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»Paris ist die Welt«

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Schönheit ließ sich freilich auch in Paris finden. Wie eh und je sonnte sich die Stadt in ihrem Glanz, strahlte auch 1939 jene Selbstgewissheit aus, die ihr seit – beinahe – undenklichen Zeiten eigen war. »Während eines einzigen Spaziergangs kann man eine Menge wunderbarer Dinge sehen«, hatte der Autor und Fremdenführer Germain Brice in seiner 1684 erschienen Description nouvelle de ce qu’il y a de plus intéressant et de plus remarquable dans la ville de Paris (»Neue Beschreibung dessen, was es an Interessantem und Bemerkenswertem in der Stadt Paris gibt«) geschrieben.14 Sein Buch eröffnete das unsterbliche Genre der Paris-Reiseführer, und Brice nahm darin vorweg, was man seither in allen Büchern zu diesem Thema lesen konnte. Information war das eine, Hingabe und Feier des Mythos das andere. Die Autoren des Genres führten ihre Leser nicht nur durch die Stadt, sie setzten verlässlich auch eine schwärmerische Begeisterung für sie frei. »Alle kreativen Ideen entstehen in Paris«, schrieb der weitgereiste Arzt und Philosoph François Bernier (1625–1688). »Paris ist die Welt«, befand der Dramatiker Pierre Carlet de Marivaux (1688–1763), seines Zeichens langjähriger Bürger der Stadt und eben dort geboren wie gestorben. »Im Vergleich zu ihr wirken alle anderen Orte als bloße Vorstädte.« So einhellig waren sich die Autoren – die einheimischen wie die fremden – in ihrem Urteil über die Stadt, dass dieses fortan für alle Zeiten feststand. »Es gibt keinen Grund, Paris zu beschreiben«, erklärte der auf Französisch schreibende preußische Schriftsteller Karl Ludwig von Pöllnitz (1692–1775). Seine Begründung: »Die meisten Leute wissen selbst dann, was für ein Ort die Stadt ist, wenn sie niemals dort gewesen sind.«

Der Ruhm des modernen Paris hatte zwei Väter: König Ludwig XIV., den prunkverliebten Monarchen. Und Jean-Baptiste Colbert, seinen Finanzberater. Als Ludwig sich daran machte, das Schloss Versailles umzubauen und zu erweitern, riet ihm Colbert, sich nicht nur um den Königssitz zu kümmern. Den dort geschaffenen Luxus würden die Franzosen als frivol empfinden, würde er nicht durch entsprechende Bauten in der Hauptstadt ergänzt. Um die Herzen der Untertanen zu gewinnen, müsse der König auch diese verschönern. Diese müssten fortan grandeur – frei übersetzt: »erhabene Größe« – ausstrahlen. Das täte der Stadt, den Bürgern und zuletzt ganz Frankreich gut.

Colbert behielt recht: Die neuen Bauten bescherten der Stadt eine Faszinationskraft, die sich über die kommenden Jahrhunderte erhalten sollte. Insbesondere, nachdem Georges-Eugène Baron Haussmann, seines Zeichens Präfekt von Paris, gewaltige Schneisen in das Häusergewimmel im Zentrum hatte schlagen und an ihrer Stelle breite Boulevards hatte bauen lassen, galt Paris als eine der schönsten Städte der Welt. Die französische Metropole wurde zum Inbegriff der Lebenskunst, des verfeinerten Daseins, der Raffinesse und Kultur. Paris war ein Ort von Schönheit und Eleganz, der die Menschen dabei unterstützte, ihre Ambitionen umzusetzen, ihre Begabungen zu entfalten. Eugène de Rastignac, der ehrgeizige Student aus Honoré de Balzacs Le Père Goriot (1834), steigt nach der Beerdigung seines Mentors auf dem Friedhof Père-Lachaise dessen leichte Anhöhe hinauf, schaut auf die Seine, die Place Vendôme, den Invalidendom, kurzum, die Stadt mit all ihren Verheißungen. Verheißungen, die Rastignac in aller Entschlossenheit einlösen will, so dass er die Stadt in jenem kurzen Satz anspricht, mit dem der Roman endet und der Karriere weit über das Buch hinaus machte: »À nous deux maintenant«, »Nun zu uns beiden«.15 Die Stadt ruft zu ihrer Eroberung.

Und natürlich war Paris die Stadt der Liebe. Ihre Parks, ihre Alleen, die Brücken der Seine und deren Ufer – alles lud zum romantischen Spaziergang, Arm in Arm mit dem geliebten Menschen, versonnenen Schrittes durch die Schönheiten der Stadt, ihre Prachtbauten ebenso wie ihre stillen, romantischen Empfindungen ganz besonders begünstigenden Ecken. Ja, Paris war die Stadt der Sehnsucht, und sie zu erwecken genügte der Klang ihres Namens. »Was für ein grenzenloser Name«, entfährt es der wohl berühmtesten Romantikerin der französischen Literatur, Gustave Flauberts Madame Bovary. »Sie wiederholte den Namen mit leiser Stimme, aus reiner Freude, ihn auszusprechen. Er klang in ihren Ohren wie die Glocke einer Kathedrale. Er glänzte vor ihren Augen.«16 Paris leuchtete, strahlend erhellte es den Alltag auch jener und vielleicht vor allem jener, die fern von ihm wohnten, die von der Stadt nur den Namen kannten. Aber das reichte, es war mehr als genügend. Paris war jener Ort, der die Seelen zum Schwingen brachte.

Zufrieden registrierten die Franzosen, dass dem Mythos der Stadt nicht nur sie selbst, sondern Menschen aus aller Welt erlagen. Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert war Paris Fluchtort der politisch Verfemten. Heinrich Heine rettete sich vor der strengen Hand der Preußen an die Seine, Ludwig Börne ließ sich vom revolutionären Geist der Stadt locken, Karl Marx entwickelte im Dialog mit Pierre-Joseph Proudhon die Philosophie des Kommunismus. Auch die Künstler und Intellektuellen anderer Länder zog es in die französische Metropole. Fréderic Chopin entzog sich hier dem Druck des russischen Zarenreichs, der Anarchist Michail Bakunin hielt sich hier auf, der italienische Sozialist Giuseppe Ferrari schrieb in Paris seine 1850 veröffentlichte Filosofia della Revoluzione (»Philosophie der Revolution«).

Später, im frühen 20. Jahrhundert, schmückte sich Paris mit der künstlerischen Avantgarde der Zeit: Pablo Picasso, Max Ernst, Man Ray, Tristan Tzara, um nur ein paar zu nennen. Das Verlagswesen blühte, die Stadt wurde zur Drehscheibe der europäischen Literatur. »Rilke übertrug Verse von Valéry, der sie mir in der Handschrift zeigte«, erinnerte sich der deutsche Romanist Ernst Robert Curtius an das internationale literarische Netzwerk der 1920er-Jahre.

»Bei Scheler sah ich die ersten Nummern von Ortegas Revista de Occidente. Valery Larbaud führte Joyce in Frankreich ein. Die Buchhandlung Shakespeare and Company von Sylvia Beach in der rue de l’Odéon war ein internationaler Treffpunkt wie die schräg gegenüberliegende ihrer Freundin Adrienne Monnier. Die Dekaden von Pontigny fanden seit 1922 wieder statt. Der Pen-Club wurde gegründet. Es gab ein höchst lebendiges Europa des Geistes – über alle Politik, aller Politik entgegen. Dieses Europa lebte nicht nur in Zeitschriften und Büchern, sondern in persönlichen Beziehungen.«17

Beziehungen, die eine auch eine sehr intime Note annehmen konnten, wie die zwischen dem US-amerikanischen Schriftsteller Henry Miller und seiner Kollegin Anaïs Nin. Geboren 1903 in Paris, zog sie nach dem Tod des Vaters, eines kubanischen Komponisten, mit der Mutter nach New York, lebte seit 1924 aber wieder in Paris. Hier traf sie später Miller, der sich nach einem mehrmonatigen Urlaub ebendort 1930 für knapp zehn Jahre niederließ. Miller war ein sensibler Mensch, den Frauen zugetan, aber auch der französischen Hauptstadt, für ihn ein Ort reiner Sinnlichkeit. »Ich brauche nur daran zu denken, was mich empfing, wenn ich morgens das Haus verließ«, würde er sich später erinnern.

»Ich spreche nicht von den Kathedralen und Palästen. Ich spreche von den kleinen, den bescheidenen und täglichen Dingen. Ich spreche von der Straße, dem Glockenschlag morgens um acht. Die Bürgersteige sind von Bäumen gesäumt, und die Vögel zwitschern wie verrückt. Das Aroma des frischen Brotes kitzelt in der Nase, die Auslagen sind voller Früchte, der Metzger hat die appetitlichsten Stücke schon ausgelegt. Es ist ein ruhiges, monotones Hin und Her, das die Nerven beruhigt. Beim Gang durch die Straßen erinnern die Büchereien und Kunstgalerien unentwegt an das Erbe der Vergangenheit und die fiebrige Atmosphäre der Gegenwart. Ein planlos begonnener Spaziergang durch ein kleines Stadtviertel reicht aus, um ein Übermaß an Empfindungen zu schaffen, in deren Folge man durch die einander widersprechenden Impulse und Wünsche wie gelähmt ist.«18

Starke Empfindungen weckten, auch die Couturiers, auch die weiblichen unter ihnen. Elsa Schiaparelli hatte wenige Jahre zuvor den Reißverschluss in der Mode hoffähig gemacht. Anschließend war ihr mit dem Diana-Dekolleté – der Stoff bedeckte nur eine Schulter und ließ die andere nackt – ein wahrer Coup gelungen. Das berühmte Hummerkleid war fast schon Geschichte, aber ihre »verwegenen, schockierenden Rosatöne« kamen gut an,19 ebenso wie ihre Anleihen aus der Kunst von Christian Bérard und Jean Cocteau, und natürlich dem Guru der damaligen Kunstszene Salvador Dalí. Lanvin bestach durch ein schlichtes purpurfarbenes Tageskleid, Robert Piguet hatte den Modeschöpfer Christian Dior unter Vertrag und hielt sich weiter an seinen betont schlichten Stil, den er nicht nur ästhetisch verstanden wissen wollte: »Pas de nouveaux riches ici«, lautete sein Motto – »Keine Neureichen hier«. Allein Coco Chanel musste kämpfen: Ihre Kreationen kamen nicht recht an. Für die Kollektion 1938 hatte sie ein Abendkleid aus Goldlamé mit einer kurzen Jacke entworfen. Das hatte einen Tick ins Erotische, doch die britische Vogue konnte sich nicht recht begeistern: »Sex-Appeal ist das Leitmotiv der Pariser Kollektion, aber Sex-Appeal zieht nicht mehr.«20

Paris unterm Hakenkreuz

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