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Ein geschlagenes Land

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Frankreich, so das grundsätzliche Signal, würde auch unter deutscher Besetzung weiter bestehen. Allerdings sah der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne massive Einschnitte vor: Elsass-Lothringen wurde der Zivilverwaltung der angrenzenden deutschen Gaue unterstellt und damit praktisch, allerdings nicht staatsrechtlich, ins Deutsche Reich eingegliedert. Die Départements Nord und Pas-de-Calais wurden der Militärverwaltung in Belgien und Nordfrankreich überantwortet. Im unmittelbaren Anschluss richteten die Deutschen eine rund 100 Kilometer breite »verbotene Zone« ein, die vom Ärmelkanal bis zum Genfer See reichte. Der dort lebenden und während der Kriegswochen geflohenen Bevölkerung war es verboten, in ihre Häuser zurückzukehren. Deutschlands Verbündeter Italien, erst vor Kurzem in den Krieg eingetreten, erhielt die Macht über einen kleinen Zipfel im Süden mit Menton als Zentrum. Die verbleibenden Teile des Landes wurden in eine von den Deutschen besetzte und eine »freie Zone« zergliedert. Die deutsche Zone zog sich vom südlichen Atlantik, beginnend in Spanien, und bog zwischen Poitiers und Tours Richtung Osten ab, um an der Schweizerischen Grenze zu enden. Das gesamte nördliche Gebiet war von den Deutschen besetzt – insgesamt hielten sie knapp 60 Prozent der gesamten Landmasse.

Hinzu kamen enorme ökonomische Belastungen: Die Deutschen zwangen den Franzosen die Kosten für die Besatzung auf – zunächst 20 Millionen Reichsmark täglich. Insgesamt beliefen sich diese Leistungen zwischen 1940 und 1943 auf 490 Milliarden Francs – bei einem Steueraufkommen von 378 Milliarden Francs.18 Einer Berechnung des damaligen französischen Finanzministers Aimé Lepercq zufolge hatte Deutschland insgesamt 900 Milliarden Francs aus Frankreich herausgeholt.19 Auch auf anderen Gebieten demonstrierte Deutschland seine Macht: Die französische Armee wurde auf eine Stärke von 100.000 Mann reduziert. Forderte Deutschland die Auslieferung von auf französischem Staatsgebiet lebenden Reichsbürgern, hatte Frankreich dem unverzüglich nachzukommen.

So demoralisierend die äußeren Bedingungen wirkten: Langfristig viel demütigender dürften die ethischen Zwangslagen gewesen sein, in die die Deutschen viele Franzosen zwangen. Die mehr als vier Jahre dauernde Besatzungszeit bewirkte eine Degradierung des sittlichen Gefühls, eine Verrohung und Brutalisierung, die in diesem Maß vorher kaum denkbar gewesen waren. Gewiss, schon der seit Jahrzehnten andauernde und entlang vielerlei Frontlinien verlaufende Streit zwischen Konservativen und Progressiven, zwischen Monarchisten und Republikanern, zwischen christlich-liberalen und kommunistisch-sozialistischen Fraktionen hatte für erhebliche Spannungen gesorgt. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten rangen die Franzosen um ihre politische Identität, fochten einen Kampf um die Ordnung ihres Staats. Letztlich reichte dieser Kampf bis in das Revolutionsjahr 1789 zurück. Umstürzler und Bewahrer, Modernisten und Traditionalisten, Anhänger der alten und Verfechter der neuen Ordnung standen einander gegenüber, oft unversöhnlich, zu Kompromissen nur mühsam bereit. Insbesondere die letzten 15 Jahre vor dem Krieg zeugten durch vielfache Regierungswechsel, Streiks, Demonstrationen und Zusammenstöße, bissige Pamphlete und Schmähungen davon, wie tief die Kluft sich durch die Gesellschaft zog. Doch die Franzosen einte das Gefühl, dass es mit dem Land bergab gehe, dass es den Herausforderungen der Zeit weder politisch noch ökonomisch noch kulturell gewachsen sei.

»Das Bestreben, originelle Lösungen zu finden, durch die sich sowohl die Krise der westlichen Zivilisation als auch der nationale Niedergang beheben ließen, ist umso größer, als im Arsenal traditioneller politischer Ideologien keine Lösung zu finden ist. Die politischen Parteien offenbaren eine enorme geistige Trägheit und sind nicht in der Lage, die Dynamik zu entfachen, die das Land braucht. Einer der wesentlichen Aspekte der moralischen und intellektuellen Krise in Frankreich liegt in dem Umstand, dass das politische Denken nicht in der Lage ist, sie zu erfassen und auf sie einzugehen.«20

Aus Sicht nicht weniger Franzosen schienen die Spannungen mit der Besetzung des Landes durch die Deutschen ganz unvermittelt eine Lösung zu finden. Philippe Pétain, gefeierter Held des Ersten Weltkriegs und zu diesem Zeitpunkt 84 Jahre alt, übernahm die Regierung. Umgehend löste der politische Reaktionär die Dritte Republik auf und setzte an deren Stelle seinen État français. Im Anschluss verordnete er dem Land eine Revolution von oben, die Révolution nationale. Entschlossener Gegner der Moderne, nahm er wenige Wochen nach Amtsantritt auch jene ins Visier, die in seinen Augen ganz wesentlich für die Misere des Staats verantwortlich waren: Kommunisten, Freimaurer und Juden. Ohne von den Nationalsozialisten dazu genötigt worden zu sein, erließ er Anfang Oktober den ersten statut des Juifs, einen Erlass, der erste Berufsverbote für die als »Rasse« definierten Juden aussprach. Schritt für Schritt glitt die Regierung über eine immer engere Zusammenarbeit – die berüchtigte collaboration – mit den Nationalsozialisten in eine antisemitische Politik, in deren Verlauf sie immer aggressiver gegen die in Frankreich lebenden Juden vorging: zunächst gegen jene ohne französische Staatsangehörigkeit, schließlich – wenngleich zögerlich und in geringerem Maß – auch gegen die eigenen Bürger jüdischen Glaubens. Entschlossen und überwiegend in eigener Regie – oftmals sind ausschließlich französische Sicherheitskräfte beteiligt – organisierte sie Razzien gegen Juden, um sie anschließend den Besatzern auszuliefern. Die transportierten sie umgehend in die Konzentrations- und Vernichtungslager in Deutschland und den besetzten Gebieten Mitteleuropas. Insgesamt 73.853 Juden wurden so in 79 Transporten in die Vernichtungslager deportiert. Von ihnen überlebten 2560.21 Hinzu kamen rund 1900 weitere Juden, die auf anderen Wegen in die Vernichtungslager gebracht wurden. Insgesamt, so der Historiker und Nazijäger Serge Klarsfeld, wurden 75.721 Juden in die Lager deportiert.

Die Vichy-Regierung befand sich in einem furchtbaren Dilemma: Der Druck der Besatzer, die in Frankreich lebenden Juden auszuliefern, nahm beständig zu. Aber hätte sie ihm entsprechen müssen? Hätte sie einem mörderischen Regime tatsächlich Zehntausende unschuldiger Menschen ausliefern müssen? Hatte sie wirklich keine Wahl? Gewiss, eine Weigerung hätte womöglich ihr Ende bedeutet. Aber was zählt das Ende einer Regierung angesichts so vieler Menschenleben? Zudem hätte die Regierung durch eben dieses Ende umso überzeugender ihre ethischen Prinzipien beweisen, ein klares und überzeugendes Bekenntnis zu zivilisatorischen Standards, zu Menschenrechten und politischer Verantwortung leisten können. Doch all dem entzog sie sich, indem sie den Besatzern weiter zuarbeitete, und das hieß: Menschen auslieferte. Zumindest am Anfang konnte sie behaupten, nicht zu wissen, welches Schicksal die Deportierten erwartete. Doch von 1942 an, als der polnische Offizier Jan Kozielewski, bekannt unter dem Namen Jan Karski, in Großbritannien und den USA erste Berichte über den Völkermord veröffentlichte, hätte die Regierung gewarnt sein können. Doch die Gerüchte – glasklare Beweise hatte sie zu dieser Zeit noch nicht – geflissentlich ignorierend, setzte sie stattdessen zu den Razzien in großem Stil an. 1943 rief Premierminister Pierre Laval die im Regierungsauftrag agierende Milice française, eine paramilitärisch agierende Ordnungskraft, ins Leben, die ihm politisch unterstand. Die Miliz ging gegen Juden wie politische Gegner gleichermaßen vor. Ganz wesentlich bekämpfte sie die verschiedenen innerfranzösischen Widerstandsgruppen, die sich teils gegen die Vichy-Regierung, vor allem aber gegen das deutsche Besatzungsregime richteten. Die Auseinandersetzungen zwischen Miliz und Résistance wurden so hart und so blutig, dass die Besatzungsjahre auch als Zeit eines französischen Bürgerkriegs beschrieben werden.

So setzten die Besatzer den Franzosen nicht allein durch die äußeren Umstände der Besatzung zu. Deutschlands Verantwortung bestand auch darin, in Frankreich Bedingungen geschaffen zu haben, unter denen viele Franzosen – allen voran Pétain und seine Minister – schwere Schuld auf sich luden. Unter deutscher Herrschaft begangen sie Verbrechen, die sie unter anderen Umständen in dieser Form aller Wahrscheinlichkeit nach nicht begangen hätten. Wenn es zutrifft, dass Menschen ganz wesentlich durch die Umstände ihrer Zeit zu Helden oder Verbrechern werden, dann lag die deutsche Schuld darin, diese Umstände überhaupt erst geschaffen zu haben. Freilich ließ sich nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung zu großen oder kleineren Verbrechen hinreißen. Doch auch sie reagierten vor allem auf die Situation, in die die Politik der Besatzung sie gebracht hatte. Auch das war deutsche Verantwortung.

»(I)ch würde sogar die These vertreten, dass es den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg unterschwellig immer wieder übelgenommen wurde, dass sie diese Fähigkeit der Franzosen ans Licht gebracht hatten, selber ›Schweinehunde zu sein‹, wie das Kurt Schumacher 1932 vor dem deutschen Reichstag mit Bezug auf die Nazis formuliert hatte.«

So schreibt es die französische Historikerin Hélène Miard-Delacroix in ihrem klugen Dialog mit ihrem deutschen Fachkollegen Andreas Wirsching. »Auch Franzosen konnten sich während der Präsenz der deutschen Wehrmacht in Frankreich als Schweinehunde erweisen. Das bedeutete, dass nicht nur die Deutschen böse sein konnten, sondern dass auch Menschen im eigenen Land, in der eigenen Familie solche Übeltäter sein konnten. Und das wurde den Deutschen nicht vergeben.«22

Gewiss, es gab auch den Widerstand, und er setzte sich am Ende durch, wenngleich natürlich mithilfe der Alliierten, allen voran den Briten und den USA. Ohne sie hätte Frankreich, muss man fürchten, erheblich länger unter dem Hakenkreuz gestanden. Dennoch leisteten die Kämpfer der Résistance Herausragendes, verteidigten stellvertretend für viele andere die Würde des Landes gegen dessen Regierung. Charles de Gaulle, Jean Moulin, Henri Frenay, Berty Albrecht: vier Namen nur von tausenden, die für die Zivilisation nicht nur Frankreichs, sondern Europas eintraten, sie teils um den Preis ihres Lebens verteidigten. Zudem kämpften sie nicht nur für die Gegenwart ihres Landes. Sie kämpften auch um dessen künftige Vergangenheit, bereiteten jener politischen Entwicklung den Weg, auf deren Grundlage sich die Franzosen Jahrzehnte später wieder mit sich selbst versöhnen konnten. Gleichwohl war der erinnerungspolitische Weg auch in Frankreich ein harter, verlief schmerzhaft und nicht ohne Konflikte. Dass sich das deutsch-französische Verhältnis nach der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus relativ schnell änderte und beide Nationen wieder aufeinander zugingen, darf man zu den Wundern der Geschichte rechnen, in deren Genuss Deutschland unverdientermaßen kam.

Paris unterm Hakenkreuz

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