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Evakuierungen

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Noch grausamer und noch stupider als zuvor: Bei den Deutschen, fanden viele Franzosen, musste man mit allem rechnen. Die Nachrichten vom Überfall auf Polen im Ohr, hielten sie nach der französischen Kriegserklärung einen deutschen Angriff für unausweichlich. Entschlossenheit demonstrierten auch die obersten politischen und juristischen Instanzen des Landes: Der oberste Gerichtshof und der Staatsrat verlegten ihren Sitz nach Angers. Die Lage, zeigte diese Entscheidung, war ernst, ungeheuer ernst. Rund 500.000 bis 600.000 Menschen verließen offiziellen Schätzungen zufolge in den ersten Septembertagen die Hauptstadt und ihr Umland.19 Bereits seit März des Jahres waren Evakuierungspläne ausgearbeitet worden. Sie sahen vor, als Erstes die Schwächsten – Alte, Kranke und Kinder – zu evakuieren. 30.000 Krankenhauspatienten wurden nach der Kriegserklärung aus der Stadt gebracht. Ihnen folgte, noch am gleichen Tag, ein Großteil der Bevölkerung. Hastig wurden Koffer und Taschen gepackt, auf die Dächer der Autos gehoben und befestigt. Wo die Insassen der PKWs noch Platz ließen, stapelten sich weitere Utensilien. Zahllose Autos verstopften die Straßen. Knotenpunkt des Verkehrs war die Place de la Bastille. Von dort fügten sich die Fahrer in die Schlange in Boulevard Henry IV, um von dort auf die Place d’Italie vorzustoßen und den Süden zu erreichen, die Loire, die zunächst als sichere Grenze galt, hinter der man sich vor Angriffen vorerst sicher fühlen konnte. Und für alle jene, die kein Auto hatten, standen Sonderzüge bereit – insgesamt 900 würden es in den folgenden zehn Tagen sein. Andere hingegen entschieden sich, die Stadt zu Fuß zu verlassen. »30 Kilometer entfernt habe ich Frauen gesehen, die eine Matratze auf dem Rücken trugen. Die Kinder an der Hand, folgten sie der Eisenbahnlinie, um sich mit dem Nachwuchs dann irgendwo auf den Feldern niederzulassen.«20 Ausnahmefälle, gewiss. Aber sie deuteten bereits den kommenden Massenexodus an, losgetreten durch den Angriff der Deutschen auf Belgien, die Niederlande und Luxemburg am 10. Mai des kommenden Jahres.

Geordneter verlief die Evakuierung der Schulkinder. Viele von ihnen hatten die Ferien zusammen mit Lehrern in Schullandheimen außerhalb der Stadt verbracht. Ende August entschied man, sie dort zu lassen. Weil viele Kinder aber auch in Paris waren, bot man den Eltern an, sie in Orte im Westen oder Zentrum des Landes zu schicken. 38.000 Kinder verließen auf diese Weise die Stadt, noch bevor der Krieg begonnen hatte. Allein am letzten Augusttag waren es über 16.000 Kinder, transportiert von 27 Sonderzügen der SNCF, der französischen Eisenbahngesellschaft. Um spätere Komplikationen zu verhindern, wurden sie je nach Wohnviertel in bestimmte Départements gebracht, über die die Eltern genauen Bescheid erhielten. Sollten auch sie fliehen müssen, würden sie wissen, wo sie ihren Nachwuchs finden konnten. Vorteil aus Sicht der Kinder: Sie hatten einen Monat länger Ferien. Der Unterricht begann nicht wie üblich im September, sondern im Oktober.

Die betroffenen Regionen stellte das vor erhebliche Herausforderungen: In den Grundschulen des Départements Loir-et-Cher wurden üblicherweise rund 32.000 Kinder unterrichtet – jetzt musste Platz für 53.000 geschaffen werden. Im Département Haute-Vienne standen statt der erwarteten 37.000 Schüler nun 60.000 vor den Schultoren.21 Die Schulgebäude waren für solche Massen nicht ausgerichtet. So suchte man andere Möglichkeiten. Öffentliche Gebäude, Sporteinrichtungen, auch die Schlösser: Alle verwandelten sie sich nun in Klassenzimmer. Eine gewaltige Kraftanstrengung, die die Lehrer und Politiker der betroffenen Regionen aber unbedingt zu leisten entschlossen waren. »Alle Kinder, die an der Schule erscheinen, müssen aufgenommen werden«, wies der Schulinspektor des Départements Bouches-du-Rhône die ihm unterstehenden Lehrer an. »Der Unterricht ist ohne Verspätung zu organisieren – es sei denn, es wäre in materieller Hinsicht völlig unmöglich. Wenn die Anzahl der Schüler die Organisation des Unterrichts nicht zulässt, müssen die schulpflichtigen Kinder trotzdem auf jeden Fall in der Schule gehalten werden. Eine aufmerksame Aufsicht muss gewährleistet sein.«22 Die Kinder sollten die Trennung von ihren Eltern möglichst gut verkraften und sich, so gut es eben ging, auch fern der vertrauten Umgebung unbelastet fühlen. Darum, so ein weiterer Erlass, solle man darauf achten, dass sie sich mit den Kindern aus den Aufnahmeprovinzen mischten – im Unterricht ebenso wie in der Pause. Auch in seinen Schulen war Frankreich eine solidarische und demokratische Republik – Vorteile aufgrund des Wohnortes sollte niemand genießen, auch im Krieg nicht. Die Bürger der Republik hatten alle denselben Stand – natürlich auch die aus dem Elsass, jener Region ganz im Norden des Landes, die ein knappes Jahrhundert zu Deutschland gehörten und erst seit 1919 wieder Franzosen waren – ungeachtet der Tatsache, dass viele des Französischen nicht oder nicht vollkommen mächtig waren. Auch die dort lebenden Kinder wurden evakuiert. Viele Erwachsene hatten in den Tagen der Kriegserklärung ebenfalls ihre Heimat verlassen: Zu groß war die Gefahr, dass die Region umgehend angegriffen würde. Keine Frage darum, dass auch die Flüchtlinge und Evakuierten ganz aus dem Nordosten angemessen aufgenommen werden müssen, schrieb der Schulinspektor des Départements Lot-et-Garonne seinen Untergebenen. »Sie dürfen nicht vergessen, dass auch das Elsass ein Teil der Republik ist und dass seine Bürger in Lot-et-Garonne brüderliche Aufnahme erfahren. Unsere erste Aufgabe, die heiligste von allen, ist es, uns zu bemühen, angesichts der Vielfalt der Kulturen und religiösen Überzeugungen die moralische Einheit des Vaterlands zu wahren.«

Paris unterm Hakenkreuz

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