorragende Schriftwerke hervorgebracht hatte; es war sozusagen eine orale Insel in einer schriftlichen Welt. Das drängte von Haus aus darauf, dass ein Ausgleich herbeigeführt wurde.

Aber es kamen noch ganz andere Dinge hinzu, auf die Martin Luther hingewiesen hat. Er sagte: „Der Not gehorchend sind Bücher geschrieben worden.“ Das war „ein großer Abbruch“ – wie er sich ausdrückt – und „ein Gebrechen des Geistes“, denn das Evangelium ist von Haus aus mündliche Verkündigung, keine schriftliche Dokumentation. Das steht im krassen Gegensatz zu Islam und Mormonentum. Nach der islamischen Legende erscheint der Erzengel Gabriel dem Muhammed mit einem seidenen Tuch in der Hand, über und über beschrieben mit heiligen Zeichen – es ist der himmlische Koran. Und er presst ihm dieses Tuch auf das Gesicht und befiehlt ihm zu lesen. Muhammed gesteht: Ich kann nicht lesen; er drückt noch stärker und das dritte Mal befiehlt er ihm im Namen des barmherzigen und allmächtigen Gottes zu lesen; und auf einmal kann er lesen. Nach einer anderen Tradition diktiert der Erzengel Muhammed den Text, der ihn alsdann niederschreiben lässt. So entsteht der Koran als primäre Schriftreligion. Joseph Smith, der Begründer des Mormonentums, bekommt durch den Engel Mormon die goldenen Platten mit der Aufzeichnung des Heiligen Buches. Auch das ist der Fall einer primären Schriftreligion. Das Christentum ist es erst in sekundär-nachträglicher Weise geworden.

Wenn wir jetzt noch einmal zurückblenden dürfen auf das Lutherwort von der Not, die zur Abfassung der neutestamentlichen Schriften führte, so stellt sich die Frage: Worin bestand diese Not? Sie bestand zunächst einmal im Wegsterben der Augenzeugen, welche die Botschaft Jesu aus seinem Mund übernommen hatten. Sie konnten nicht mehr befragt werden. Um das Ganze gegen Irrtum, Verfälschung und Verlust zu sichern, musste es deshalb dokumentiert werden. Aber dann gab es noch eine zweite Not, das war das machtvoll expandierende Missionsfeld des Apostels Paulus. Paulus konnte beim Auftreten von Schwierigkeiten nicht sofort zu den einzelnen Gemeinden reisen. Stattdessen benutzte er das damals modernste Medium schriftlicher Kommunikation und schrieb ihnen einen Brief. Und aus dem Grundstock der Paulusbriefe entwickelte sich dann das Neue Testament als Urkunde einer sekundären Schriftreligion.

H: Damit ist natürlich über den Charakter dieser Schrift Entscheidendes ausgesagt, das heißt, die gängige Redensart, das Neue Testament sei das Wort Gottes – in der Liturgie hören wir das ständig –, kann so wohl nicht richtig sein! Es muss also, wie Sie an anderer Stelle gesagt haben, von Christus her gelesen werden, nur dann kommt es zu seiner eigentlichen Aussage. Das aber hat wiederum eine praktische Konsequenz: Kann der einfache Christ ohne irgendeine Anleitung das Neue Testament lesen?

B: Er kann es; er muss sich nur einmal vergegenwärtigen, worauf das Neue Testament zurückgeht. Es geht zurück auf Jesus Christus, der nach christlichem Verständnis der Gesandte Gottes war, sogar der menschgewordene Gott, der am Herzen der Vaters die Kunde vernommen und sie an die Menschen weitergegeben hat. Das Neue Testament ist nach meinem Verständnis die authentische Dokumentation dieser Botschaft. Das heißt, in diesen Schriften, und nur in ihnen, liegt die Authentizität der Botschaft vor. Das heißt aber nicht, dass sich darin nicht auch menschliche Implikationen finden. Die Botschaft konnte ja nur so aufgeschrieben werden, wie sie verstanden worden ist, und es gibt nirgendwo eine Garantie dafür, dass sich in dieses Verständnis der Urkirche nicht auch Missverständnisse eingeschlichen haben. Im Gegenteil: Im Evangelium beklagt sich Jesus oft und oft über das unzulängliche Verständnis seiner Jünger. Wenn das aber am grünen Holz geschah, wie sollte es dann am dürren Holz der nachfolgenden Generation besser werden?

Und deswegen meine Idee für den einfachen Bibelleser: Er muss Jesus als leibhaftigen Schlüssel an jeden Satz des Neue Testaments herantragen. Das ist das von Gott selbst gegebene Korrektiv, das ist wissenschaftlich ausgedrückt das originäre Interpretament. Wenn das geschieht, dann erlebt der Bibelleser ein kleines Wunder: Stellen, die ihn irritiert haben, Stellen, die ihn bedroht haben, Stellen, die ihn in Angst und Schrecken versetzt haben, verblassen, aber andere Stellen, über die er hinweggelesen hat, die ihm fast bedeutungslos erschienen, beginnen plötzlich zu leuchten. Und er begreift sie als die zentralen Aussagen der Botschaft Jesu. Ich möchte das an einem Beispiel erläutern. Der bereits erwähnte dänische Existenzdenker Kierkegaard las am Sockel der Christusstatue in der Frauenkirche von Kopenhagen das Wort: „Kommt her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen; ich will euch aufrichten.“ Obwohl er im Zweifel war, ob es sich dabei um ein originäres Jesuswort handelt, war er doch davon überzeugt, dass Jesus mit der stillen Beredsamkeit seines Lebens und Verhaltens nie etwas deutlicher zum Ausdruck brachte als dieses Wort. Und er baute darauf sein großartiges Jesusbuch auf, die „Einübung im Christentum“.

H: Das bedeutet aber, dass der Anspruch von der Irrtumsfreiheit nur unter diesem Aspekt gesehen werden darf. Und damit scheint mir auch jeder Versuch, einen Schriftfundamentalismus zu begründen, von vornherein als unmöglich erwiesen. Sie haben in Ihrer Charakterisierung des Christentums einen zweiten Gedanken vorgetragen, der außerordentlich wichtig und zugleich nicht selbstverständlich ist: Sie sagen, das Christentum sei keine asketische Religion. In unserem traditionellen Verständnis spielt die Askese im Christentum eine sehr zentrale und zum Teil geradezu dominierende Rolle. Was ist dazu zu sagen?

B: Noch einmal dasselbe wie im ersten Fall. Im ersten Fall ging es um die Abgrenzung des Christentums vom Islam. Ein Thema, über das angesichts des schwierigen Verhältnisses zu dieser Weltreligion sorgfältig nachgedacht werden muss. Im zweiten Fall geht es um die Abgrenzung vom Buddhismus. Wir befinden uns hier in der Bibliothek von Romano Guardini. Guardini war der Meinung, dass die große Auseinandersetzung des Christentums mit anderen Weltreligionen im Zeichen des Konflikts mit dem Buddhismus stehe; der Buddhismus übt ja tatsächlich eine wachsende Faszination auf viele Christen aus. Man könnte darüber nachdenken, warum? Vermutlich, weil nach Ansicht vieler nach Spiritualität verlangender Christen, die Kirchen den großen Schatz der Mystik unter Verschluss gehalten haben, und weil sie von der Kirche das nicht zu bekommen meinen, was sie ersehnen und benötigen. Das reiche Meditationsangebot des Buddhismus ist wohl der Hauptgrund, weswegen Guardini die Auseinandersetzung mit dem Buddhismus als zentrale Zukunftsaufgabe des Christentums ansah. Inzwischen haben sich die Zeitverhältnisse signifikant geändert. Der 11. September 2001 hat den Islam in einer vorher ungeahnten Weise in den Vordergrund gerückt. Nun geht es darum, auch zu ihm trotz dieses Traumas ein konstruktives Verhältnis zu gewinnen.

Doch zunächst noch ein Wort zum Buddhismus. Der Buddhismus zeichnet sich durch eine anthropologische Kühnheit aus. Er versucht, die Konfliktbereitschaft des Menschen und damit die Wurzel aller Auseinandersetzungen, aller Feindschaften und Kriege dadurch zu beseitigen, dass er dem Menschen die Gier abgewöhnt, die Gier zu erkennen, die Gier zu gelten, die Gier zu besitzen, die Gier nach Lust und Gewinn; und schließlich sogar die Gier nach sich selbst. Das erreicht er im Nirwana. Ziel der buddhistischen Meditation ist der Zustand der absoluten Bewusst- und Wunschlosigkeit; wenn der Mensch dorthin geführt wird, hört er auf, ein konfliktbereites und aggressives Wesen zu sein. Das ist zweifellos ein unglaublich kühner Versuch, die zwischenmenschliche Problematik zu lösen.

Die christliche Askese, auf die Sie mich angesprochen haben, verfolgt eine ganze andere Strategie. Diese Strategie besteht nicht in dem Versuch, menschliche Triebe und Leidenschaften zu unterdrücken, sondern in dem gegenteiligen Bemühen, alle Kräfte auf das vom Evangelium vorgegebene Hochziel zu konzentrieren und alles abzustoßen, was von diesem Ziel abhält. Das ist der kathartische Sinn der christlichen Askese, der komplette Gegensatz zur buddhistischen.

H: Das würde aber bedeuten, dass die Praxis der Askese im Laufe der Geschichte des Christentums keineswegs in dem von Ihnen dargelegten Sinne verlaufen ist, sondern dass sie in der Tat zum Teil zur Selbstzerstörung des Menschen beigetragen hat. Und nun noch ein weiterer Schritt: Sie sprechen davon, das Christentum sei keine moralische Religion – das klingt zunächst sehr provozierend –, aber Sie fügen gleich hinzu: Es hat eine Moral. Damit ist wiederum das Ganze des Christentums betroffen. Und wiederum fällt ein völlig neues Licht auf das Christentum als Religion, wenn man überhaupt vom Christentum als Religion sprechen will.

B: Das ist zweifellos richtig, aber diese moralische Abgrenzung ist wiederum notwendig, und zwar im Blick auf das Judentum. Das Judentum ist eine genuin moralische Religion. Dem Juden ist das Gesetz Gottes in die Hand gegeben, und es ist seine Berufung und seine Auszeichnung, dass er Tag und Nacht über dieses göttliche Gesetz nachdenken kann, um ihm immer neue Wegweisungen und Direktiven entnehmen zu können. Das Gesetz ist für das Judentum zentral, für das Christentum ist es sekundär. Und das heißt, wir müssen sehen, wo das Schwergewicht des Christentums liegt, und das liegt für mich in der Mystik. Karl Rahner, der heute neu entdeckt werden müsste, hat sich von seinem großen Lebenswerk mit dem Satz verabschiedet: „Der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird überhaupt nicht sein.“ Das war für mich der Anlass, diese Grenzziehung zu vollziehen und zu sagen: Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion. Das heißt selbstverständlich, dass das Christentum sehr wohl eine Moral hat; indessen besteht die Ironie darin, dass das Christentum sich seiner wirklichen Moral noch gar nicht voll bewusst geworden ist. Es praktiziert eine Moral der Abgrenzung, aber nicht der Immunisierung – das wäre erst die eigentliche Moral: Dem Menschen muss ein Prinzip eingestiftet werden, das ihn zum Denken, zum Ansinnen und zum Wollen des Bösen unfähig macht. Erst wenn das einmal ans Licht gebracht ist, ist die Rolle der Moral im Christentum wirklich geklärt.

H: Damit sind Linien abgesteckt, von denen aus in einem weiteren Gespräch das Verhältnis zu den anderen Weltreligionen ausführlicher erörtert und vertieft werden kann.

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