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1. Einführung

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Die Umweltbedingungen der meisten Lebewesen unserer Erde sind charakterisiert durch den ständigen Einfluss zweier geophysikalischer Zyklen: durch Tages- und Jahresperiodik. Sie werden bedingt durch die Drehung der Erde um ihre Achse und die jahreszeitlich wechselnden Sonnenstandshöhen. Der daraus resultierende Tagesgang vieler Faktoren und die in mannigfacher Weise ausgeprägten Jahreszeiten bringen einen ständigen Wechsel der Lebensbedingungen mit sich, auf die sich Lebewesen einstellen müssen, wenn sie überleben und sich erfolgreich fortpflanzen wollen. Eine der zahlreichen Reaktionen auf diese Periodizitäten sind Wanderungen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wanderungen bei nahezu allen Gruppen von Lebewesen vorkommen – von den Bakterien und einfachen Algen über viele Formen der Wirbellosen und Vertreter aller Wirbeltierklassen bis zum Menschen. Viele aquatische Lebensformen – z.B. das Plankton – führen tageszeitliche Vertikalwanderungen durch und folgen so bestimmten Tagesgängen von Licht, Temperatur, Nahrungsangebot u.a.m. Legionen von Tierformen verlassen zu bestimmten Tageszeiten ihre sie schützenden Baue oder sonstigen Verstecke, wandern zeitweise, vor allem zur Nahrungssuche, umher und kehren schließlich in ihren Unterschlupf zurück.

Als Antwort auf die Jahreszeiten unserer Erde sind vielfältige saisonale Wanderungen entstanden. Auch hier sind es im einfachsten Falle Vertikalwanderungen innerhalb eines geographisch eng begrenzten Lebensraumes. Viele niedere Bodentiere, die im warmen Sommerhalbjahr im Oberflächenbereich leben wie Regenwürmer, Schnecken und Grillen, ziehen sich im kalten Winterhalbjahr in tiefere Bodenschichten zurück. Dort suchen auch viele Wirbeltiere ihren Schutz, z.B. manche Fische im Schlamm gefrierender Gewässer, unter den Amphibien unsere Frösche und Molche, unter den Reptilien viele Eidechsen und Schlangen, unter den Säugetieren unsere Maulwürfe und Schlafmäuse – aber keine einzige Vogelart. Ihre saisonalen Wanderungen führen stets in mehr oder weniger entfernt gelegene Gebiete, und bis auf eine einzige Ausnahme bleiben auch alle Vogelarten, gleichgültig ob sie wandern oder nicht, das ganze Jahr hindurch aktiv. Diese Ausnahme betrifft die im südwestlichen Nordamerika lebende Winternachtschwalbe (Phalaenoptilus nuttallii). Die Angehörigen dieser Art suchen zum Winter hin geeignete Höhlen auf, in denen sie einen regelrechten Winterschlaf durchführen. Ihre Körpertemperatur, die beim aktiven Vogel rund 40° C beträgt, sinkt dabei auf nur etwa 10° C ab.

Auch bei den Vögeln sind die einfachsten saisonalen Wanderungen Vertikalbewegungen. So wie etwa Hirsche im Gebirge zum Winter hin ihre Bergweiden verlassen und tiefere Einstände in Tallagen aufsuchen, wandern auch viele montane Vogelarten im Winterhalbjahr in tiefere Regionen, in unserem Hoch- und Mittelgebirgsbereich z.B. Alpendohle (Pyrrhocorax graculus), Wasserpieper („Bergpieper“, Anthus spinoletta) und Mauerläufer (Tichodroma muraria). Alpendohlen können aber auch bei ihren täglichen Nahrungssuch- und Schlafplatzflügen zwischen Höhen von 500 bzw. 2000 m hin und her pendeln.

Während diese Wanderungen über relativ kurze Distanzen oft nur wenig beachtet werden, wirken die saisonalen Langstreckenwanderungen vieler Tierarten faszinierend auf uns: Sie wecken Sehnsüchte, etwa mit Zugvögeln vor dem nahenden Winter in wärmere Gefilde mitzuwandern, sie lassen uns staunen angesichts verblüffender Streckenleistungen und bisweilen unglaublichen Orientierungsvermögens, und sie umgeben uns oftmals mit dem prickelnden Fluidum des Rätselvollen.

Saisonale Langstreckenwanderungen kommen bereits bei vielen Gliederfüßern vor. Marine Krebse (Langusten, Hummer) können einige hundert Kilometer auf dem Meeresgrunde wandern, Wanderheuschrecken vermögen mit ihren Schwärmen bekanntlich weite Teile ganzer Kontinente heimzusuchen, der amerikanische Monarchfalter (Danaus plexippus) zieht von seinen nördlichsten Lebensräumen in Kanada bis in seine Winterquartiere in Mexiko maximal rund 4000 km weit, und von unseren einheimischen Schmetterlingen wandern Arten wie der Distelfalter (Vanessa cardui) oder der Admiral (Vanessa atalanta) von Nordafrika über das Mittelmeer bis nach Skandinavien und Island.

Bei den Wirbeltieren sind saisonale Langstreckenwanderungen in allen Klassen ausgeprägt. Unter den Fischen sind die bekanntesten Beispiele Aale, Lachse und Thunfische, die zwischen Meeren und Flüssen als anadrome und katadrome Wanderer bzw. in den Meeren z.T. Tausende von Kilometern zurücklegen, bei den Amphibien Molche, die immerhin einige Kilometer zu und von ihren Laichplätzen wandern, bei den Reptilien sind es insbesondere marine Schildkröten wie die bekannte Suppenschildkröte (Chelonia mydas), die zur Eiablage bestimmte Küsten, z.B. von kleinen Inseln, aufsuchen und dabei 3000 km zurücklegen können, bei den Säugern marine Arten wie Wale und Robben sowie Eisbären, die z.T. kontinentweite Wanderungen bis zu 20.000 km durchführen, und viele terrestrische Arten wie Rentiere, Gnus und andere Herdentiere, die alljährlich große Wanderstrecken von bis zu etwa 1500 km zu Land zurücklegen (Baker 1991). Sie alle werden jedoch weit übertroffen von der Vielfalt und dem Umfang an Wanderungen, die Vögel durchführen. Vögel sind für Wanderungen prädestiniert durch den Erwerb der Möglichkeit zu aktivem Flug, durch ihre Größe, ihre Homoiothermie sowie ihren Formenreichtum gepaart mit ökologischer Vielfalt.

Vögel haben nahezu alle Gebiete unserer Erde erobert, und ihre Wanderzüge umspannen praktisch die Gesamtoberfläche unseres Planeten wie ein Netz (Abb. 1). Vogelzug findet auch auf der Südhalbkugel statt. Viele dieser Australwanderungen führen vom Brutgebiet nordwärts in mehr äquatornahe Ruheziele. Zugvögel legen im Extremfall Strecken zurück, die dem Umfang der Erde entsprechen, queren sämtliche Ozeane, Wüsten, Gebirge und Eisfelder, vielleicht mit Ausnahme der Pole (Gudmundsson 1992), und es gibt keinen Monat im Jahr, in dem nicht irgendwo in der Welt Zugvögel auf großer Reise wären. Für dieses weltumfassende System an Wanderungen war die Entwicklung vieler spezieller Anpassungen und Steuerungsmechanismen erforderlich, und diese Entwicklung ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Unsere z.T. unter menschlichem Einfluss sich stark und schnell verändernde Umwelt verlangt auch den heutigen Zugvögeln neue Anpassungen ab.


Abb. 1: Beispiele für Wanderrouten von Langstreckenziehern auf dem Wegzug. 1: Wanderregenpfeifer (Pluvialis dominica) und andere Limikolen von Alaska zu Inselgruppen im Pazifik, 2: Präriebussard (Buteo swainsoni), 3: Transgolfzug vieler nordamerikanischer Arten, 4: Kappenwaldsänger (Dendroica striata, Transatlantikzug), 5 u. 12: Knutt (Calidris canutus rufa bzw. C. c. rogersi), 6: Küstenseeschwalbe (Sterna paradisaea), 7: Kampfläufer (Philomachus pugnax), 8: Transsaharazug vieler eurasischer Arten, 9: Steinschmätzer (Oenanthe oenanthe, Alaska-Population), 10: Rauchschwalbe (Hirundo rustica, drei verschiedene Populationen in unterschiedliche Winterquartiere), 11: Amurfalke (Falco amurensis, dargestellt ist nur die Ozeanüberquerung), 12: s. 5, 13: zirkulärer Weg- und Heimzug des Kurzschwanz-Sturmtauchers (Puffinus tenuirostris).

Die folgende Übersicht informiert zunächst über die Entstehung des Vogelzugs (Kap. 2) und seine Erforschungsgeschichte (Kap. 3), danach (Kap. 4) werden die wichtigsten Methoden behandelt, mit denen man heutzutage versucht, sowohl den Ablauf des Vogelzugs in der freien Natur als auch seine Steuerungsgrundlagen in Experimenten und Laboratoriumsstudien zu analysieren. Kap. 5 zeigt die Vielfalt heutigen Vogelzugs auf, stellt Rekordleistungen dar und leitet Gesetzmäßigkeiten ab. In Kapitel 6 werden die physiologischen Grundlagen besprochen, also Anpassungen an die Erfordernisse des Zugs und Steuerungsmechanismen sowie ökologische Aspekte, Kapitel 7 behandelt die Orientierungsmechanismen, vor allem Kompasse und Navigationshypothesen, und in Kapitel 8 wird in einer kurzen Zusammenschau dargestellt, wie wir uns den Ablauf und die Steuerung typischen Vogelzugs nach heutiger Kenntnis vorzustellen haben. Kapitel 9 bringt einen aktuellen Bericht über die Gefährdung unserer Zugvögel und über erforderliche Schutzmaßnahmen, Kapitel 10 behandelt die evolutionsbiologischen Aspekte des heutigen und künftigen Vogelzugs, in Kapitel 11 wird die Bedeutung des Vogelzugs für den Menschen umrissen, und Kapitel 12 beschließt die Übersicht mit einem kurzen Ausblick auf die Zukunft der Zugvögel und der Vogelzugforschung.

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