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2.1 Einleitung: Quellen und Quellengattungen

2.1.1 Quellen und SekundärliteraturSekundärliteratur

Als Quellen bezeichnet man im Allgemeinen „alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann“ (Paul KirnKirn, Paul). Quellen versteht man in diesem Zusammenhang also als Informationsquellen, die die Historiker auswerten und interpretieren müssen, wenn sie sich ein Bild über eine bestimmte Zeit verschaffen möchten. Von solchen Informationsquellen zu unterscheiden sind natürlich die Auswertungen und Interpretationen anderer; dies ist die so genannte Forschungs- oder SekundärliteraturSekundärliteratur. Die Historiker müssen bei ihrer Arbeit selbstverständlich beides berücksichtigen, doch der Dreh- und Angelpunkt, die Grundlage einer jeden historischen Untersuchung kann nur ihr Bezug zu den Quellen sein.

Wichtig ist nun, dass die Unterscheidung zwischen Quellen und SekundärliteraturSekundärliteratur nicht absolut ist, d.h., dass der jeweilige Charakter zum Beispiel eines Textes nicht für alle Zeiten festgelegt ist. Ob etwas eine QuelleQuelle ist oder aber Sekundärliteratur, dies hängt letztlich davon ab, wofür man sich interessiert, welche Fragestellung man jeweils verfolgt: Wer sich beispielsweise mit der Sozial- und WirtschaftsgeschichteWirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt beschäftigt, für den sind die Publikationen von Michael RostovtzeffRostovtzeff, Michael (1870–1952) aus den 1920ern bis 1940ern – auch heute noch – eine wichtige Sekundärliteratur; wer aber die Geschichte der althistorischen Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersucht, für denjenigen ist Rostovtzeff zur Quelle geworden. Umgekehrt beschränkt sich gerade in der Alten Geschichte ein großer Teil der schriftlichen Quellen nicht darauf, nur Informationen zu liefern. Vor allem die antiken Geschichtsschreiber transportieren darüber hinaus oft auch eine Deutung und Einschätzung des Berichteten, und man muss sich klarmachen, dass sie damit im Grunde genommen nichts anderes tun als die moderne Forschung: sie interpretieren Fakten. Die Grenzen zwischen Quellen und Forschung können also fließen, und am besten bestimmt man diese Begriffe daher in Relation zueinander und zur Tätigkeit des Historikers: QUELLEN sind das, was interpretiert wird, und Forschung bzw. Sekundärliteratur ist das Ergebnis einer solchen Interpretation.

2.1.2 TraditionTradition und Überreste

Von diesen grundsätzlichen Feststellungen ausgehend hat man nun immer wieder versucht, die Quellen der Geschichtswissenschaft in Quellengattungen oder Quellenarten zu untergliedern, um so das selbst für die Antike doch recht umfangreiche Material übersichtlicher zu gestalten. Eine gängige Einteilung in diesem Zusammenhang ist die auf Johann Gustav DroysenDroysen, Johann Gustav (1808–1884) zurückgehende und von Ernst BernheimBernheim, Ernst (1850–1942) aufgegriffene Unterscheidung von TRADITIONTradition und Überresten. Gemeint ist damit der Unterschied zwischen ganz bewusst im Hinblick auf die Nachwelt ‚erzeugten‘ und überlieferten Quellen einerseits und eher ‚unabsichtlich‘ erhalten gebliebenem Material auf der anderen Seite. Ähnliches hatte Hermann BengtsonBengtson, Hermann (1909–1989) im Sinn, als er zwischen primärem (Akten-)Material (Urkunden, Briefe, Reden etc.) und sekundärer, geformter Überlieferung differenzierte, wobei auch er unter Letzterer vor allem die antike Geschichtsschreibung verstand. Hier wie dort steht der Gedanke im Mittelpunkt, dass es für die historische Interpretation wichtig ist zu wissen, in welchem Kontext eine bestimmte QuelleQuelle entstanden ist und welche Absichten hinter ihrer Überlieferung stehen könnten: War die Quelle ein Teil des Geschehens selbst, oder ist sie der Versuch, anhand von PrimärmaterialPrimärmaterial die Geschichte im Nachhinein zu rekonstruieren? Haben wir ein originales Puzzlestück vor uns, oder ein Bild, das jemand anderes für uns gezeichnet hat? Mitgedacht wird hierbei unterschwellig, dass das primäre Material, der Überrest, nicht in dem Maße täuschen will oder auch nur kann, wie man dies für Teile der Tradition nicht nur vermutet, sondern längst schon erwiesen hat.

Abb. 3

Thukydides (um 460 bis nach 400 v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber, hellenistische Porträtbüste Paris, Louvre

An diesem Punkt entstehen freilich Schwierigkeiten. Zwar ist die Frage, die hinter der Einteilung in TraditionTradition und Überreste bzw. Primär- und SekundärmaterialSekundärmaterial steht, für jede historische Untersuchung von zentraler Bedeutung. Zweifellos haben eine Münze, eine Inschrift oder ein auf PapyrusPapyrus überlieferter Vertrag einen ganz anderen Aussagewert und sind auch anders zu interpretieren als ein antikes Geschichtswerk wie etwa das des TacitusTacitus. Selbstverständlich müssen Historiker bei ihrer Arbeit eventuelle Überlieferungsabsichten und unterschiedliche Zeitnähe von Quellen in Rechnung stellen. Allerdings haben wir damit wohl dennoch kein taugliches Gliederungskriterium gewonnen, mit dessen Hilfe wir uns einen vernünftigen Überblick über den Gesamtbestand unserer Quellen verschaffen könnten, im Gegenteil: Es ist bei vielen Quellen nämlich nicht ganz klar, in welche der beiden Kategorien sie fallen. Ist zum Beispiel ein bestimmter Brief für die Nachwelt verfasst worden oder nicht? Hat ein erhalten gebliebenes Monument nicht auch eine Aussage, verkörpert es nicht auch ein ‚Programm‘? Noch komplizierter wird das Ganze dadurch, dass eine Sekundärquelle, wenn man sie unter einer anderen Fragestellung bearbeitet, ohne weiteres zum PrimärmaterialPrimärmaterial werden kann, ungefähr so, wie auch Forschungsliteratur unter bestimmten Aspekten Quellencharakter besitzt. Der athenische Historiker ThukydidesThukydides etwa ist für den Gegenstand, den er darstellt, für den Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.), gewiss unsere beste und wichtigste QuelleQuelle; aber er liefert hiervon eben nur eine sekundäre, geformte Rekonstruktion. Wer jedoch die klassische athenische Geschichtsschreibung selbst in den Blick nimmt und damit genau die Intentionen und Darstellungstendenzen, die im Hinblick auf eine Untersuchung des Kriegsgeschehens stören könnten, für den ist Thukydides eine unschätzbare Primärquelle! Wir sollten daher festhalten, dass die Überlegungen, die zu den Begriffspaaren ‚Tradition – Überreste‘ und ‚Primärmaterial – SekundärquellenSekundärquellen‘ geführt haben, unerlässlich sind für die Arbeit mit Quellen, die so genannte QuellenkritikQuellenkritik; als analytische Schneisen durch den Dschungel der Materialfülle eignen sie sich weniger.

2.1.3 Schriftquellen und Geschichte

Wer solche Schneisen schlagen will, der wird das Material zunächst in schriftliche und schriftlose Quellen trennen. Mit dieser ebenso einleuchtenden wie grundlegenden Unterscheidung korrespondiert die Wissenschaftskonvention, dass die ‚eigentliche‘ Geschichte erst mit der Erfindung und Verbreitung der Schrift anfängt und die schriftlose Vergangenheit des Menschen der Vor- und Frühgeschichte zuzuweisen ist. Demnach befasst sich das Universitätsfach ‚Geschichte‘ in der Regel nicht mit völlig schriftlosen Kulturen (→Kap.1.1.2). Man überlässt dies anderen, wie etwa den Prähistorikern oder den Ethnologen. Begründet wird das gerne damit, dass erst die Schrift den Beginn von HochkulturHochkultur darstelle, eine Auffassung, die freilich schon deswegen problematisch ist, weil sie strenggenommen voraussetzt, Kulturen nach höher- und minderwertig klassifizieren zu können. Das ist zwar schon oft versucht worden, und entsprechend gibt es mehrere voneinander abweichende ‚Kultur-Systematisierungen‘. Diese Ansätze haben in den letzten Jahrzehnten aber zunehmend an Überzeugungskraft eingebüßt, und es herrscht heutzutage in der Wissenschaft nicht einmal mehr darüber Einigkeit, ob eine ‚objektive‘ Klassifizierung von Kulturen überhaupt möglich ist.

Außerdem gibt es auch in der Alten Geschichte weite Bereiche, für die keine oder kaum Schriftquellen existieren. Dies betrifft bestimmte Zeiträume wie etwa die so genannten DUNKLEN JAHRHUNDERTE der griechischen Geschichte (12.–8. Jh.v. Chr.), bestimmte Gebiete an den Rändern der antiken Welt (zum Beispiel weite Teile des heutigen Deutschlands), und auch bestimmte Fragestellungen wie die Siedlungsgeschichte. Überall dort sind wir völlig oder fast völlig auf schriftloses Material, konkret auf die Erkenntnisse der Archäologie angewiesen. Deshalb darf man sich durchaus fragen, ob die oben angesprochene Arbeitsteilung zwischen (Alter) Geschichte und (prähistorischer) Archäologie nicht lediglich pragmatisch betrachtet werden sollte. Andererseits ist aber unstrittig, dass zum Beispiel Politik- und EreignisgeschichteEreignisgeschichte, IdeengeschichteIdeengeschichte (auch Details der ReligionsgeschichteReligionsgeschichte) und MentalitätsgeschichteMentalitätsgeschichte nicht oder nur unvollkommen ergründet werden können, wenn Schriftquellen ganz fehlen. Schriftliches Material vervielfacht also die Möglichkeiten der historischen Forschung, und vor diesem Hintergrund ist es vielleicht doch gerechtfertigt, die Geschichte im engeren Sinne mit der SchriftlichkeitSchriftlichkeit beginnen zu lassen.

2.1.4 Quellengattungen und Hilfswissenschaften

Bei der weiteren Untergliederung der schriftlichen und nichtschriftlichen Quellen sind mehrere Varianten denkbar. Man kann die Schriftquellen in Literaturgattungen oder Textsorten einteilen, man kann die schriftlosen Quellen danach unterscheiden, ob es sich um Kunstgegenstände handelt oder um Alltagsrealien usw. Für die folgenden Ausführungen wurde ein anderes Prinzip als Leitfaden gewählt, nämlich die Orientierung an wichtigen Hilfs- und Nachbardisziplinen, die sich im Laufe der Zeit mit den jeweiligen Quellengattungen verbunden haben und auf deren Spezialkenntnisse auch die Historiker immer wieder zurückgreifen müssen. Auf diese eher praktische Weise kann man die Quellen der Alten Geschichte unterteilen in:

1 Literarische Quellen – gemeint sind damit die durch die mittelalterliche Handschriftentradition überlieferten Texte, mit denen sich die Latinistik und die Gräzistik beschäftigen;

2 Inschriften, mit denen sich die Epigraphik befasst;

3 auf PapyrusPapyrus überlieferte Texte, die von der Papyrologie bearbeitet werden;

4 Münzen, um die sich die Numismatik kümmert, und

5 die materielle Hinterlassenschaft, die der Gegenstand der verschiedenen archäologischen Fächer ist.

Literatur

H. Bengtson, Einführung in die Alte Geschichte, 8. Aufl., München 1979.

E. Bernheim, Einleitung in die Geschichtswissenschaft, ND Leipzig 1912.

J.G. Droysen, Historik: Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von P. Leyh und H.W. Blanke, Stuttgart 1977ff. (Erstveröffentlichung: „Grundriß der Historik“, 1858).

P. Kirn/J. Leuschner, Einführung in die Geschichtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin/New York 1972.

K. Meister, Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Antike, 2 Bde., Paderborn u.a. 1997–99.

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