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Territoriale Revolution – Reform – Kirche im deutschen Protestantismus

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Schon für die Periode nach dem Westfälischen Frieden von 1648 hatte Karl von Hase (1800–1890) in seiner „Kirchengeschichte“ festgehalten: „Die Kirche ist tief ergriffen worden von diesen schmerzlichen Zuckungen, aber nicht mehr als die erste bewegende, sondern als die zweite in den Streit der Völker hineingerißne Macht, mitkämpfend, mitleidend und tröstend“ (Leipzig 21836, 502). Das Urteil Hases gilt in verstärktem Maß für das Zeitalter der Französischen Revolution. Die Ereignisse der Jahre 1789 bis 1799 zeigten es; ebenso die Herrschaft Napoleon Bonapartes (1769–1821), ebenso die Politik der deutschen Könige und Fürsten. Nach Anbruch des neuen Jahrhunderts waren es die Gebietsverschiebungen, die Bildung neuer Länder und die staatliche Reformpolitik, welche die Kirchen in die Gefahr brachten, zu einem bloßen Anhängsel der Politik zu werden.

1792 hatten französische Revolutionstruppen die Gebiete links des Rheins besetzt. Von 1801 bis 1814 waren Land und Bevölkerung aus dem deutschen Staatenkreis ausgegliedert. Die deutsche Bevölkerung gehörte dem französischen Staat an. Die Protestanten in diesen überwiegend katholischen Regionen begrüßten die ihnen durch Frankreich geschenkte Freiheit, da sie in der Vergangenheit oft zurückgesetzt worden waren. Von eigenständigem kirchlichen Leben und selbst verantworteter Kirchenorganisation konnte aber keine Rede sein. Die Kirchen wie der Adel waren enteignet, es galt die französische Gesetzlichkeit. In den napoleonischen Familienstaaten, den sogenannten Napoleoniden, wie dem Königreich Westphalen mit Regierungssitz in Kassel sowie den Großherzogtümern Berg und Frankfurt, sah es für die Kirchen und Gemeinden nicht anders aus. Die Napoleoniden dienten als Modell- und Musterstaaten bei der Beseitigung des Ancien Régime und der Angleichung an das Grand Empire.

Durch den Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 fand die Entschädigung der deutschen Fürsten für ihre linksrheinischen Gebietsverluste statt. Als Entschädigungsmasse dienten die geistlichen Territorien rechts des Rheins, teilweise auch protestantisches Kirchenland und -gut. Die Säkularisation ging mit der Reduktion der mehr als tausend kleinen und kleinsten Herrschaften des Alten Reiches auf wenig mehr als drei Dutzend Staaten und mit der Verringerung der Zahl der Reichsstädte von 48 auf sechs einher. Die territoriale Revolution schuf neue Länderstrukturen, was den Herrschern und ihren Bürokratien eine gewaltige Reformarbeit abverlangte. Die Kirchen wurden in den nunmehr gemischtkonfessionellen Territorien Objekt der staatlichen Modernisierungsoffensiven. Die Bedürfnisse staatlicher Integration nahmen auf kirchliche Eigenarten wenig Rücksicht. Andere Gesichtspunkte standen im Vordergrund: die Herstellung der konfessionellen Parität zwischen Protestanten und Katholiken, die Durchsetzung der staatlichen Kirchenhoheit bei Ablösung älterer Patronats- und Sonderrechte, die Schulund Universitätsreform. In den Staaten Süd- und Südwestdeutschlands erinnerte die Reformpolitik an den aufgeklärten Absolutismus, war aber pragmatisch schärfer, vielgliedriger und effizienter. Schwer berechenbare Glaubens- und Frömmigkeitsformen galten als staatsgefährlich. Die Bürokratien förderten deshalb ein der Staatsräson dienliches „vernünftiges“ Christentum. In Württemberg erstreckte sich die staatliche Regelung der Kirchenangelegenheiten bis auf die Haar- und Barttracht der Geistlichen.

In Preußen suchten die staatlichen Reformer das Zusammenspiel mit Volk und Bürgern. Dieses Reformkonzept schien zunächst für die Kirchen günstig zu sein. Im Auftrag von Karl Freiherr vom Stein (1757–1831) erarbeitete Friedrich Schleiermacher (1768–1834) 1808 den „Entwurf einer neuen Kirchenordnung der Preußischen Monarchie“. Nach Steins Entlassung brach aber auch in der preußischen Kirchenpolitik die politische Logik der Staats- und Verwaltungsreform mit Macht durch. Umso mehr griff die Staatsüberfremdung der Kirche um sich. „Sire“, klagten die Superintendenten Niederschlesiens im März 1809 in einer Eingabe an den König, „geben Sie die protestantische Kirche sich selber wieder. Was wir haben, ist ein bloßer Schatten des Vergangenen“ (Goeters – Rogge, Anfänge 57). Ob man auf das linke Rheinufer blickte, auf die napoleonischen Familienstaaten, auf Süd- und Südwestdeutschland oder auf die preußische Monarchie, überall befanden sich die Kirchen im Sog etatistisch-bürokratischer Modernisierungen. Unberührt von der Reformwelle, die im Verein mit der territorialen Revolution von 1803 als „deutsche Fürstenrevolution“ charakterisiert wird, blieben die Staaten Mittel- und Norddeutschlands. In Sachsen und in den beiden Mecklenburg stand die Uhr der inneren Erneuerung noch still.

So wichtig die Reformen in den deutschen Gebieten für Staat und Verwaltung, für Bildung und Kultur waren, für die Kirchen warfen sie schwerwiegende ekklesiologische und kirchenorganisatorische Probleme auf. Das Emporsteigen der „Kirchenfrage“ nach 1815 war eine Gegenreaktion auf die Behandlung der Kirchen im Dienst staatlicher Zwecksetzungen. Was die Jahre der Reformen in all ihren regional unterschiedlichen Ausprägungen für die protestantische Kirchengeschichte bedeuten, ist bisher noch nicht detailliert genug und noch nicht in vergleichender Perspektive erfasst.

Ökumenische Kirchengeschichte

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