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1. Die Geschichtsschreibung und das Reich nach dem Dreißigjährigen Krieg

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Negative Bewertungen der Auswirkungen des Westfälischen Friedens auf die gesamte deutsche Geschichte hatten starke Wirkung auf die Beurteilung des Reichs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Nationalhistoriker betonten die schandvolle Zersplitterung der deutschen Nation nach 1648: Die Stärkung der Länderrechte habe das Reich geschwächt. Passiv und ineffektiv sei es zum Spielball Europas geworden, wehrlos insbesondere gegen die unstillbare Machtgier Ludwigs XIV. Bedeutende Ländereien gingen an Frankreich verloren, französische Truppen verwüsteten Gebiete östlich des Rheins ohne nennenswerten deutschen Widerstand. Zugleich habe der französische König die Freiheit der Deutschen untergraben, indem er zahlreiche deutsche Fürsten bestach und subventionierte. Der Kaiser ließ sein Reich im Stich und kümmerte sich nur um österreichische Interessen im Südosten Europas. Im Norden begann der heroische Aufstieg Brandenburg-Preußens, dessen Hochphase, eingeleitet durch die Thronbesteigung Friedrichs des Großen 1740, in der Dominanz über ganz Deutschland gipfelte.

Postnationalistische Wissenschaftler nach 1945 tendierten dazu, aus der Not eine Tugend zu machen. Die Katastrophe der jüngsten deutschen Geschichte war die Katastrophe der deutschen Nation. Ein Anknüpfen an die politischen wie die historiografischen Traditionen des Nationalstaats war ausgeschlossen. Deutsche Geschichte musste zur europäischen Geschichte werden.1 Für viele bedeutete das eine Rückbesinnung auf die Rolle des Reichs im europäischen Staatensystem, seine Funktion als Rettungsanker oder Dreh- und Angelpunkt eines internationalen Gleichgewichts der Kräfte. Vor diesem Hintergrund ließ sich die Passivität des Reichs positiv deuten: Das pränationale Reich wurde zum Modell für die postnationale Bundesrepublik, dessen friedenssichernde Wirkung und Bedeutung innerhalb Europas deren Rolle im europäischen Einigungsprozess vorwegnahm. In Heinz Schillings einflussreicher Studie zu 1989 ist deutsche Geschichte nach 1648 europäische Geschichte, aus der das Konzept eines Gleichgewichts der Kräfte entstand, das 1720 im System der europäischen Pentarchie und eines deutschen Dualismus kulminierte.2

Gleichzeitig, so heißt es oft, suchten die Mächtigen im Alten Reich ihre eigene Bedeutung auf Kosten des Gesamtsystems zu erhöhen. Angeblich habe der Triumph des Absolutismus in den deutschen Gebieten die letzten Überbleibsel deutscher republikanischer Urtraditionen ausgelöscht. Dabei hätten die größten und ehrgeizigsten Fürstentümer unvermeidlich eine Machtgier entwickelt, die die traditionellen Regeln und Konventionen des Reichs sprengte. Der Sieg des Absolutismus führte indes selbst in den kleineren deutschen Ländern zu einer allgemeinen Refeudalisierung des deutschen Gemeinwesens und zum Wiederaufstieg des Adels und adliger Werte. Die deutsche Gesellschaft der eineinhalb Jahrhunderte nach dem Westfälischen Frieden war durch und durch höfisch. Erst eine viel umfassendere Betrachtung, meint Schilling, macht die paradoxe Folge des Absolutismus sichtbar: die Entstehung eines neuen Bürgertums, einer Bourgeoisie mit vielen typischen Merkmalen einer neuen Klasse, die letztlich die Macht der Höfe untergrub.

Die nationalistische und postnationalistische Darstellung des Reichs passte perfekt zu parallelen historiografischen Sichtweisen mit Blick auf Österreich und Brandenburg-Preußen. Kernthema österreichischer Historiker war und bleibt die Phase, in der Österreich als eigene, vom Reich abgesetzte Macht auf den Plan trat. Zwar bewahrte die gemeinsame Sprache bis heute ein gewisses Gemeinschaftsgefühl der »deutschen« und österreichischen Gebiete. Das hat jedoch nicht verhindert, dass man versucht, die Anfänge von »Österreich« als Staat zu ergründen. Dabei sprechen starke Argumente für fast jeden Zeitraum seit den 1520er Jahren, als Erzherzog Ferdinand (König ab 1531, Kaiser ab 1556) systematische Reformen in den Gebieten einleitete, die ihm sein Großvater Maximilian I. vermacht hatte. Als ein Wendepunkt gilt die Vereinigung der Erblande mit der böhmischen und der ungarischen Krone 1526. Andere gehen noch weiter zurück, oft motiviert durch Ereignisse wie die Feier des österreichischen Millenniums 1996, das sich auf die erste schriftliche Erwähnung des Begriffs Ostarrichi beruft.3

Die erwähnten Reformen sind aber sicherlich von Bedeutung: In den 1520er Jahren, den 1560er Jahren und erneut nach 1648 ließen sie die Erblande als mögliches Vorbild für das gesamte Reich erscheinen. Aber schlug sich darin die Absicht der Habsburger nieder, sich vom Reich zu lösen? Für die Zeit nach 1648 sprechen hierfür gute Argumente. Dass die Ländereien der Habsburger, vor allem was die Glaubensrechte ihrer Untertanen betraf, von den Bestimmungen des Westfälischen Friedens ausgenommen waren, verstärkte den Separatismus. Der erste von Österreichs »staatsbildenden Kriegen« gegen das Osmanische Reich 1683 war der Ursprung des Aufstiegs der Monarchie zur Großmacht.4 Wurde dadurch das Reich wirklich zunehmend irrelevant? Selbst wenn die österreichischen Länder bis zum Ende 1806 im Reich verblieben: Wurde jedes echte Interesse an seinen Belangen durch die Ambitionen der deutschen Fürsten und die dem Herrschaftssystem von »Kaiser und Reich« inhärenten Frustrationen erstickt? Wie entscheidend war die Sprach- und Kulturgemeinschaft, die Österreich an Deutschland band?

Das Augenmerk auf Österreichs andauernde Zugehörigkeit zum Reich zu richten, stellt indirekt die bekanntere preußische historiografische Richtung infrage, die den wachsenden Gegensatz zwischen Brandenburg-Preußen und Österreich als Kernthema der deutschen Geschichte nach 1648 betrachtet. Die »Entstehung« des brandenburgisch-preußischen Staats nach 1648 wurde einer der entscheidenden »Gründungsmythen« des modernen deutschen Nationalismus. Wie im Fall Österreichs herrschte Uneinigkeit über Details und Gewichtung, insbesondere in der strittigen Frage, welcher Herrscher den Staat tatsächlich »gegründet« habe: der »Große Kurfürst« Friedrich Wilhelm (1640–1688), der erste preußische König (Kurfürst Friedrich III., 1688–1713, König ab 1701), der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) oder Friedrich der Große (1740–1786)? Und: Wann wurden die Ziele und Interessen Brandenburg-Preußens unvereinbar mit einem weiteren Verbleiben im Reich? War das bis 1806 überhaupt je der Fall? Die brandenburgischen Herrscher vor 1740 standen bei allen Eigeninteressen stets treu zum Kaiser. Friedrich der Große selbst arbeitete als virtuoser Reichspolitiker ebenso viel innerhalb und mit dem System wie dagegen.5

Letztlich scheiterte das Reich weder an Österreich noch an Preußen. Zudem verstellt die Übertragung der Ansichten zum Reich nach 1750 auf das Jahrhundert davor den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten der Zeit nach 1648. Seit den 1970er Jahren enthüllen Forschungen ein komplett anderes Bild. Die genauen Konturen sind noch nicht deutlich zu erkennen, weitere fundamentale Arbeiten nötig. So gibt es etwa nach wie vor keine moderne Studie zum Reichstag nach 1681. Über die kaiserlichen Steuern ist wenig bekannt: Arbeiten, wie sie Winfried Schulze und Peter Rauscher für das 16. Jahrhundert unternahmen, stehen für die Zeit nach 1648 noch aus.6 Die von nationalistischen und vielen postnationalistischen Historikern vertretene Ansicht, das Reich sei ohnmächtig und hinfällig gewesen, hat die Erforschung seiner zentralen Institutionen und ihrer Wirkungsweise lange überschattet. Erst langsam wird klar, dass das Reich um 1680 in vielerlei Hinsicht wieder an Stärke zunahm. Alte Institutionen wurden reformiert oder neu belebt. Die Monarchie selbst, beschränkt durch die Regelungen des Westfälischen Friedens, erlangte unter Leopold I. neue Autorität, real vielleicht mehr als je zuvor, und daran knüpften seine Nachfolger Joseph I. und Karl VI. an.

Die Bedeutung, die diese Kaiser der Reichspolitik beimaßen, macht es kaum glaubwürdig, dass sie in Wirklichkeit das Reich »verlassen« wollten. Die Kaiserkrone war ihnen zu wichtig, um sie abzulegen. Vielmehr ist ihre Zeit von einer Rückbesinnung auf das Reich geprägt, die 1680 ihren Abschluss fand, als der Kaiser viele seiner Vorrechte als oberster Lehnsherr und höchste gerichtliche Instanz wiedererlangt hatte. Vielleicht mehr als je zuvor wurde der kaiserliche Hof in Wien zur zentralen Anlaufstelle für den gehobenen Adel des Reichs. Dies befeuerte auch das Streben nach Einrichtung »nationaler« Institutionen und Wirtschaftsmaßnahmen sowie nach einer Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen.

Dass die meisten dieser Projekte scheiterten, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass es sie überhaupt gab. Die Habsburger Interessen reichten selbstverständlich über die Grenzen des Reichs hinaus – etwa Ungarn und das Erbe der spanischen Habsburger – und Wien war ebenso Hauptstadt der diversen habsburgischen Länder und Königreiche wie Sitz des Kaiserhofs, des Reichshofrats und der Reichshofkanzlei. Aber all die auswärtigen Interessen waren über die Inhaberschaft der kaiserlichen Würde mit dem Reich verflochten und unmöglich zu trennen oder gar gegeneinander abzuwägen. Erst im späten 18. Jahrhundert wurde in Strategiepapieren über den Wert des Reichs für die Habsburger sinniert und die Frage gestellt, ob »Österreich« ohne »Deutschland« besser dran wäre.7 Auf das späte 17. Jahrhundert lassen sich solche Überlegungen nicht übertragen.

Ebenso unterschätzt der traditionelle Blick auf den Aufstieg Brandenburg-Preußens die Bedeutung anderer großer Länder, etwa Sachsens, der welfischen Fürstentümer Braunschweig-Lüneburg (ab 1692 Kurfürstentum, allerdings erst 1708 vom Reichstag bestätigt) und Braunschweig-Wolfenbüttel, Bayern und der Pfalz (wieder in die Kurwürde eingesetzt und Mitstreiter der Krone). Sicherlich traten die brandenburgischen Kurfürsten nunmehr deutlich aus dem Schatten Kursachsens, dessen Führung sie während der letzten eineinhalb Jahrhunderte treu gefolgt waren, – allerdings traten sie eher in einen Wettbewerb als in ein Vakuum. Sie konkurrierten direkt mit den Welfen und Sachsen, und dass und wie der Kaiser diesen Wettstreit in den 1680er und 1690er Jahren ausnutzte und manipulierte, trug entscheidend zur Wiederherstellung seiner Autorität bei.

Brandenburg-Preußen war beileibe nicht das einzige Territorium, das seinen Status durch eine Königskrone zu erhöhen versuchte: Außer Braunschweig-Wolfenbüttel taten das alle oben erwähnten, wobei Bayern und die Pfalz allerdings scheiterten. Zudem verfolgten alle wichtigen an der Reichspolitik Beteiligten im gesetzlichen und institutionellen Rahmen des Reichs und ihres feudalhierarchischen Verhältnisses zum Kaiser ihre eigenen Interessen. Die Verträge von 1648 bekräftigten das Recht der deutschen Fürsten, Allianzen mit fremden Mächten einzugehen, sei es zur Verteidigung oder aufgrund dynastischer Bestrebungen, solange sich die Bündnisse nicht gegen den Kaiser oder das Reich richteten. Indes fiel es selbst den Kurfürsten äußerst schwer, auf internationalen Friedenskonferenzen Anerkennung zu finden (schon für sich ein wichtiges Motiv, den Königsstatus zu erstreben). Tatsächlich konnten auch die mächtigsten Territorien ohne Bewilligung des Kaisers kaum etwas erreichen, ohne gegen Gesetze und Konventionen des Reichs zu verstoßen.

Der Wettstreit zwischen führenden Fürsten und die erfolgreiche Manipulation dieser Konkurrenz durch die Krone war vor 1740 von größerer Bedeutung als das »Hervortreten« von Brandenburg-Preußen. In den Rivalitäten spiegelten sich wiederum andere tiefgreifende Entwicklungen wider. Die Spannungen zwischen Kurfürsten und Fürsten hielten an. Spätestens in den 1680er Jahren waren die Bemühungen der Kurfürsten, ihre herausragende Stellung zu sichern und sich als herrschende Oligarchie mit königlichem oder quasiköniglichem Status im Reich zu etablieren, gescheitert. Das schwächte ihre Solidarität als Gruppe. Der Wettbewerb um Königskronen war ebenso ein Beleg dafür wie eine Reaktion auf die Vergabe einer neunten Kurwürde an die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg als Lohn für ihre Unterstützung (und um einen Ausgleich gegen Brandenburg zu schaffen). Gleichwohl war Braunschweig-Lüneburg nicht das einzige Nichtkurfürstentum, das seine Stellung zu verbessern suchte. Der entscheidende Unterschied, der zum ersten Mal nach 1648 zutage trat, bestand zwischen armierten und unbewaffneten Territorien: denen, die über ein stehendes Heer verfügten, und jenen, die je nach Bedarf Männer oder Geld für Truppen bereitstellten, die von den kaiserlichen Kreisen unterhalten oder ausgehoben wurden.8 Schon zehn Jahre nach dem Krieg verfügten etwa ein Dutzend Länder über Armeen zwischen 1.000 und 20.000 Mann.

Dies war nach imperialem Recht zulässig, da nach 1654 jedermann verpflichtet war, sich an den Kosten der Unterhaltung von Festungen und Garnisonen zur Landesverteidigung zu beteiligen (wozu nach fürstlicher Auslegung Truppen gehörten).9 Das hatte jedoch Auswirkungen sowohl auf das Reich als auch auf die Territorien. Die Existenz von Landesheeren prägte die Entwicklung der Kreise und regionalen Machtstrukturen. Wer über Truppen verfügte, dem gelang es oft, durchzusetzen, dass diese als Kreisheer betrachtet wurden, wodurch nichtbewaffnete Nachbarn verpflichtet waren, Quartiere bereitzustellen. Andererseits schuf die Unterhaltung von Truppen auch im eigenen Land gewisse Notwendigkeiten. Armeen waren indes nur ein Mittel im Wettstreit der Fürsten um Status und Prestige. Der kulturelle Konkurrenzkampf, vor allem der Bau von Palästen und der Aufwand für Hofhaltung und Residenzhauptstädte, war ebenso ruinös.

Die finanziellen Belastungen waren enorm. Domanialeinkünfte lieferten manchmal einen wichtigen Beitrag, etwa in Brandenburg, wo sie ungefähr ein Drittel der Einnahmen der Zentralregierung ausmachten.10 Zuschüsse von außen waren oft unverzichtbar, ein weiterer Nutzen von auswärtigen Allianzen. Dennoch konnte kein Fürst ausschließlich von seinen eigenen Domänen oder von ausländischen Wohltätern leben. Die Hauptlast trugen stets die Landstände; Steuern wurden erneut ein so wichtiges politisches Thema wie bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

Der »Absolutismus«, den Historiker diesen Gegebenheiten gern anheften, legt jedoch einen Grad der Kontrolle nahe, den kein frühmoderner Herrscher tatsächlich erreichte. Speziell in Deutschland mussten alle Regenten, auch die Kurfürsten von Brandenburg, mit ihren Landständen verhandeln. Pläne einiger Fürsten, sich dieser Zwänge zu entledigen, durchkreuzte der Kaiser mit seinem Veto gegen den Vorschlag, alle Beschränkungen des fürstlichen Steuermonopols abzuschaffen. Einmal mehr fanden sich die Fürsten in eine gesetzliche Struktur eingebunden, die die Landstände berechtigte, den kaiserlichen Hof anzurufen, wenn ihre Rechte missachtet wurden, und es dem Kaiser gestattete, in die Innenpolitik eines Territoriums einzugreifen, um die Rechte der Untertanen durchzusetzen.

Der Wettstreit um Status beschränkte sich nicht auf die armierten und mächtigeren Fürstentümer, sondern war auch in den kirchlichen und in der Vielzahl kleinerer Territorien verbreitet, im kaiserlichen Adel und unter den Reichsrittern (sowie im territorialen Adel). Investitionen in kulturelles Kapital in Form von Residenzen, Kunstsammlungen und Ähnlichem hatten bisweilen desaströse finanzielle Folgen und wurden trotzdem unverdrossen getätigt. Für die meisten kirchlichen Würdenträger, Äbte und Prälaten sowie kleinere Dynasten standen Hoffnungen auf einen souveränen Status, ein Engagement in der europäischen Politik oder die Teilnahme an internationalen Friedenskonferenzen nicht zur Debatte. Dennoch waren sie von politischer Bedeutung, bildeten sie doch kollektiv das Fundament der imperialen Klientel im Reich. Soweit sie ein Stimmrecht im Reichstag hatten, repräsentierten sie den Kern der kaiserlichen Partei. Mit oder ohne Reichstagsstimme neigten Mitglieder dieser Gruppe mehr als andere dazu, in kaiserliche Dienste zu treten, militärisch oder administrativ, und durch Anwesenheit am kaiserlichen Hof in Wien ihr Profil und ihre Reputation zu stärken. Manche strebten nach Fürstentiteln, obwohl die Kosten dieses sozialen Aufstiegs für größere Residenzen und alles, was damit verbunden war, ruinös sein konnten.

Die Bindungen durch Recht und Tradition, die Mitwirkung in und die Inanspruchnahme von imperialen Institutionen sowie die Integration in ein vielfach abgestuftes aristokratisches Wertesystem trugen zum Zusammenhalt des Reichs nach 1648 bei. Dabei wirkte jedoch noch ein weiterer wichtiger Faktor. Wie im 16. Jahrhundert entstand Solidarität durch die Notwendigkeit, das Reich gegen seine Feinde zu verteidigen. Erneut spielten das Osmanische Reich und Frankreich eine Schlüsselrolle für das Zusammenwachsen des Reichs, ebenso wie in geringerem Maß und für kürzere Zeit auch Schweden. Bedrohungen von außen warfen Fragen von Loyalität und Identität auf; sie erforderten Engagement, Solidarität und grundlegende institutionelle Entscheidungen, nicht zuletzt die, wie die Verteidigung des Reichs zu organisieren war. Eine der großen Leistungen Leopolds I. war, das Reich – wohl erfolgreicher als je zuvor – gegen türkische und französische Aggressoren zu mobilisieren.11

Das zeigte sich nicht nur in realer militärischer Gegenwehr, sondern auch an dem damit einhergehenden Reichspatriotismus. Oft als Angelegenheit einer Minderheit von Idealisten abgetan, war dieser Patriotismus, wie jüngere Forschungen gezeigt haben, ein wesentlich verbreiteteres Phänomen, das ein wachsendes Gefühl der Identifikation mit dem Reich widerspiegelte.12 Bisweilen nahm der Nationalismus Ausmaße an, wie man sie in anderen frühneuzeitlichen Staaten findet. Das Schüren der Feindseligkeit gegen die Gegner des Reichs trug zur Herausbildung und Betonung seiner Eigenheit und Charakteristik bei: der Qualitäten seiner Bewohner und des umfassenden Katalogs von Rechten, die man nun mit dem Konzept der »Teutschen Freiheit« (oder ständischen Libertät) verband und überdies zunehmend als Grundrechte aller Einwohner des Reichs – nicht nur der Fürsten und unmittelbaren Untergebenen des Kaisers – verstand und explizit artikulierte.13

Erfolge im Innern und nach außen und schiere Dauerhaftigkeit sorgten während der Herrschaft von Leopold I. (1658–1705) für nie da gewesene Stabilität. Seine Errungenschaften wurden in den Jahrzehnten nach seinem Tod jedoch in Zweifel gezogen. Das lag nicht an Österreichs Ausscheren aus dem Reich, nachdem es den Status einer Großmacht erlangt hatte, oder österreichisch-preußischen Rivalitäten. Die Gründe für das erneute Wanken der kaiserlichen Position in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts sind komplex. Joseph I. neigte in mancher Hinsicht zur Selbstüberschätzung, während es Karl VI. schwerfiel, sich überhaupt durchzusetzen. Da er keine männlichen Nachkommen hatte, war seine Herrschaft zudem von Zweifeln hinsichtlich seiner Nachfolge überschattet.

Auf anderer Ebene zog gerade der Erfolg Leopolds I. Probleme nach sich. Die Vergabe von Fürstentiteln an norddeutsche Adlige und ihr gleichzeitiges Ausspielen gegeneinander war ein nützliches Mittel, indes weckten die Erhebungen Ansprüche und Erwartungen, die den traditionellen Rahmen des Reichs infrage stellten. Die nach 1690 (außerhalb des Reichs) zu Monarchen gekrönten Fürsten (die Kurfürsten von Sachsen, Brandenburg, Hannover und der Landgraf von Hessen-Kassel) veränderten ihre Einstellung zur kaiserlichen Politik, die gescheiterten Aspiranten (die Kurfürsten von Bayern und der Pfalz, der Markgraf von Baden und andere) ebenfalls.

Darüber hinaus erregten die Habsburger mit der Mobilisierung einer überwiegend katholischen Klientel als Kern der prokaiserlichen Mehrheit im Reichstag zunehmend die Feindseligkeit der (größtenteils protestantischen) alten Fürstenhäuser. Zu einer Zeit, als der zweihundertste Jahrestag der Reformation (1717) und der der Augsburger Konfession (1730) an die wahren Wurzeln der »Deutschen Freiheit« gemahnten, bildete sich eine oppositionelle »Partei« gegen den Kaiser und seine übertriebene Ausnutzung imperialer Rechte. In der letzten Phase der Reichsgeschichte entstanden daraus der Widerstreit zwischen Österreich und Brandenburg-Preußen, da Friedrich der Große die Führungsrolle Kursachsens an sich zu reißen versuchte, und eine ganze Reihe von Plänen zur Reform und Erneuerung des Reichs.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien

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