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Die Liebenden in der Literatur Der Blick

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Der Blick spielt eine fundamentale Rolle beim Erwachen der Liebe. Jean de Meun schreibt um 1270/1280 im zweiten Teil des Roman de la Rose (Rosenroman):

Liebe, wenn ich recht nachgedacht habe,

ist eine Krankheit des Denkens,

die zwei Personen gemeinsam ist,

die gegenseitig frei sind und verschiedenen Geschlechts,

welche den Leuten aus dem Verlangen kommt,

das der ungezügelten Vorstellung entspringt,

sich zu umarmen und zu küssen

und sich fleischlich zu ergötzen.

Mittelalterliche Sprichwörter betonen die Rolle des Sehens: »Wo die Liebe ist, ist auch das Auge«, verkündet eines von ihnen aus dem 13. Jahrhundert.

Andreas Capellanus, der Verfasser des ungefähr im Jahr 1186 geschriebenen Werkes De amore (Von der Liebe), betont sogar, dass Blindheit zur Liebe unfähig mache, »weil der Blinde die Geliebte ja nicht sehen kann, wodurch allein sein Geist über die Maßen angeregt werden könnte«.

In der mittelalterlichen Dichtung beginnt das Abenteuer meistens mit der Liebe auf den ersten Blick. Es reicht dem Helden, dass er eine Person des anderen Geschlechts erblickt, um sofort sein Herz an sie zu verlieren. Flamenca hat im gleichnamigen okzitanischen Roman aus dem 13. Jahrhundert Archambaut, den Herrn von Bourbon, geheiratet. Dieser wird bald von einer krankhaften Eifersucht ergriffen und sperrt seine Gemahlin in einen Turm ein. Das Gerücht vom Unglück der jungen Frau kommt einem Ritter zu Ohren, Guillaume (Guilhem) de Nevers, der sich entschließt, ihr seine Liebe zu schenken. Er begibt sich nach Bourbon und steigt in der besten Herberge ab.

Am nächsten Tag geht er in die Kirche, aber seine Schöne ist verschleiert. »Unverwandt blickte er sie an und bewegte kein Lid, während ihn Wehmut und Kummer ergriffen, da er nur so wenig von ihr erblickte.« Flamenca hat zarte, weiße Haut und schöne, glänzende Haare. Die Sonne fällt auf sie und berührt sie mit einem Strahl. »Als Guilhem dies schöne Vorzeichen und den Schatz erblickte, den ihm die Minne verhieß, da lachte und jubelte sein Herz […].«

Der junge Mann singt seinen Part, »vergaß dabei aber nicht, öfter einen schnellen Blick auf den Verschlag [in dem Flamenca saß] zu werfen.« Zum Evangelium erhebt sie sich, aber durch einen Bürger, der gleichzeitig aufsteht, wird Guillaume der Blick auf sie verwehrt. Glücklicherweise entfernt sich die ungelegene Gestalt, und unser Held kann seine Dame erneut anschauen; mit der Hand, mit der sie sich bekreuzigt hat, hat sie den Schleier, der den unteren Teil ihres Gesichtes verdeckt, leicht verschoben. Guillaume gibt den Friedensgruß an den Vikar des Priesters, der ihn mit seinem Brevier an Flamenca weitergibt. Als sie das Buch senkt, erblickt Guillaume für einen kurzen Augenblick ihren leuchtend roten Mund.

Zurück in seinem Zimmer ruft er aus: »An zwei Stellen fühle ich mich verwundet, hat doch der Schuss, der mir solche Schmerzen bereitet, sowohl mein Ohr wie auch mein Auge getroffen.«

Die Vorstellung, dass die Liebe ihren Zugang durch die Augen nimmt, findet sich schon bei primitiven Völkern. Die mittelalterlichen Autoren sprechen oft von einem Pfeil, der durch das Auge ins Herz eindringt. »Und Brunissen seufzte und warf Jaufré einen so ausdrucksstarken und zarten Blick zu, dass dieser bis in sein Herz hinab drang«, so liest man im Roman Jaufré.

Auch Flamencas Gatte hatte sich übrigens in dem Moment in seine Frau verliebt, als er sie erblickte: »[…] als er Flamenca sah, erglühte er an Herz und Leib. Über dieses Liebesfeuer ergoß sich ein so holdes Sehnen, dass die Glut in ihm verschlossen blieb und äußerlich nichts von der Hitzequal zu bemerken war. Innen loderte, außen bebte er, aber nichts deutete darauf hin, dass ihn ein Brand leiden ließ.«

Den Liebenden gefällt es, sich mit den Augen zu verschlingen. In Érec et Énide (Erec und Enide) von Chrétien de Troyes beeilt sich Erec, der seine Verlobte am Hof König Arthurs vorstellen soll, dort anzukommen, denn er ist voller Wohlbehagen:

Er konnte nicht genugtun, sie anzuschauen:

Je länger er sie ansah, desto mehr gefiel sie ihm,

er konnte nicht anders, er musste sie küssen.

Gern ritt er dicht neben ihr

und freute sich an ihrem Anblick;

er bewunderte sehr ihr blondes Haar,

ihre lachenden Augen und die klare Stirn,

die Nase, den Mund und das ganze Gesicht,

und eine große Zärtlichkeit erfüllte deswegen sein Herz.

Alles gefiel ihm bis hinunter zur Hüfte,

das Kinn und der weiße Hals,

der Körper, Arme und Hände.

Aber nicht weniger

bewunderte das Fräulein den Krieger,

gern und aus treuem Herzen,

so wie er es nach seinem Belieben bei ihr tat.

Um kein Geld der Welt würden sie darauf verzichten,

einander anzuschauen […].

In einem anderen seiner Romane, Cligès, macht Chrétien de Troyes die Rolle des Auges besonders deutlich. Alexander, der in Soredamor verliebt ist, verzweifelt, da er ihr seine Liebe nicht einzugestehen wagt:

– Wie hat er [der Pfeil] dir denn den Leib durchschossen, ohne dass man außen eine Wunde sieht? Sag mir das, ich will es wissen! Wo hat er ihn durchschossen?

– Durch das Auge.

– Durch das Auge? Aber er hat es dir nicht ausgestochen.


Hausbuchmeister, sogenanntes Gothaer Liebespaar (um 1480)

– Er hat mir am Auge nichts verletzt, aber im Herzen schmerzt es mich sehr.

– Nun erkläre mir also, wie der Pfeil durch das Auge gegangen ist, ohne etwas zu beschädigen. Wenn der Pfeil das Auge durchbohrt, warum tut dann das Herz im Inneren weh, nicht aber das Auge, das den ersten Schlag empfing?

– Das kann ich genau erklären: Das Auge achtet nicht auf das Hören und ist dazu auch gar nicht imstande, aber es ist der Spiegel des Herzens und durch diesen Spiegel dringt, ohne etwas zu verletzen oder zu beschädigen, das Feuer, welches das Herz in Flammen setzt.

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