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Die Ökumene der Erweckung

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Erweckung, Revival, Réveil – die Begriffe wurden im 19. Jahrhundert in den drei Hauptsprachen Europas und Nordamerikas heimisch. Der semantische Befund verweist auf eine historische Tatsache: Die Erweckung war eine machtvolle Bewegung, und sie überschritt Religionen, Länder und Kontinente. Ein biblischer Bezugspunkt fand sich im Neuen Testament: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, so wird Christus dir als Licht aufgehen“ (Eph 5,14). Einer der wortgewaltigsten Theologen der Erweckung, Gotttreu August Tholuck (1799–1877), setzte bei eben diesem Weckruf an: „… und die große Riesenleiche erstand von ihrem langen Schlaf und fühlte neue Kräfte durch die Adern gehen und einen Odem von Jenseits in ihrem erstorbenen Herzen“ (Guido und Julius, Hamburg 1823, Vorwort). Tholuck stand nicht am Anfang der Erweckung. Die Bezeichnung Erweckung begegnete schon bei August Hermann Francke (1663–1727). Als Inbegriff einer neuen Frömmigkeitswelle seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts benutzte sie der Zürcher Pfarrer und Physiognomiker Johann Kaspar Lavater (1741–1801). Über Anfang, Höhepunkt und Ausklang der Erweckungsbewegung gehen die Meinungen der Forschung auseinander. Anhänger der Frühdatierung sehen sie seit 1770 emporsteigen. Andere Autoren nehmen die Zeit um 1800 als Wasserscheide, während Vertreter der Spätdatierung meinen, die Erweckung habe sich in ansehnlicher Form erst nach 1815 entfaltet. Die unterschiedlichen Datierungen sind Akzente, nicht einander ausschließende Positionen. Am uneindeutigsten ist der Ausklang. Ebbte die Erweckungsbewegung in den 1840er Jahren ab? Falls ja, wäre die Gemeinschaftsbewegung der 1880er Jahre der Beginn einer nochmals neuen Erweckung.

Einigkeit besteht darin, dass die Erweckung die mächtigste protestantische Frömmigkeitsbewegung nach dem Pietismus des 17./18. Jahrhunderts war. Wahrscheinlich erzeugen die Eigenarten des neueren Protestantismus – das Prinzip der philologisch-historischen Kritik, der scharfe Drang zur Selbstüberwachung des Christentums im Horizont des neuzeitlich-modernen Wahrheitsbewusstseins und anderes mehr – von Zeit zu Zeit Korrektive. Die Korrektive zielen auf Abbau des „Denküberhangs“ zugunsten lebendiger Glaubenserfahrung und tätigen Christseins. Große Theologen wie Luther, Calvin (1509–1564) und Schleiermacher, die in der vordersten Reihe der Christentumsgeschichte stehen, brachte die Erweckungsbewegung nicht hervor. Selbst die bedeutendsten Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts – Charles G. Finney (1792–1875) und Dwight L. Moody (1837–1899) in Nordamerika, Thomas Chalmers (1780–1847) in Schottland, Adolphe Monod (1802–1856) in Frankreich, Isaac da Costa (1798–1860) in den Niederlanden, Aloys Henhöfer (1789–1867) in Baden, Tholuck in Halle, Johann Heinrich Volkening (1796–1877) im Sieger- und Ravensberger Land – sind heute nicht einmal mehr den Eingeweihten allgemein bekannt. Der Grund dafür liegt in der Erweckung selber. Viele sollten berufen sein, so verstand sich die Erweckung als umfassende Missionsbewegung, doch nur wenige waren auserwählt. Ganze Gebiete blieben von der Erweckung unberührt. Andere Regionen wurden bis tief in die Pfarrer- und Theologenschaft von ihr durchdrungen. Die evangelisatorischen und karitativen Anliegen der Erweckung brachten eine eigene Welt hervor. Bibelverbreitung, Heidenmission und Bekämpfung des Unglaubens setzten die Schwerpunkte. In der kontinentaleuropäischen Bewegung vollzog sich die Erweckung eher in kleineren Gruppen und in der persönlichen Begegnung. Im nordamerikanischen Second Awakening finden wir demgegenüber riesige Camp-Meetings, Massenveranstaltungen unter freiem Himmel.

Unter den Begriffen Erweckung, Revival, Réveil und Awakening verbergen sich höchst vielfältige Phänomene. Die Bestimmung von Einheit und Differenz der Erweckung ist ein ungelöstes Problem. Eingebettet in die konfessionellen Kulturen ihrer Ursprungsregionen, hatten die Erweckungsbewegungen in Deutschland, der Schweiz, Skandinavien, Schottland, Nordamerika teil am Calvinismus, Luthertum, Methodismus, Baptismus und sogar am Katholizismus. Im Allgäu gab es die katholische Erweckung im Kreis um Bischof Johann Michael Sailer (1751–1832). Am ehesten identisch waren die Erweckten in ihrer Mentalität. Von der Frömmigkeit der Bibel belebt, wollten sie sich rings um den Erdball die Hände reichen: vereint in der Hoffnung auf Gottes Reich, gemeinsam besorgt über Glaubensabfall und -erschlaffung der Gegenwart und wechselseitig legitimiert durch das Zeugnis ihres persönlichen Glaubens. Ein starker Motor der Erweckung war das gemeinsame „Nein“ gegen den rationalistischen Typus des Aufklärungschristentums. Reinhold Seeberg (1859–1935) sah hier die „faszinierende Gewalt von Schlagwörtern“ wirken (Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert, Leipzig 31910, 57). Tatsächlich war der Bruch der Erweckung mit der Aufklärung nicht so radikal, wie es das erweckliche Selbstverständnis nahe zu legen schien. Das Vereinswesen der Erweckungsbewegung setzte die Sozietätstraditionen des 18. Jahrhunderts fort. Manche Erweckte waren zeitweise Freimaurer. Der Individualaspekt der Frömmigkeit im Kontrast zur Allgemeinheit des Kirchenglaubens wies gleichfalls in die Aufklärung zurück, bis zu einem gewissen Grade auch die Sozialarbeit der Erweckung und auch der interkonfessionelle Toleranzgedanke. Kontinuität und Diskontinuität der Erweckung zur Aufklärung standen zivilisationsgeschichtlich im Zusammenhang mit der „Dialektik der Aufklärung“.

Zahlreiche religiöse Erbauungsgesellschaften, Nachrichtenblätter, Traktate, die Bibel, Harmonium und Posaune, Armen- und Waisenhäuser und Missionsstationen gaben der Erweckung ihr charakteristisches Gepräge. 1846 entstand aus den ökumenischen Impulsen der Erweckung in London die Evangelische Allianz. Ihre Mitglieder waren, wie es in der Gründungserklärung hieß, „tief davon überzeugt, dass es erwünscht ist, auf der Grundlage großer, von ihnen gemeinsam vertretener evangelischer Grundsätze einen Bund zu schließen, der den Gliedern der Kirche Christi die Möglichkeit bietet, brüderliche Liebe zu pflegen, sich christlichen Austauschs zu erfreuen und solche weiteren Ziele zu verfolgen“ (Rouse – Neill, Geschichte Bd. 1, 438f.). Der 1844 ebenfalls in London gegründete Christliche Verein Junger Männer (CVJM) umfasste zwölf Jahre später 320 Vereine in Europa und Amerika. 1855 schloss er sich auf Initiative Henri Dunants (1828–1910) in Paris zum CVJM-Weltbund zusammen.

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