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4. Kapitel: Organisationsstrukturen Staatskirchen, Freikirchen, Sondergemeinschaften

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Vielfältig wie Frömmigkeit und Theologie waren auch die Organisationsverhältnisse des Protestantismus. In den deutschen Ländern herrschte das System der Landeskirchen, das zugleich ein – gebremstes – Staatskirchensystem war. Die oberste Kirchengewalt lag beim Landesherrn. Die personale Verklammerung von Kirche und Staat durch den Herrscher als summus episcopus unterschied sich zwar vom System der Staatskirchenhoheit des Anglikanismus und Skandinaviens, vor allem in Schweden, tendierte aber in die gleiche Richtung. In Preußen war der König eifervoll-unklug genug, in seine Summepiskopatsrechte auch noch das ius liturgicum einzubeziehen. 1822 führte er zur Förderung der Union eine selbstverfasste Agende ein. Die Folge war der sich eine Reihe von Jahren hinziehende preußische Agendenstreit. In ihm ging es um das liturgische Selbstgestaltungsrecht der Kirche und um die zweifelhafte theologische Qualität der königlichen Vorgabe. Noch 1829 zählten die Statistiker 1.322 preußische Prediger, welche die Agende ablehnten (Nowak, Geschichte 78). War es nur liturgische Liebhaberei, dass diese Agende sich nicht allein an Formulare der Reformation anlehnte, sondern auch an die bischöfliche Staatskirche in England und an die Liturgie der Kirche Schwedens? Das Ziel des Königs war eine bischöfliche und konsistoriale Kirchenverfassung mit dem summus episcopus als Spitze unter partieller Zulassung von presbyterialen und synodalen Elementen. Die Einrichtung des Evangelischen Oberkirchenrats in Berlin 1850 unter Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) brachte keinen wirklich grundlegenden Schritt in die Richtung kirchlicher Selbstorganisation. Der Evangelische Oberkirchenrat war jetzt von der Staatsregierung unabhängig, dafür aber unmittelbar dem König unterstellt. Theologisch und kirchenpolitisch zog die Ausübung des Landesherrlichen Kirchenregiments, welche den Kirchen nur begrenzte und oft mühevoll errungene Autonomiespielräume gewährte, zahlreiche Konflikte nach sich. Der Kampf um größere Freiheit der Kirche vom Staat führte in Preußen zur Kirchengemeinde- und Synodalordnung von 1873 und zur Generalsynodalordnung von 1876. Das System des Landesherrlichen Kirchenregiments in Preußen wie überall in den deutschen Ländern endete erst in der Novemberrevolution 1918 mit der Abdankung der Könige und Fürsten.

In Skandinavien, neben dem Mutterland der Reformation Kerngebiet des Luthertums, nahm die Kirchenorganisation unterschiedliche Prägungen an. Eine regelrechte Staatskirchenorthodoxie bestand in Schweden. Abweichungen vom Luthertum wurden auf der Grundlage des Konventikelgesetzes von 1726 mit Gefängnis- und Geldstrafen geahndet. Zudem bedrohte ein altes Reichsgesetz von 1686 den Austritt aus der lutherischen Kirche mit Gefängnis, Ausweisung, Verlust des Erbrechts. Ein königlicher Antrag von 1857 zur Beseitigung des Konventikel- und des Austrittsgesetzes fand im Reichstag keine Mehrheit. Gleichwohl setzte bald eine Liberalisierung ein. 1870 genehmigte der Reichstag allen christlichen Dissidenten wie auch den Juden den Zugang zu Staatsämtern und zur Mitgliedschaft im Reichstag. 1879 wurde wegen der inzwischen recht zahlreichen Methodisten und Baptisten die Zivilehe möglich.

In Norwegen erlebte das lutherische Staatskirchentum bereits seit 1799 eine tief greifende Erschütterung, und zwar durch das Wirken des von der Erweckungsbewegung geprägten „Bauernpastors“ Hans Nielsen Hauge (1771–1824). Da laut Gesetz von 1741 die Laienpredigt verboten war, wurde Hauge mehrfach ins Gefängnis geworfen. Ein 1804 gegen den Laienprediger eingeleiteter Prozess wegen Staats- und Kirchengefährdung, Betrug und Hetze gegen die Geistlichen dauerte zehn Jahre und endete 1814 mit einer Geldstrafe. Der Hauge-Prozess brachte eine lange und quälende Umformung des norwegischen Luthertums mit sich und gleichzeitig die Ausbreitung einer „zweiten Kraft“, der Erweckung. 1842 hob das Storting das Gesetz von 1741 auf, 1845 gab es den Weg zur Bildung von religiösen Sondergemeinschaften offiziell frei.

In Dänemark hob das Grundgesetz von 1849 den lutherisch-konfessionellen Charakter der Staatskirche auf. Katholiken, Reformierte, Herrnhuter und Juden waren seither den Lutheranern staatsbürgerlich gleichgestellt. Diesem Akt der politischen Emanzipation waren innerkirchliche Kämpfe und Spaltungen vorausgegangen.

Staatskirchen waren auch dem reformierten Zweig des Protestantismus nicht fremd. Die presbyterianische Kirche Schottlands besaß nach der politischen Vereinigung Englands und Schottlands 1707 die Würde der Established Church. Vor der Macht des calvinistischen Prinzips, Herr der Kirche sei allein Jesus Christus, geriet das schottische Staatskirchensystem jedoch immer wieder in Bedrängnis. Der „Erastianismus“, so genannt nach dem kurfürstlichen Rat und Medizin-Professor in Heidelberg Thomas Erastus (1523/24–1583), welcher die Unterstellung des Kirchenregiments unter die Staatsautorität für notwendig hielt, stieß permanent auf Protest- und Sezessionsbewegungen, die sich 1732 in der Secession Church und 1752 in der Relief Church niederschlugen. Der Kampf für die „Kronrechte des Erlösers“ widerstrebte allen staatskirchlichen Kompromissen. 1843 entstand unter Führung des Glasgower Pfarrers und Professors der Theologie in Edinburgh Thomas Chalmers die Free Church of Scotland. Vordergründig ging es um Verfassungsfragen, wie die Patronatsrechte oder die Staatskirche, hintergründig um den Durchbruch eines evangelikalen und sozialen Christentums calvinistischer Prägung. Von den 1.203 protestantischen Pfarrern Schottlands schlossen sich 474 der Free Church an. Sie errichteten in kurzer Zeit zahlreiche eigene Kirchen, Pfarrhäuser und Colleges.

In den reformierten Kantonen der Schweiz herrschte lange Zeit ebenfalls das Staatskirchentum. Die Kirchen- und Predigerordnungen waren Staatsgesetze. Aufgelockert wurden die obrigkeitlichen Bindungen erst durch die Erweckungsbewegung und den Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Erweckte oder liberale Gemeinden verlangten eigene Pfarrer. Im Kanton Waadt entstand unter Führung des Theologieprofessors in Lausanne Alexandre Vinet (1797–1847) eine Église libre. Ihr schlossen sich ungefähr 190 erweckte Pastoren – auch außerhalb des Waadtlandes – an. Eine staatsfreie evangelische Freikirche hatte sich zuvor auch in Genf gebildet, eine weitere entstand im Kanton Neuenburg 1873. Die Bundesgesetzgebung von 1874, die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit verbürgte, führte zu einem Liberalisierungsschub in Kirchenangelegenheiten. Die Kirche löste sich seither immer mehr von staatlicher Bevormundung.

In Frankreich hatte die Reformierte Kirche bis zum Toleranzedikt von 1787 eine lange Periode der Illegalität bzw. des Lebens im Verborgenen hinter sich. Die Rückkehr zu offiziellen Organisationsformen ermöglichten ihr seit 1802 die „Organischen Artikel“ der protestantischen Kulte, ein Pendant zu den „Organischen Artikeln“ für die katholische Kirche. Der Staat erkannte die Reformierte Kirche offiziell an und zahlte den Pastoren die Gehälter. Die Konsistorien waren gehalten, sich für jeweils 6.000 Gemeindeglieder zu organisieren – keine leichte Aufgabe wegen der Diasporasituation. Viele Ortsgemeinden, vor allem in ländlichen Gebieten, mussten sich auflösen. Mitglieder der Konsistorien wurden durch das Notabelnprivileg die potentesten Steuerzahler. Regionalsynoden waren erlaubt, fanden aber nicht statt. Nach der Julirevolution 1830 erhielt die Reformierte Kirche zahlreiche neue Pfarrstellen. Der Theologennachwuchs wurde in Straßburg und Montauban ausgebildet. 1849 konstituierten evangelikale Pfarrer und Laien eine vom Staat unabhängige Union des églises évangéliques. Nachdem von 1802 bis 1850 der Organisationsaufbau des französischen Reformiertentums einigermaßen abgeschlossen war, brachen schwere dogmatische Kämpfe zwischen den Liberalen und den Evangelikalen aus. Zur Kontrolle der religiösen Kräfte, aber auch zur Verstärkung seines politischen Regiments erließ Napoleon III. (1808–1873) am 26. März 1852 ein Gesetzesdekret. Die Ortsgemeinden erfuhren eine Aufwertung durch staatliche Anerkennung der conseils presbyteriaux. Außerdem strebte Louis-Napoléon die Zentralisierung der Reformierten Kirche in einem Conseil central des Églises reformées an. Die Mitglieder des Conseil sollten vom Staat ernannt werden. Während die Lutheraner in der ihnen ebenfalls auferlegten Zentralisation durch das Directoire luthérien kein grundlegendes Problem sahen, bedeutete der Conseil central für die Reformierten einen Angriff auf ihre synodalen Prinzipien. Eine von Adolphe Thiers (1797–1877) genehmigte Generalsynode der Reformierten Kirche in Paris vom 6. Juni bis 10. Juli 1872 stärkte durch eine Déclaration de foi den Einfluss der Evangelikalen. 1879 entschied der französische Staatsrat, die Reformierten sollten über die Organisation selbst entscheiden. Die erste offizielle Nationalsynode vom November 1879 in Paris legte fest: Provinzialsynoden, Nationalsynode und die Verpflichtung auf die Déclaration de foi von 1872. Die Liberalen fanden eine Plattform in ihren assemblées libérales. Die Spannung zwischen Liberalen und Evangelikalen war nicht nur innertheologisch motiviert, sondern auch ein Reflex der Weigerung des Staates zwischen 1802 und 1852, die Identität der Reformierten Kirche zu akzeptieren.

Nordamerika bot ein besonders buntes Organisationsbild. Da viele Ansiedler ihr europäisches Heimatland aus Glaubensgründen verlassen hatten, war Nordamerika stets ein Sammelbecken vielfältiger religiöser Kräfte. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, wie sie seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 hießen, verlangten von ihren Bürgern religiös nichts weiter als den Glauben an den einen Gott. Der Katholizismus gewann im 19. Jahrhundert durch Einwanderer aus Irland, Italien und Deutschland an Boden, dennoch blieb Nordamerika in der Mehrheit seiner Bevölkerung ein protestantischer Kontinent. Die Zahl der protestantischen Kirchen und Denominationen lag am Ende des 19. Jahrhunderts bei etwa 120. Sie alle auch nur zu nennen, ist unmöglich. Gemeinsam war ihnen der staatsfreie Charakter. Im ersten Zusatzartikel zur Verfassung von 1791 hieß es: „Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion betrifft oder die freie Ausübung der Religion verbietet“ (First Amendment der U. S. Constitution).

Die Geschichte der Unabhängigkeit Nordamerikas war in einigen Fällen auch die Geschichte der Abkoppelung von staatskirchlichen Strukturen. Die Protestantisch-Bischöfliche Kirche der Vereinigten Staaten, die sich 1785 verselbständigt hatte, war eine Folgeerscheinung der politischen Losreißung vom englischen Mutterland und damit auch von der Church of England. Eine ähnliche Dynamik lag der Losreißung der Methodisten vom Anglikanismus zugrunde, innerhalb dessen sie eigentlich als Sauerteig hatten wirken wollen. Mit der Ordination von Thomas Cook, der in Amerika den Titel eines Bischofs annahm, war der Weg zur Methodist-Episcopal Church und zum Bruch mit der Mutterkirche frei. Ein eigenes Glaubensbekenntnis, welches die „Neununddreißig Artikel“ auf 25 reduzierte und mit eigenen theologischen Akzenten versah, unterstrich die Selbständigkeit. Aus dem Bereich der Methodistenkirche gingen im Lauf des 19. Jahrhunderts verschiedene Sezessionen hervor. Gründe der Sezession waren unter anderem der Gegensatz zwischen bischöflichem und kongregationalistischem Kirchensystem und ethnischrassische Gegensätze. Farbige Methodisten, die sich von ihren weißhäutigen methodistischen Brüdern und Schwestern diskriminiert sahen, gründeten die afrikanisch-methodistisch-bischöfliche Kirche.

Die Vielfalt des Christentums in Nordamerika ging in beträchtlichem Ausmaß auf nicht-theologische Faktoren zurück, z.B. auch auf Sprachunterschiede zwischen den Einwanderern. Die Westkolonisation des Kontinents führte zur Entstehung vieler bis dahin unbekannter Denominationen. Verallgemeinernd kann man die Kirchen zwei Typen zurechnen: dem „rechten“ Flügel der Reformation, darunter anglikanische, presbyterianische (reformierte) und lutherische Körperschaften, sowie dem „linken“ Flügel, bestehend aus Baptisten, Kongregationalisten, Quäkern, Disciples of Christ und andern. Die Methodisten stehen in der Mitte zwischen beiden.

Außerordentlich differenziert war das Feld der Baptisten, der Kongregationalisten, der Holländisch-Reformierten Kirche, der Deutsch-Reformierten Kirche und anderer Kirchen und Gruppen. Zahlenmäßig und wirkungsgeschichtlich standen die Methodisten an der Spitze, gefolgt von den Baptisten und den Presbyterianern. An vierter Stelle rangierten die Lutheraner. Am Beginn des 19. Jahrhunderts schrumpfte das vorwiegend auf deutsche Einwanderer und Missionare gestützte Luthertum zunächst. Das Revival auf dem nordamerikanischen Kontinent führte zu Verlusten an lutherischer Theologie, deutscher Kultur und Sprachkultur. Die Erweckten entwickelten sich zu anglo-amerikanischen Formen des Christentums hinüber. Die deutsche Einwanderung nach 1815 brachte dann eine neue Kräftigung des Luthertums wie des Deutschtums. Für den Neuanschub sorgten vor allem sächsische, preußische und bayerische Lutheraner. Letztere waren stark beeinflusst von Wilhelm Löhe, der in Neuendettelsau für die Auswanderer eigens Geistliche und Lehrer ausbilden ließ. Zerrüttende Kämpfe zwischen der Missouri-Synode, den sächsischen und bayerischen Lutheranern, und der Buffalo-Synode der preußischen Lutheraner beeinträchtigten das Wachstum. Der vermittelnde Weg der Iowa-Synode wurde von der Missouri-Synode verworfen. Da der 1866 errichtete General Council der lutherischen Kirche in Nordamerika keine einhellige Anerkennung fand, bot das Luthertum auch nach der Auflösung der Buffalo-Synode 1877 ein organisatorisch uneinheitliches Bild, zu dem auch noch die Vereinigten Synoden des Südens und die Ohio-Synode beitrugen.

Die organisatorische Vielgestaltigkeit der protestantischen Konfessionsfamilie war überwältigend. Dabei sind Afrika, Asien, Australien und Ozeanien noch nicht einmal in die Betrachtung einbezogen. War der massive Vorwurf des Bischofs von Meaux, Bossuet, sowie vieler Katholiken vor ihm und nach ihm berechtigt, durch Vielgestaltigkeit und Widerspruch werde die Wahrheit des Christentums verspielt? Oder darf man die Vielteiligkeit als Reichtum ansehen? Schon im Christentum der neutestamentlichen Zeit machte nicht die Einheitlichkeit, sondern die Vielfalt das Charakteristikum seiner Botschaft aus.

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