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Mythos und Kunst

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Den vielfältigen und engen Zusammenhang von Mythos und Kunst können vier kurze Aussagen anzeigen und ordnen: 1. Der Mythos erscheint ursprünglich und am häufigsten als Kunst. 2. Mythen liefern Stoffe für die Kunst. 3. Mythen dienen als Ausdrucksformen der Kunst. 4. Die Kunst bestimmt sich selbst, ihren Anspruch und ihre Absichten oftmals als Mythos. Auf je einen Begriff gebracht, erklären diese Aussagen den Zusammenhang von Mythos und Kunst als phänomenales, inhaltliches, formales und programmatisches Verhältnis.

Mythen erscheinen als Kunst, und zwar von Beginn an. Das ursprüngliche Phänomen, auf das sich der altgriechische Ausdruck ‚mythos‘ bezieht, ist die Dichtung, genauer: die homerischen Epen Ilias und Odyssee. Die wörtliche Bedeutung von ‚mythos‘ (Rede, Erzählung) konkretisiert sich damit als erzählende Dichtung. Der Kunstanspruch liegt dabei in den Versen, in den weiteren stilistischen Mitteln, im inhaltlich-motivischen Aufbau und der Perspektivierung: Genau diese sprachliche Kunst ist die ursprüngliche Gestalt des Mythos. Der neuzeitliche, im Prozess der europäischen Aufklärung gebildete Mythosbegriff zielt über diese dichterische Gestalt hinaus auf eine ihr zugrundeliegende Weltanschauung und Götterlehre. Dass es die jenseits der Dichtungen tatsächlich als gelebte Realität gab, lassen Tempel und andere Kultstätten annehmen. In dieser Perspektive sind die homerischen Epen nicht selbst der Mythos. Sie sind nur seine nachträglichen dichterischen Bearbeitungen. Der Mythos selbst liegt ihnen als kollektive Weltanschauung und Religion voraus. So verstanden, hat man den altgriechischen Ausdruck von seinem ursprünglichen Bezug abgelöst und auf andere Kulturen und Phänomene übertragen, die nicht mehr zwingend mit dichterischer Erzählung verbunden sein müssen: auf Denkweisen und Glaubensvorstellungen, die sich auch rein praktisch in Kulten und Riten ausdrücken können. Für die griechische Antike bleibt die Ablösung des Mythos von seiner dichterischen Gestalt allerdings spekulativ. Man greift ins Leere, wenn man jenseits der homerischen und der ihnen nachfolgenden Dichtungen oder anderer Kunstwerke wie Statuen oder Vasenmalereien griechische Göttervorstellungen sucht. Die griechische Mythologie erscheint insgesamt als Kunst. Das schließt allerdings nicht aus, dass sie zugleich auch gelebte Realität, d.h. Weltanschauung und Religion war. Die Götterstatuen waren keine Museums-, sondern Kultfiguren. Auch die Befragung des Delphischen Orakels (▸ Apollon) war ein realer Ritus und der ▸ Trojanische Krieg galt als geschichtliche Tatsache. Dass der Mythos aber ebenso als dichterische Erfindung angesehen wurde, ist seit dem 6. Jh. v. Chr. gerade durch diesen Ausdruck belegt. Denn der Begriff Mythos dient genau dazu, die homerischen Götter- und Heldenerzählungen als dichterische Erfindungen und damit als Unwahrheiten zu kennzeichnen. Etwas als Mythos zu bezeichnen ist von Anfang an eine Geste der Distanzierung, ist die Diagnose, dass etwas nicht wahr, sondern erzählerisch erfunden ist. Eine historische Schwelle, an der sich diese Diagnose kollektiv gegen den Glauben durchsetzt und Götter und Helden ihr Ansehen wechseln, ist nicht rekonstruierbar. Man kann in den antiken Überlieferungen vor der Christianisierung keine Epochen der geglaubten Wahrheit und der durchschauten Unwahrheit unterscheiden. Es ist beides zugleich, ohne dass man genau nachvollziehen könnte, wo das für wahr Gehaltene aufhört und das Fiktionsbewusstsein anfängt. Diese Gleichzeitigkeit von Götterkult und dem Wissen um künstlerische Erfindung zeigt sich auch in der Vergegenwärtigung der Mythen auf dem griechischen Theater: Die Aufführungen der Tragödien (wie sie hauptsächlich vom Ende des 6. bis zum Ende des 5. Jh. v. Chr. von Aischylos, Sophokles und Euripides überliefert sind) waren kultische Feste für den Gott ▸ Dionysos und trugen als individuelle künstlerische Arbeiten zugleich einen Wettbewerb untereinander aus. Gottesdienst und Wettstreit der Tragödiendichter, Ehrung des Gottes und Ehrung der besten künstlerischen Leistung waren eins. Es ist so, als würde man eine Reihe christlicher Messen zugleich als einen Wettbewerb um die beste individuell gestaltete Zeremonie austragen. Indem die antiken Dichter und ihr Publikum zugleich auf die menschlich-künstlerische Darstellung reflektieren, zeigen die Gestaltungen und die Auffassungen der griechischen Mythologie eine ganz eigene Mischung von Glauben und Distanz.


Theaterszene auf rotfigurigem Krater, Ferrara, Museo Nazionale Archeologico

Durch die Christianisierung vereindeutigt sich die Einschätzung der griechischen und der von ihr abhängigen römischen Mythologie als Kunst. Sie sind nicht mehr Dichtung und Wahrheit, sondern als Dichtung gerade keine Wahrheit. Das künstlerische Prestige dieser Dichtungen sorgt jedoch für ihre Tradierung. Das Ansehen der epischen und dramatischen Kunst rettet das Überleben der heidnischen Götter und Helden. Dass auch die biblischen Erzählungen analog als Mythen und damit die Bibel nicht als göttliche Offenbarung, sondern als Poesie der alten Hebräer verstanden wird, ist eine Perspektive erst der Aufklärungsphilosophie. Sie führt zu verschiedenen Positionen der Religionskritik: Von der radikalen Auffassung, dass auch die biblischen Gottes- und Wundererzählungen nichts anderes als menschliche Erdichtungen seien (z.B. Baruch de Spinoza, Tractatus theologico-politicus, Theologisch-politischer Traktat, 1670), bis hin zu Vermittlungsversuchen, die im eigenen, ernsten Charakter der biblischen Dichtungen im Gegensatz zum spielerischen Charakter der griechischen und römischen Mythologie ein wahrhaftiges Glaubenszeugnis sehen (z.B. Johann Gottfried Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1782/83).

Allen Bekenntnisproblemen zum Trotz aber hat sich die antike Mythologie als Stoff in den christlich-europäischen Künsten etabliert. Es ist die Vorbildfunktion vor allem der antiken Dichtungen, wodurch die mythischen Stoffe dauerhaft präsent blieben und bis heute als Basis motivischer Fortschreibungen und Adaptionen dienen. Das gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für die bildenden Künste, für das Sprech- und Musiktheater, in der Moderne auch für den Film und den Comic.

Im lateinischen Mittelalter waren nicht die griechischen, sondern die römischen Dichter maßgebend. Die griechischen Texte waren wie überhaupt die Kenntnis der griechischen Sprache im westlichen Europa weitgehend verloren. Was den Kunstanspruch betrifft, stand Vergils Aeneis an der Spitze. Sie galt als Gipfelwerk der lateinischen Poesie, so dass sich der ihr gezollte Respekt und ihr führender Status durch den institutionalisierten Lateinunterricht auf den zugehörigen mythischen Stoff (▸ Aeneas) übertrug. Was die Vielfalt und Verbreitung der mythischen Figuren und Motive betrifft, wurde die Aeneis jedoch von Ovids ▸ Metamorphosen übertroffen. Dieses um die Zeitenwende entstandene Epos bietet sich auch dazu an, weil es schon seinerseits eine Sammlung der verschiedensten mythischen Stoffe darstellt. Ovid fügt sie durch das Verwandlungsmotiv zu einer fortlaufenden Erzählung zusammen. Überlieferungsgeschichtlich hat sie als die mit Abstand wichtigste Quelle für das mythologische Wissen gedient. Bis zum 16. und 17. Jh., d.h. bis zur europäischen Barockkultur war sie in dieser Funktion dominant. Was man über die verschiedenen mythischen Figuren wusste und mit ihnen verband, war zumeist das, was man in den Metamorphosen über sie lesen konnte. Ovid wirkt damit zugleich als Filter: Was er bringt, findet Verbreitung. Was bei ihm nicht vorkommt, gerät in Vergessenheit. Das gilt für die Literatur wie für die bildenden Künste. Die mythologischen Figuren und Szenen, die von der Renaissance- und Barockmalerei zuhauf gewählt werden, beziehen sich zumeist auf Ovids Epos. Für Kunsthistoriker wie für alle übrigen Betrachter der Alten Meister sind die Metamorphosen das unentbehrliche Handbuch, um zu verstehen, wer und was denn jeweils dargestellt ist. Auch die Schauspieldichtung und die entstehende Gattung der Oper orientieren sich im 15., 16. und 17. Jh. stofflich an Ovid.

Als aufgrund der türkischen Eroberung Konstantinopels im 15. Jh. viele griechisch sprechende Gelehrte zusammen mit ihren alten Manuskripten nach Westeuropa, vor allem nach Italien fliehen (das ist der Auslöser der Renaissance), verbreitert sich die Quellenlage. Nach und nach werden die homerischen Epen wiederentdeckt und in die verschiedenen modernen Sprachen übersetzt. Die Tragödien des Sophokles und Euripides werden mit ihren Stoffen zur Vorlage des klassizistischen Hofheaters, woraus die französischen Dramatiker Pierre Corneille und Jean Racine am Hof Ludwigs XIV. zum Ende des 17. Jh. die europaweit ausstrahlende Norm der klassischen Tragödie formen. Die antike Mythologie liefert insgesamt den Grundstoff für die repräsentative Hofkultur bis ins 18. Jh., für das ernste Schauspiel und die ernste Oper wie die Malerei. Dadurch und überhaupt durch den altsprachlichen Unterricht und die Lektüre der antiken Klassiker festigt sich das mythologische Wissen als Bildungsgut. Von der Hof- und Gelehrtenkultur der Renaissance und des Barock setzt es sich bis weit in die bürgerliche Kultur hinein fort. Sich in der antiken Mythologie auszukennen, gehört bis ins 20. Jh. hinein zur Selbstverständlichkeit der gebildeten Schichten. Um dies zu sichern, entstehen seit dem 18. Jh. Handbücher, mit denen man die Mythologie alphabetisch nach Figuren sortiert nachschlagen und lernen kann. Das erste populäre Beispiel dafür ist in Deutschland Benjamin Hederichs Gründliches mythologisches Lexicon, das zuerst 1724 herauskommt und sich in verbesserten Neuauflagen bis in die Goethezeit lebendig erhält. Bis heute gibt es unzählbar viele solcher Nachschlagewerke, die als übersichtliches Gesamtbild die sachlich falsche Erwartung wecken, dass die Mythologie in ihrem Figurenbestand und Erzählzusammenhängen ein kohärentes, in sich konsequentes Ganzes sei. Die Nachfrage nach solchen Lexika entsteht daraus, dass alle Kunstgattungen (alle Gattungen der Literatur, die bildenden und darstellenden Künste, der Film sowie Video- und Computerkunst) den antiken mythischen Stoffen verbunden bleiben und sie immer wieder für ihre eigene Gegenwart erneuern. In Deutschland kommen über das 19. Jh. Stoffe aus der germanischen Mythologie hinzu, insbesondere aus der Siegfried- und der Nibelungensage, die durch Wagners Opern und zu Beginn des 20. Jh. durch Fritz Langs Nibelungenfilm (▸ Nibelungenlied) die antike Mythologie an Popularität übertreffen. Das hat politische Gründe. Die germanischen Stoffe werden ideologisch funktionalisiert und als Belege eines tiefen, ewigen deutschen Nationalcharakters zelebriert. Diese Revitalisierung der germanischen Mythologie lädt den Mythosbegriff neuerlich mit einem prinzipiellen Wahrheitsanspruch auf, der sich in der jahrhundertelangen Antikenrezeption in den Künsten gar nicht gestellt hatte. In dem Maße, wie sich diese ideologische Funktionalisierung durchsetzt, wird der Kunstcharakter des Mythos negiert und mythologische Kunst nicht als menschliches Artefakt, sondern als quasi-religiöse Offenbarung genommen. Bei Jacob Grimm, einem der Gründerväter der Germanistik, führt dies trotz seiner überragenden philologischen Vernunft zu der Überzeugung, dass das Nibelungenlied keinen Verfasser haben könne, sondern sich als Offenbarung eines Volkscharakters gewissermaßen selbst geschrieben habe. So nähren die alten, in kollektive Anonymität zurückreichenden Erzählstoffe immer wieder die irrationalen Erwartungen einer höheren Wahrheit. In der zeitgenössischen Pop- und Fantasykultur leben sie als Esoterik-Welle fort, die sich in erheblichem Maße aus Stoffen der germanischen wie auch der keltischen Mythologie speist. Nimmt man das imaginär-mittelalterliche Abenteuer-Fantasy-Milieu hinzu, wie es sich in Comics, Filmen und Computerspielen inszeniert, zeigt sich die enorme Verbreitung der nordischen Mythologie in der heutigen Populärkultur.

Wenn die Kunst mythische Stoffe wählt, werden sie nicht nur deren Inhalt, sondern nehmen zugleich eine bestimmte Gestalt an. Sie erscheinen als künstlerische Formen, die sich in den Jahrhunderten der Überlieferung konventionalisieren. Das macht sie wiedererkennbar und stiftet überhaupt den Zusammenhang im Variantenreichtum der immer neuen Adaptionen. Konventionell sind zentrale Handlungselemente (Zeus verführt die Frauen, Athene/Minerva wird aus Zeus’ Kopf geboren, Siegfried tötet den Drachen), Attribute (Zeus hat den Blitz, Athene Helm und Speer, Siegfried die unverletzbare Haut und das stärkste Schwert) sowie die Vorstellung der Figur selbst (Zeus als imposanter Herr, Athene als wehrhafte Jungfrau, Siegfried als blonder Recke). Bei allen Veränderungen muss wenigstens ein Mindestmaß davon erhalten bleiben, damit die Neugestaltung überhaupt als Etappe der Mythosrezeption erkennbar ist. Künstlerische Mythosadaptionen sind immer eine Verbindung von Konvention und Neugestaltung.


Szenenfoto aus: Fritz Lang (Regie): Die Nibelungen, 1924

Dieser Konventionalität verdankt es sich, dass die mythischen Figuren zu einer eigenen Zeichensprache geworden sind. Indem sie typische Eigenschaften und Merkmale zeigen, können sie als Ausdrucksformen ebendieser Eigenschaften und Merkmale verwendet werden. Geschichten über Zeus sind dann nicht nur Geschichten über den höchsten Gott der alten Griechen, sondern allgemein über Herrschaft. Und wenn sich die Max-Planck-Gesellschaft Minerva als Logo wählt, geht es ihr nicht um die wehrhafte Jungfrau, sondern um die Weisheit, die diese Figur als Kopfgeburt verkörpert. Die antike Mythologie ist das älteste und bis heute am langfristigsten und umfänglichsten gebrauchte Reservoir für künstlerisch-allegorische Zeichen, d.h. für solche Darstellungen, die nicht im eigentlichen, sondern übertragenen Sinne verstanden werden wollen. Die Beliebtheit und die anhaltende produktive Rezeption der antiken Mythologie haben wesentlich damit zu tun. Denn neben den spannenden und kuriosen Geschichten ist es diese allegorische Dimension, die das Interesse der Künstler an den mythischen Figuren lebendig hält. Sie wurde und wird auf verschiedene Weise genutzt. Zum einen dazu, die Mythologie zu einem Weisheitszeugnis zu verklären. Man müsse die alten Erzählungen nur allegorisch interpretieren, um ihre tiefere, ewige Wahrheit zu erkennen. Dieses Argument hat man vor allem im Mittelalter und auch der frühen Neuzeit vorgebracht, um die heidnische Kunst mit dem Christentum zu versöhnen (z.B. Francis Bacon, De sapientia veterum, Die Weisheit der Alten, 1609). Hier wird die allegorische Dimension rezeptiv als Interpretationsanleitung genommen, um den dauerhaften Wert der alten Geschichten zu behaupten. In der politischen Erneuerung des Germanenmythos oder auch in dem esoterisch-populärkulturellen Interesse an der nordischen Mythologie findet sich dasselbe Argument. Nicht wenige Leser von John R. R. Tolkiens Lord of the Rings (Der Herr der Ringe, 1954/55), der aus Motiven der nordischen Mythen geschaffen ist, glauben, dass es hier um geheimere Wahrheiten und Prophetien gehe als nur um die pittoreske mythische Abenteuerlichkeit.

In praktischer Weise wird die allegorische Dimension einerseits genutzt, um die eigenen Themen darstellerisch zu schmücken und zu erhöhen, andererseits aber auch als eine strategische Verkleidung, um Themen indirekt zu artikulieren, die direkt nicht darstellbar wären. Schmuck und Erhöhung entfalten sich vor allem in der Repräsentationskultur. Das Bild- und Skulpturenprogramm an den europäischen Höfen ist voll davon, die Herrschergestalten und -tugenden in mythischen Götterfiguren zu verherrlichen (etwa Ludwig XIV. als Zeus/Jupiter oder als Sonnengott Phöbus Apollon. In dieser Verkleidung trat der junge König als Ballett-Tänzer auf). Besonders beliebt war dazu die ▸ Herkules-Figur, die zusammen mit der Stärke auch den Schutz vor allem Unheil und in der Rolle des Musenführers zudem die Sorge für Kunst und Wissenschaft bedeutet. In modernen demokratischen Gesellschaften setzt sich diese Repräsentationskultur fort: Vor dem Wiener Parlamentsgebäude verherrlicht eine Athene-Skulptur als Allegorie der ältesten Polis die Demokratie. Und auch die angewandten Künste des modernen Marketings bleiben diesem Programm treu: Das amerikanische Mondlandeprojekt stellte sich öffentlich unter dem Namen des Sonnengottes ▸ Apollon vor und verwendete diese Figur wie den zugehörigen Sonnenwagen als Emblem. Als strategische Verkleidung dienen die mythischen Figuren dort, wo Schicklichkeit oder politische Zensur die eigentliche Darstellung verbieten. Das erklärt, warum mythische Stoffe in der DDR-Literatur verbreitet waren (Heiner Müller, Christa Wolf oder die Ikaros-Figur in der Lyrik, ▸ Daidalos und Ikaros). Diese List, im mythischen Modell zu erörtern, was realistisch nicht gesagt und dargestellt werden könnte, ist sehr viel älter. In der frühen Neuzeit verbindet sie sich auf subtile Weise mit ihrem Gegenteil, der Repräsentationskultur: Molières Komödien etwa greifen die konventionellen Jupiter-Darstellungen Ludwigs XIV. auf, um im mythischen Gewand die absolutistische Willkür anzuklagen (Amphitryon, 1668). Eine Freiheit anderer Art eröffnet die Mythologie der Kunst dort, wo sie Schicklichkeitsgrenzen zu übertreten erlaubt. Das betrifft vor allem die Erotik. Auch hier gilt: Was realistisch nicht darstellbar oder sagbar wäre, ermöglicht sich in mythischer Verkleidung; gerade dann, wenn diese Verkleidung nichts verkleidet. Der Mythos gibt die Lizenz zur Darstellung nackter Körper: Wenn es eine antike Göttin sein soll, dann erregt der nackte Frauenleib keinen Anstoß. Die vielen mythischen Figuren in der Malerei und Skulptur der Renaissance, des Barock, des Rokoko und des Klassizismus sind auch als Ausnutzung dieses erotischen Freiraums zu erklären. Dasselbe gilt für die Literatur, die das mythische Personal viel freizügiger beschreiben und agieren lassen kann, als es in menschlich-realistischer Szenerie schicklich wäre. Die anhaltende Präsenz der mythischen Stoffe hängt insgesamt damit zusammen, dass die Mythologie sich als vielfältig nutzbare künstlerische Ausdrucksform anbietet.


Henri Gissey: Ludwig XIV. als Apollon, 1653, Paris, Bibliothèque nationale de France. Département des Estampes et de la photographie

Neben Inhalten und Ausdrucksformen bietet die Mythologie der Kunst schließlich eine programmatische Orientierung. Sie wirkt als Idee, mit der die Kunst ihr Selbstverständnis, ihre Ansprüche und Absichten formuliert. Am einflussreichsten und für die Moderne richtungsweisend ist hier das Konzept einer ‚Neuen Mythologie‘, das im Kontext der frühidealistischen Philosophie und frühromantischen Literatur in Deutschland zum Ende des 18. Jh. entstand. Es führt zu einem nachhaltigen Richtungswechsel, wie die Kunst ihre Rede vom Mythos perspektiviert: Er ist nun nicht mehr das Alte, die Überlieferung aus der Vorzeit, sondern liegt als Aufgabe, Erwartung und Ziel in Gegenwart und Zukunft. An der Vorstellung, dass die griechische Mythologie eine die gesamte Gesellschaft vom Kind bis zum Gelehrten verbindende anschauliche Weltdeutung gewesen sei, nimmt die aktuelle Literatur Maß für ihren eigenen Geltungsanspruch. Sie will als ‚Neue Mythologie‘ der gegenwärtigen Gesellschaft jetzt und in Zukunft das sein, was die homerischen Epen den alten Griechen gewesen seien: Kunst als gemeinschaftsstiftende Weltanschauung. Das älteste Dokument dieser Idee ist ein auf die Zusammenarbeit (um 1796/97) von Hegel, Hölderlin und Schelling zurückgehendes Fragment, das als „Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“ erst postum 1917 veröffentlicht wurde. Doch haben vor allem Hölderlin und Schelling, aber auch Novalis dieses Programm in ihren zu Lebzeiten publizierten Werken verfolgt. Das prägnanteste zeitgenössisch gedruckte Manifest dazu ist Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“ (im Gespräch über die Poesie, 1800). Mit der Gegenwarts- und Zukunftsorientierung sowie mit der Wendung, unter Mythologie in erster Linie nicht alte Inhalte und Ausdrucksformen, sondern aktuelle kollektive Geltungsansprüche zu verstehen, hat die Frühromantik nachhaltig gewirkt. Auch wenn sich die philosophischen und politischen Kontexte ändern, bleibt die Grundidee erhalten: In der Kunstdiskussion markiert der Begriff Mythos nicht mehr eine Sache der Altertumskunde, sondern das Wirkungspotenzial aktueller und zukünftiger Werke. Mit größter Resonanz setzen Richard Wagner (Oper und Drama, 1852) und der ihm folgende Friedrich Nietzsche (Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872; Richard Wagner in Bayreuth, 1876) diese Idee fort. Unter Rückbezug auf die kultische Praxis der griechischen Tragödie propagieren sie das den germanischen Mythos zelebrierende Musikdrama als nationale Gemeinschaftsstiftung. Wagners eigenes Opernwerk, insbesondere Der Ring des Nibelungen (Uraufführung 1876), sowie sein Bayreuther Festspielkonzept verstehen sich als dessen Realisierung. Der französische Surrealismus löst die Idee der Neuen Mythologie schließlich radikal von allen alten Traditionen ab und lenkt sie auf die Alltagswelt um: „Des mythes nouveaux naissent sous chacun de nos pas“ (Neue Mythen entstehen unter jedem unserer Schritte), heißt es im „Vorwort zu einer modernen Mythologie“ („Préface à une mythologie moderne“) in Aragons Le paysan de Paris (Pariser Landleben, 1926). In jeder Erscheinung der Alltagswelt entdeckt der Blick des Künstlers das Potenzial zum Mythos. Dieses an der Gegenwart ansetzende, produktive Mythosverständnis und auch der Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit, auf Gemeinschaftsstiftung, ist vom Publikum aufgenommen und bestätigt worden. Mythos ist, wenn man die heutige Redeweise insbesondere im Zusammenhang mit Hollywoodfilmen nimmt, kein antiquarischer Wissensbestand an Erzählstoffen und Figuren, sondern eine große Idee von der Wirkungskraft und Reichweite künstlerischer Produktionen. Wenn man den Begriff selbstreflexiv verwendet, kann man urteilen, dass die mythenbildende und damit sinn- und gemeinschaftsstiftende Kraft der Kunst einer der großen modernen Mythen ist. Er vereint tatsächlich die intellektuellen Kunsteliten mit dem Massenpublikum. SM


Lucas Cranach d. Ä.: Venus und Amor als Honigdieb, 1530, New York, Metropolitan Museum of Art. The Robert Lehman Collection. Inv.-Nr. 1975. 1. 135.


Amalie Materna. Die Brünhilde der ersten Bayreuther Festspiele 1876

LITERATUR

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Peter Tepe et al. (Hg.): Mythen in der Kunst. Würzburg 2004

Annette Simonis, Linda Simonis (Hg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln 2004

Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hg.): Mythenkorrekturen Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin, New York 2005

Maria Moog-Grünewald (Hg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart, Weimar 2008

Bent Gebert, Uwe Mayer (Hg.): Zwischen Präsenz und Repräsentation. Formen und Funktionen des Mythos in theoretischen und literarischen Diskursen. Berlin, Boston 2013

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