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Berührungen und zarte Küsse

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In der höfischen Liebe – die mittelalterlichen Autoren benutzen diesen Ausdruck, der aus dem letzten Jahrhundert stammt, allerdings nicht, sondern sprechen von der fin’ amors (hohe Minne) – umfasst der Liebesdienst vier Stufen: Der »Verehrer«, der heimlich liebt, wird zum »Werbenden«, sobald die Dame ihm einen Blick geschenkt hat. Diese kann ihn zum Galan »legitimieren«, bevor er womöglich zum »physischen« Geliebten wird. Wenn die Dame zustimmt, aus dem Werbenden ihren Freund zu machen, wird dies durch eine Zeremonie institutionalisiert. Mit gefalteten Händen und auf den Knien erklärt sich der Verliebte zum Gefolgsmann der Dame, das heißt, dass er, ähnlich wie im Lehnswesen, keine andere Herrin in der Liebe haben wird. Sie gibt ihm daraufhin einen Kuss, der den Eid besiegelt. »Mit einem zarten Kuss gibt sie mir das, was mein Glück ausmacht«, schreibt Bernart Marti Mitte des 12. Jahrhunderts.

Aber zwischen dem Kuss und der »Tat« (dem sexuellen Akt), die normalerweise gar nicht stattfinden darf, gibt es in der provenzalischen Erotik bisweilen andere Belohnungen, und zwar die Betrachtung der nackten Dame und den Liebesbeweis oder asag, die nicht zwangsläufig zusammengehören.

Die schüchternen unter den Minnesängern begnügen sich bisweilen damit, vom nackten Körper der Dame zu träumen. Andere hoffen darauf, ihn bewundern zu dürfen. Arnaud de Mareuil drückt das Verlangen aus, dort zu sein, »wo seine Dame sich entkleidet, denn das ist eine große Ehre, die sie ihm zuteil werden lässt«. Und Bernard de Vendatour vermittelt uns eine Vorstellung von einer mehr oder weniger forcierten Entkleidung. »Es wäre ein großer Fehler, wenn sie mich nicht in ihr Zimmer riefe, so dass ich auf ihren Befehl hin an ihrer Seite wäre, an ihrer Bettkante, und dass ich demütig auf Knien ihre bequemen Schuhe ausziehen würde, wenn sie mir den Fuß hinstreckte.«


Meister E. S., Liebespaar auf der Gartenbank (um 1460)

Der Geliebte muss in einem derartigen Kontext den Körper seiner Freundin leicht berühren können und dabei diskret sein. Normalerweise bleibt es dabei, es sei denn, die Dame erlaubt es ihm, seine Leidenschaft im asag zu beweisen.

Flamenca umschlingt Guillaume im Bad, wohin er kam, um sie zu treffen, mit ihren Armen, gibt ihm einen Kuss und schmiegt sich sanft an ihn. Guillaume verhält sich ebenso. Dann lädt er sie in sein Zimmer ein, das komfortabler ist:

Als sie alles von ihm wusste, erwachte so große Freude in ihrem Herzen, dass sie sich ihm ganz auslieferte, indem sie ihm um den Hals fiel, ihn leidenschaftlich küsste und jegliche Zurückhaltung aufgab, um ihm zu dienen, ihn zu liebkosen und allen Geboten der Liebe zu folgen. Weder Augen, noch Münder, noch Hände blieben müßig. Sie küssten und liebkosten einander und verzichteten auf jegliches Versteckspiel: andernfalls wäre ihre Liebesfreude nicht vollkommen gewesen. Beide taten ihr Bestes, um die brennenden Schmerzen und die endlosen Qualen, die sie wegen ihrer Liebe erlitten hatten, aufzuwiegen. Die Minne bewirkte, dass beide auf ihre Rechnung kamen, indem sie sie freundlich animierte, gemäß ihrer wahren, echten Neigung alles zu tun, was ihnen gefiel. Indem sie sie erglühen ließ und entflammte, bereitete ihnen Frau Minne solche Wonnen, dass sie alle Mühsal vergaßen, die ihnen bis zu diesem Augenblick beschieden gewesen war […].

Guilhem kehrte keineswegs den Klerikus hervor: Er fragte und verlangte nicht, sondern nahm, was ihm seine Herrin schenkte. Freilich war sie nicht säumig, ihn zu beglücken, sondern ehrte und entzückte ihn so sehr, dass auch Frau Huld nicht mehr geboten hätte, obgleich sie als die beste Freudenspielerin gilt. So viel Lust schenkte ihnen die Minne, dass sie gar nicht daran dachten, miteinander zu schlafen. An diesem Tag fühlten sie sich reich belohnt, wenn sie einander küssen und umarmen, herzen und liebkosen durften; dazu kamen noch andere Spiel, welche Frau Minne ersinnt, wenn sie erkennt, dass sie es mit höfischer Liebe zu tun hat.

Die Liebesprobe (l’asag) der theoretischen höfischen Liebe entspricht dem sexuellen Kontakt der ritterlichen Liebe. Sie ermöglicht es einer Dame festzustellen, dass ihr Freund sie tatsächlich von Herzen liebt und sie nicht nur als Objekt betrachtet. Denn ihr Verehrer, der nackt neben ihr – die ebenfalls nackt ist – liegt, ist durch einen Schwur gebunden, nichts gegen ihren Willen als den der Herrin des Spiels zu unternehmen.

In der eben zitierten Passage aus Flamenca erweisen sich die beiden Helden als perfekte Liebende, denn sie bereiten sich sämtliche Vergnügen außer dem eigentlichen Akt.

Was auch immer die Motivation für den asag ist, er stellt ein Element der spirituellen Liebe dar. Eine Ehrerbietung, die bei den Liebenden eine gefühlsmäßige Verständigung voraussetzt, ohne die jegliche sexuelle Beziehung nur grobe Sinnlichkeit wäre.

In der nordfranzösischen Erotik stellt der Kuss nicht automatisch den schlussendlichen Erfolg dar. Obwohl die völlige Hingabe der Dame recht häufig folgt, kommt es bisweilen vor, dass die Liebenden Lippe an Lippe nebeneinander liegen, so wie Perceval und Blanchefleur, ohne zum Akt zu kommen. Chrétien de Troyes beschreibt die Situation im Conte du Graal (Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral) folgendermaßen:

so hat er sie unter sie Decke gelegt,

ganz sachte und ganz behaglich;

und sie duldet, dass er sie küsst,

und ich glaube nicht, dass es ihr unangenehm ist.

So lagen sie die ganze Nacht,

eins neben dem andern, Mund an Mund,

bis zum Morgen, da der Tag herankommt.

So viel Trost bereitete ihr die Nacht,

dass sie, Mund an Mund, Arm an Arm,

schliefen bis es tagte.

Auch im Norden beinhaltet die höfische Liebe ein Ritual des Küssens, das nicht unbedingt an den Lehnseid erinnert. So wird es im Lancelot in Prosaform beschrieben. Der Held und Guenièvre kommen eines Abends auf einer Wiese vor Galehot zusammen, einem hünenhaften Ritter und Freund von Lancelot. Galehot bittet die Königin, dem Helden einen Kuss zu geben. Da sie wegen der Anwesenheit anderer Personen zögert, entfernen die beiden sich und tun so, als würden sie diskutieren. Als die Königin sieht, dass der Ritter es nicht wagt, den ersten Schritt zu unternehmen, fasst sie ihn am Kinn und gibt ihm einen langen Kuss. Diese Szene erinnert eher an eine Hochzeit als an einen Vasalleneid. Darüber hinaus zeigen die Miniaturen, die die Szene darstellen, den Ritter nicht kniend vor seiner Dame, sondern neben ihr sitzend, als er den Kuss empfängt.

Der Kuss ist mithin keineswegs nur eine harmlose Geste.

Doch, das würde gewiss niemand glauben,

dass er sie geküsst hätte, ohne mehr zu tun;

denn die eine Sache zieht die andere nach sich:

wer eine Frau küsst und dabei nicht mehr tut,

sobald sie beide ganz alleine sind,

von dem glaube ich, dass es an ihm liegt.

Eine Frau, die ihren Mund preisgibt,

bewilligt leicht [auch] das Übrige,

wenn es jemand ist, der im Ernst darauf aus ist;

erklärt Orgueilleux de la Lande, der Freund eines jungen Mädchens, das Perceval mit Gewalt geküsst hat, im Percevalroman. Er kann nicht glauben, dass es bei Umarmungen geblieben ist. Das um 1280 geschriebene Werk Clef d’amors (Schlüssel zur Liebe) bestätigt dem Liebenden aber, dass »der Kuss der Verwandte des darüber Hinausgehenden ist und darauf vorausweist«.

Das Vergnügen, das der Kuss bereitet, drücken die Allegorie der Jugend und ihr Freund ausführlich im Rosenroman aus. »Ihr Freund war gar zärtlich mit ihr. Er küsste sie jedesmal, wenn es ihm gefiel, vor all den Damen und Herren. Wenn jemand ihr Gespräch erlauschte, schämten sie sich nicht. Sie küssten sich gegenseitig wie zwei Täubchen.«

Die Mehrheit der Schriftsteller vermeidet es, sich zu lange über den sinnlichen Zeitvertreib auszulassen. Allerdings beschreibt Jean Renart in Escoufle (Die Gabelweihe) die Küsse, die Aélis und Guillaume austauschen:

Weil die Küsse ihr gefallen,

öffnet sie ihren schönen Mund so weit,

dass die zwei Zungen sich berühren,

trotz der weißen und engen Zähne,

die die Liebe so gelockert hat,

dass sie sich finden können.

Wenngleich Robert de Blois den Frauen empfiehlt, es nicht zuzulassen, dass man ihnen die Hand auf die Brust legt – nur der Ehemann hat dieses Recht –, scheinen diese Ratschläge nicht immer befolgt worden zu sein. Als der Kaiser es Guillaume in Escoufle untersagt, in das Zimmer seiner Tochter einzudringen, antwortet der Held, dass er Aélis gegenüber immer ein untadeliges Verhalten an den Tag gelegt habe. Schöne Worte ohne Grundlage! Das junge Mädchen sagt nämlich zu sich selbst:

Ah, Guillaume, schöner Freund,

so oft haben Sie Ihre schönen Hände,

die so weiß sind,

auf diesen schönen Bauch und diese Hüften gelegt

und meinen Körper mit allen Sinnen berührt.

Im Livre d’Artus (Artusbuch) liebkost der Held eine bereitwillige Jungfrau: »Er legt ihr die Hand auf die Brüste und auf den Bauch und berührt ihren Körper, der zart und weiß war.«

Einige Damen würden darüber hinaus gerne zum Akt selbst voranschreiten. In Athis et Prophilias (Athis und Prophilias) träumen die Zuschauerinnen nach dem Ende der Spiele, bei denen die beiden Freunde brilliert haben, davon, einen von ihnen in ihrem Bett zu haben.

Inwieweit aber entspricht die Literatur als Spiegelung einer Vorstellungswelt auch der Realität? Dient doch die Zeit vor der Hochzeit im wirklichen Leben nicht gerade dem Vergnügen, sondern ist im Allgemeinen und ganz besonders mit Blick auf die soziale Elite von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt.

Irdische Lust

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