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Vorwort

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Mythen sind ein vielfältiges, weltweit verbreitetes und dauerhaftes kulturelles Phänomen. Es gründet darin, dass Menschen sich Geschichten erzählen, um sich in der Welt zu orientieren. Solche Geschichten können fantasiegeborene Erklärungen sein (wie etwa die Deutung von Blitz und Donner als Waffen und Herrschaftszeichen eines mannsgestaltigen Gottes), sie können die erfahrbare Wirklichkeit überhöhen (wie etwa in der Vorstellung unbesiegbarer, maßlos kräftiger Helden), sie können das ausmalen, was der Erfahrung unzugänglich ist (wie etwa die Entstehung der Welt oder das Schicksal der Gestorbenen), oder auch einer Fabulierlust entspringen, die emotionale Bedürfnisse nach Unterhaltung, Gemeinschaftsbildung und Sinngebung erfüllt (was in unserer Gegenwart besonders von den großen Kinofilmen angeboten wird). Mythen gehören zu den ältesten kulturellen Überlieferungen. In Europa reichen sie, was die Texte betrifft, bis ins 8. Jh. v. Chr. zurück, im alten Orient bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. Die antiken griechischen Götter- und Heldenerzählungen, die seit der Wende vom 8. zum 7. Jh. mit Hesiods Theogonie und den homerischen Epen Ilias und Odyssee dokumentiert sind, geben die Basis, auf der sich die Vorstellung vom ‚Mythos‘ gebildet hat. Allerdings wäre es falsch, von einem ursprünglichen Mythos im Singular zu reden. Verschiedene Mythen waren vielmehr an jeweils bestimmte Orte und Kulte gebunden. Die schriftliche Sammlung und Fixierung bei Hesiod und Homer markiert ein Spätstadium, in dem die Mythen schon ihre ursprüngliche auf Mündlichkeit beruhende religiöse Funktion verloren hatten und in ästhetisch-poetische Distanzierung übergegangen waren.

Auch wenn der Begriff und seine ursprüngliche Anschauung damit altgriechisch sind, bleibt das Phänomen, das wir heute mit dem Ausdruck ‚Mythos‘ bezeichnen, nicht auf das griechische Altertum beschränkt. Es findet sich in anderen europäischen und außereuropäischen Kulturen weltweit, und es ist auch keine Angelegenheit nur der alten, ‚unaufgeklärten‘ Zeiten. Denn Aufklärung lässt Mythen nicht einfach verschwinden. Sie schafft vielmehr Einsicht in deren spezifische Beschaffenheit und Wirksamkeit. So leben wir heute nicht in einer Zeit ohne Mythen, sondern in einer solchen, die sich über die Präsenz und Funktion des Mythischen kritisch Rechenschaft zu geben versucht. Das verbindet uns mit den altgriechischen Philosophen, die den Begriff ‚Mythos‘ eben nicht zur gläubigen Hingabe an die Götter- und Heldengeschichten geschaffen haben, sondern zur kritischen Reflexion auf deren Beschaffenheit und Wirksamkeit.

Dieses Handbuch der Mythologie führt in die Vielfalt, die weltweite Verbreitung und die Dauerhaftigkeit der Mythen ein. Es bemüht sich dabei um eine Balance aus stofflicher Präsentation und begrifflicher Klärung. So sollen die Mythen als Geschichten, d.h. in der Sinnlichkeit ihrer Inhalte, und zugleich in den Bedingungen und Funktionen ihrer Überlieferung kenntlich werden. Der erste Teil, Welten des Mythos, gibt eine Übersicht über die wissenschaftliche Diskussion des Phänomens Mythos, dessen Vielfalt in unserer arbeitsteiligen Wissenschaftswelt zu einer Aufgabe mehrerer Disziplinen geworden ist. Der zweite Teil, Mythen der Welt, stellt die Mythen der verschiedenen Kulturkreise in ihren wichtigsten Elementen vor, wobei das für die gesamte europäische Kultur grundlegende griechisch-römische Altertum den Schwerpunkt bildet. Die germanische Mythologie stellt den eigenen Fall dar, dass ihre Göttergeschichten und -lehren gar nicht durch kulturell authentische Dokumente belegt sind, sondern erst von einer späteren, christlichen Warte aus rekonstruiert wurden. In den Europa-Kapiteln geht es zusammen mit den alten Zeugnissen auch um die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bis heute. Dabei sollen exemplarisch möglichst viele der Aspekte sichtbar werden, die der erste Teil begrifflich entfaltet. Die Kapitel zu den außereuropäischen Kulturen führen in die jeweiligen Entstehungs- und Überlieferungsbedingungen sowie in die Funktionen dessen ein, was der europäischen Vorstellung vom Mythos entspricht, ihr nahe kommt oder vergleichbar ist. Denn die Übertragbarkeit dieses Konzepts auf außereuropäische Kulturen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern in ihren Möglichkeiten zu prüfen und zu bestimmen. Dabei zeigen sich viele Unterschiede, aber eben auch viele funktionale, inhaltliche und motivische Entsprechungen. Menschlich-kulturelle Gemeinsamkeiten stehen neben kulturräumlichen Differenzen. In einem einzigen Buch so viel Unterschiedliches zu bringen, ist ein Wagnis, das wir nur dadurch eingehen konnten, dass die außereuropäischen Kapitel von jeweils einschlägigen Spezialistinnen und Spezialisten verfasst wurden. Freilich ist in diesen Fällen die Auswahl noch viel enger als im europäischen Teil. Aber so ist doch immerhin ein Anfang gemacht, den Mythos als ein allgemeines Phänomen menschlicher Gesellschaft zu sehen.

Christoph Jamme, Stefan Matuschek

Handbuch der Mythologie

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