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Was ist der Mensch?

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Vernunft und Kultur sind kein Gegensatz zur Natur, sondern ein Teil von ihr

Von Rüdiger Vaas

Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Kann er nur „Mensch werden durch Erziehung“, wie der Philosoph Immanuel Kant schrieb? Oder ist er närrischer als jedes andere Tier?

Der Mensch kreist auf einem Planeten unter Myriaden um einen Stern unter Myriaden um ein Galaxienzentrum unter Myriaden in einem Universum unter (vielleicht) Myriaden … und in Gedanken doch hauptsächlich um sich selbst. Trotzdem, oder genau deshalb, ließ der schwedische Naturforscher Carl von Linné, als er 1735 mit seinem Buch „Systema Naturae“ einen Vorschlag machte, die Vielfalt des Lebens zu ordnen und mit Namen für Gattung (Genus) und Art (Spezies) zu klassifizieren, den Menschen zunächst außen vor. Seine Devise war die des legendären Orakels von Delphi: „Nosce te ipsum“ („Erkenne dich selbst“). Erst in der zehnten Auflage von 1758 charakterisierte Linné den Menschen als Homo sapiens, als weisen oder denkenden Menschen. Zumindest nannte er den gegenwärtigen Menschen so, denn über andere Arten der Gattung Homo konnte Linné noch nichts wissen – obschon die Ähnlichkeiten mit den Menschenaffen für ihn offenkundig waren. Fast wird mit Homo sapiens suggeriert, der Mensch sei von Natur aus ein Philosoph. „Philosophia“ ist die „Liebe zur Weisheit“, ursprünglich bezeichnete „philosophéon“ aber eher einen „Freund des Wissens“ (Herodot).

Linnés Ansatz der biologischen Klassifikation hat sich rasch durchgesetzt und bis heute als Ordnungsschema erhalten. Es wurde allerdings durch die Erkenntnisse in der Evolutionstheorie, vergleichenden Anatomie und Physiologie sowie Molekulargenetik beträchtlich modifiziert, um die wahrscheinlichste Verwandtschaft der Arten abzubilden. Es stellt also heute einen entwicklungsgeschichtlichen und somit genetischen Zusammenhang dar: In der biologischen Systematik spiegelt sich die stammesgeschichtliche Verzweigung im Lauf der Evolution wider.

Der heutige Mensch ist seit mindestens 30.000 Jahren der einzige Vertreter seiner Gattung – alle anderen Homo-Arten und -Unterarten (beispielsweise der Neandertaler) sind ausgestorben. Tatsächlich haben Menschen über 98 Prozent der Erbsubstanz mit ihren nächsten Verwandten gemeinsam, den Schimpansen und Bonobos (Zwergschimpansen).


Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) gab dem modernen Menschen den Namen „Homo sapiens“.

Mit solchen evolutionsbiologischen Erkenntnissen, aber auch denen der Grundlagenphysik und Kosmologie, ist „sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden“, wie Max Scheler 1927 schrieb, der die moderne philosophische Anthropologie mitbegründet hat. (Der Begriff „Anthropologie“ für die Wissenschaft vom Menschen wurde bereits 1501 von dem Arzt und Theologen Magnus Hundt geprägt.) Und so stellt sich die von Immanuel Kant formulierte Grundfrage der Philosophie aufs Neue und zugleich immer wiederkehrend: Was ist der Mensch?

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