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Mythos und Philosophie

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Der Mythos (im Singular) ist ein theoretisches Konstrukt der europäischen Wissenschaften. Das Problem, wie Mythen (philosophisch) zu deuten seien, entzündet sich an der Homer-Interpretation. Deutlich wird das bei Platon. Man könne nicht angemessen über Gott sprechen, wenn die vielen Götter, von denen Homer erzählt, menschliche Gestalt und Schwächen haben. Platon ersetzt diese Mythen deshalb durch eine vernunftorientierte „Rede über das eine Göttliche“ (theo-logia). In der Dichterkritik der Politeia stellt Sokrates bei der Erörterung von Erziehungsfragen fest, dass man den Kindern zuerst ‚Mythen‘ erzähle; diese Mythen als das ‚Unwahre‘ seien dem ‚Wahren‘ entgegengesetzt. Im Symposion ist die Wahrheit mythischen Ursprungs, wird aber der Philosophie überantwortet. Im Phaidros lässt Platon die Frage nach der Wahrheit offen, weist aber mit gleich ironisch eingefärbtem Nachdruck auf die Schwierigkeiten hin, die ganz und gar nicht gering sind und eine interpretatorische Enthaltsamkeit empfehlen. Indes hat Platon selbst in seinen Dialogen Mythen erzählt, die allerdings keinen Bezug zu einem Kult haben und logisch geläutert sind. Präsentieren sich die Mythen in der Antike in kultischen Manifestationen, dann in poetischer Varianz in der Tragödie, so ist die philosophische Wahrheit aus den heiligen Bezirken ausgezogen und für den Alltag handhabbar geworden.


Theodor W. Adorno (1903–1969)

Blieb trotz allem bei Platon und Aristoteles insgesamt das Verhältnis von Mythos und Logos weitgehend unbestimmt, so ist in der Folge eine immer stärker werdende Festigung dieses Verhältnisses zu beobachten. Hier pflegte vor allem die Stoa die allegorische Methode der rational umdeutenden Interpretation, die in den Göttern personifizierte Naturmächte sah. In der Folgezeit hielten die Philosophen Mythen lange für Allegorien der philosophischen Wahrheiten. Der Neuplatonismus suchte dann die antike Mythologie auf den Begriff zu bringen, nachdem die Mythen unter den Römern ihre kultische und rechtfertigende Funktion verloren hatten. Das Primäre ist der philosophisch fixierte und systematisierte Gedanke. Die philosophische Mythenauslegung im Neuplatonismus machte den Mythos zur philosophisch-funktionalen Metapher oder zur Allegorie. Als religiöses Phänomen wird er dadurch mehr und mehr zerstört. Bis ins 19. Jh. werden die antiken Göttermythen allegorisch oder symbolisch interpretiert. Blieb in der christlichen Spätantike, für die die heidnischen Religionen als Entstellung der im Paradies geoffenbarten Urreligion galten, die Nutzung der Allegorese für die Schriftauslegung eine Ausnahme, so wurde im Mittelalter das allegorische Auslegungsverfahren differenziert. Auch die Renaissance verteidigte den Wert paganer Fabeln mit dem allegorischen Sinn, der sich dahinter verbirgt, weshalb es auch für Christen von Gewinn sei, die Werke heidnischer Autoren zu lesen. Daneben behauptete sich der Euhemerismus, der in Mythen den Niederschlag historischer Ereignisse und hinter Göttern menschliche Persönlichkeiten vermutete, die sich um die Menschheit besonders verdient gemacht haben und deshalb nach ihrem Tode zu Göttern erhoben worden seien.


Platon, Marmorbüste, Rom, Kapitolinische Museen

Die mit Schelling abgebrochene Tradition der Romantik wurde im 20. Jh. von W. F. Otto wieder aufgenommen. Auch E. Cassirer schloss sich an Schelling an, selbst wenn er mit der Entwicklung einer neuen Theorie des Bewusstseins, nämlich der Lehre von den symbolischen Formen, weit über Schelling hinausging. Der Mythos erscheint bei Cassirer als Teil einer Lebensform. Nach seiner Übersiedlung in die USA widmete sich Cassirer der Untersuchung von Mythen in Bezug auf heutige Gesellschaften; Frucht dieser Bemühungen um eine ideologiekritische Bewertung ist sein letztes Werk Der Mythus des Staates, in dem er „die Technik der modernen politischen Mythen“ untersucht, um die Genese des nationalsozialistischen Staates zu verstehen. Hier gibt es eine Verbindung zu G. Sorel, der zwar mehr oder weniger zynisch den fiktiven Charakter von Mythen erkannt, aber nichtsdestoweniger ihre Benutzung als Instrument politischer und sozialer Kontrolle für gerechtfertigt gehalten hatte. Eine alternative Konzeption dazu entwickelte das Hauptwerk von T. W. Adorno und M. Horkheimer Dialektik der Aufklärung von 1947. Der vorgeschichtliche Mythos bestehe in der Moderne fort in zunächst unkenntlichen Verwandlungen, zugleich stellt aber der antike Mythos schon eine Urform emanzipatorischer Rationalität dar: „Schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ Der hier zugrundegelegte Mythosbegriff als die Entsprechung einer (durch die Technik) vergewaltigten und unterdrückten (und damit furchtbaren) Natur und die auf ihn zurückgehende Theorie der Zivilisation wird aber heute zunehmend in Frage gestellt. H. Blumenbergs Arbeit am Mythos versteht sich als ein Gegenstück, als eine polemische Antwort auf die Dialektik der Aufklärung. Der Mythos ermögliche eine zum Ästhetischen tendierende Entmachtung archaischer Ängste. Indem der Mythos bestimmte Lebenssituationen und Ängste bewältigt, gewinnt er seine erste Distanz und ist anfängliche Rationalität. Diese Arbeit des Mythos kann nur in einer nie endenden Arbeit am Mythos realisiert werden. K. Hübner sucht den Mythos mit der Rationalität (und zwar der der modernen Naturwissenschaften) zu versöhnen.

Die phänomenologischen Mythen-Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie in engem Wechselgespräch mit (neu entstehenden) zeitgenössischen ethnologischen und prähistorischen Forschungen entwickelt wurden. So begrüßt bereits Husserl im Zusammenhang der Arbeit an der Krisis-Abhandlung die Arbeiten des Pariser Religionsethnologen und Völkerpsychologen L. Lévy-Bruhl, dessen ihm „vom Verfasser 1929“ zugesandtes Buch Die geistige Welt der Primitiven er nicht nur gründlich studierte und mit Randbemerkungen und Anstreichungen versah, sondern auf das er auch in einem Brief an den Autor vom 11.3.1935 explizit reagierte. Spuren dieser Beschäftigung mit kultureller Fremdheit finden sich im Werk dann auch in den (um 1930 entstandenen) Forschungsmanuskripten zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Im Zusammenhang des Verstehens „primitiver Menschen“ und Kulturen stellt sich Husserl auch das beunruhigende Problem der Konfrontation mit fremden Mythen. Unter Mythen versteht er ein den Generationswechsel überbrückendes Erzählen, das die Identität und damit den Fortbestand der fremden Heimwelt sichert. In der Konfrontation mit mythischer Fremderfahrung stellen sich vor allem zwei Probleme: einmal das der Relativierung der eigenen Kultur und damit das Problem historischer Relativität überhaupt, sodann das Problem des Verstehens dieser fremden Mythen. Konkret auf die Griechen bezogen diskutiert Husserl das Problem des Mythos sodann im Wiener Vortrag (7./10. Mai 1935). Der Mythos, so heißt es hier, gehöre notwendig zur „Umwelt“ der Griechen, d.h. zu ihrer „Weltvorstellung – […] mit all den dann geltenden Wirklichkeiten, z.B. den Göttern, den Dämonen usw.“. Aber er reduziert ihn letztlich nur zu einem Horizont, der sich für eine Interessiertheit öffnet, und konfrontiert den Mythos mit der Freiheit der Theoria.

M. Heideggers Einstellung zum Mythos bleibt lange ambivalent. In Mythen werde einerseits auf uneigentliche, metaphorische Weise die Urbewegung des Daseins dargestellt. Das Dasein, so heißt es 1927/28 über dessen Selbsterschlossenheit, „vollzieht zunächst keinen begrifflichen Unterschied zwischen der Seinsart seiner selbst und der Seinsart der Dinge, zu denen es sich verhält, und das so wenig, dass es zunächst sein eigenes Sein mit dem der Dinge identifiziert. So ist es in allem mythischen Denken […].“ Mythen beinhalten eine Verfallenheit an die Dinge, was das alltägliche Besorgen ebenso wie die Philosophie betrifft. Die Auffassung des Mythos als Seinsverfehlung prägt auch Sein und Zeit: Wenn wir uns metaphorisch, mythisch verstehen, führen wir eine uneigentliche Existenz. Andererseits hat aber das mythische Dasein noch ein Bewusstsein der Trennung zwischen ungemessener und alltäglicher Zeit, zwischen „Ungemessenheit, Mächtigkeit“ (die die transzendentale Zerstreutheit des Daseins überwindet) und „Alltäglichkeit“, d.h. zwischen der Zeit der Feste und der vulgären Zeiterfahrung (als unterschiedslos homogener). Heidegger bezog sein Wissen über den Mythos zu jener Zeit aus E. Cassirer, wie seine Interpretation des mythischen Daseins in der Rezension des 2. Bandes der Philosophie der symbolischen Formen 1928 zeigt. Heidegger paraphrasiert hier Cassirer in der Sprache von Sein und Zeit: Er konfrontiert die Schicksalsordnung des Mythos mit der alltäglichen Zeit, d.h. Heiliges mit Profanem. Der Mythos ist für Heidegger vorwissenschaftliche Wissenschaft (er geht vor allem von aitiologischen, d.h. solchen Mythen aus, die Ursprung und Beschaffenheit der Naturphänomene erklären), steht nicht in Bezug zur Religion, sondern ist allenfalls religiös. Mit der hier erhobenen Forderung einer neuen Philosophie des Mythos im Anschluss an Schelling und Cassirer bereitet sich eine Neubewertung des Mythos im Zuge der sogenannten ‚Kehre‘ vor: Ab 1929 wird W. F. Otto mit seinem Buch Die Götter Griechenlands – eine erste objektivistische Mythos-Interpretation – wichtig, dann Hölderlin und die griechische Tragödie. Heidegger wollte die Erfahrung des Göttlichen durch ein Zusammenwirken von Dichten und Denken neu zur Entscheidung stellen. Mit der Verkehrung der ‚aletheia‘ (d.h. der ursprünglichen Vorstellung von Wahrheit als ‚Unverborgenheit‘) zur Richtigkeit hängt zusammen, dass der Mythos – das Wort und die ‚Sage‘ – aus seinem Eigenwesen und in den Gegensatz zum Logos gedrängt wurde. Es war die Sprache und Dichtung Homers, die den Griechen ihre Götter gegeben hat. So soll Hölderlin den Deutschen den Weg bahnen für den kommenden Gott – wenn er Gehör findet. Der späte Heidegger betont deshalb immer wieder, dass „der Mythos […] das Denkwürdigste bleibt“. Mit einer historisch gelehrten ‚Mythologie‘ hat dies aber nichts zu tun.

In seiner an die Religionsphänomenologie anschließenden frühen Hermeneutik der Symbole sucht P. Ricœur nach Richtlinien für das kritische Verstehen der Primärsprache symbolischer Selbstauslegung, als die er den Mythos versteht. Ricœur möchte den ursprünglichen Begriff des Mythos wiederherstellen und gegen Übergriffe von Pseudomythologien schützen. Mit M. Eliade betont Ricœur vor allem die „Symbolfunktion“ des Mythos, d.h. „sein Vermögen, die Bindung des Menschen an das ihm Heilige zu entdecken, zu entschleiern“. Der Mythos ist die „symbolische Wiedergutmachung und Wiederherstellung“ der verlorenen Ureinheit und Ganzheit. Ricœurs kritisches Verständnis des Mythos ist Platon verpflichtet; er gebraucht den platonischen Begriff des Mythos, um das primäre Bewusstsein und die Sprache des Mythos zu entziffern. Ricœur sieht zwei Charakteristika des Mythos: „Dass er Wort ist, und dass bei ihm das Symbol die Form der Erzählung annimmt.“ Das Faktum des Schuldigwerdens sperrt sich jeder Beschreibung. Nur in der Konkretheit des Mythos und in der Sprache des Bekenntnisses kann das Fehlen bzw. das Schuldigwerden ausgesprochen werden. In seiner weiteren Entwicklung erscheint Ricœur diese frühe Hermeneutik der Symbole immer mehr zu einer Hermeneutik von Texten erweiterungsbedürftig. Im Grunde wäre alles schon zu Symbol und Mythos Gesagte aus der Perspektive der späteren sprachtheoretischen Arbeiten (vor allem zu den Themenbereichen ‚Metaphern‘ und ‚Erzählung‘) wiederaufzugreifen.

Auch für den tschechischen Husserl- und Heidegger-Schüler J. Patocka ist der Mythos eine Aufhebung der profanen Zeit. Wie Ricœur begreift er ihn als ewige rituelle Wiederholung eines Urereignisses und damit erblickt er in der „mythischen Urzeit“ „den Schlüssel zu allem, was wirklich geschah“. Für den Mythos ist die Realität „Erzählen“, und insofern ist er „die ursprüngliche Form, in der der Mensch seine Beziehung zur Welt in ihrer Totalität reflektierte“. Die „Kehrseite“ des Mythos liege in der Verführung des Menschen zur Passivität; um für die Zukunft offen zu werden, bedürfe der Mensch des Glaubens. In seinen späteren Schriften stellt Patocka der vorgeschichtlichen natürlichen Welt (die er mit H. Arendt als von reiner Selbstreproduktion bestimmt sieht) die Welt der Geschichte gegenüber. Mit Polis und Philosophie tue sich zwischen den Menschen und den ihm bisher vertrauten Dingen ein Abgrund auf, der den Beginn der Geschichte markiere. An die Stelle des dunklen Erratens des Mythos trete das ausdrücklich fragende Suchen der Philosophie. Es ist vor allem die mit der Schrift einhergehende Entstehung eines kollektiven Gedächtnisses, die dazu führt, dass der Mythos auf „höherer Ebene“ wiederholt wurde. Es ging darum, „das Menschenbild des Mythos beim Wort zu nehmen, eine Tat, welche ihresgleichen nicht hat in der Geschichte des menschlichen Geistes“. Jetzt erst entsteht die Voraussetzung für ein Suchen nach Gründen und Begründung, wie es die Philosophie darstellt.

LITERATUR

T. W. Adorno, M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M. 1969

P. Ricœur: Die Symbolik des Bösen. München 1971

L. Kolakowski: Die Gegenwart des Mythos. München 1973

G. Vico: Principi di Scienza nuova (1725). ND 3 Bde. Torino 1976

E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde., ND der 2 Aufl. 1953. Darmstadt 1977

H. Poser (Hg.): Philosophie und Mythos. Ein Kolloquium. Berlin 1979

H. Blumenberg: Arbeit am Mythos. 2 Aufl. Frankfurt a. M. 1981

K. Hübner: Die Wahrheit des Mythos. München 1985

S. H. Daniel: Myth and Modern Philosophy, Philadelphia 1990

E. Husserl: Die Krisis des europäischen Menschtums und die Philosophie. Mit einer Einführung von Bernhard Waldenfels. Weinheim 1995

C. Jamme: „Gott an hat ein Gewand“. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1999

B. Šijaković: Myth and Philosophy: Theories of Myth and Greek Mythmaking. A Bibliography. Beograd 2012 CJ

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