Читать книгу Der Preis der Wahrheit - Stefanie Hauck - Страница 11

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“Christina, ich kann nicht mehr!”, stöhnte Lisa und ließ sich völlig erschöpft auf das Sofa der Freundin fallen.

“Das mit Thomas nimmt dich ganz schön mit, nicht wahr?!”

“Ganz schön mit ist noch sehr gelinde ausgedrückt”, seufzte Lisa, “Chri­stina, ich habe ein Gefühl, als wenn ich bald durchdrehen würde! Ich kann überhaupt nicht mehr richtig denken!”

Christina sah die Freundin liebevoll von der Seite an und meinte mit einem verschmitzten Lächeln: “Ich habe da noch ganz wunderbaren Tütencappuccino, willst du einen?”

Da musste Lisa aber doch ein wenig kichern.

“Tütencappuccino”, murmelte sie schnaufend vor sich hin, “oh Mann, wie oft haben wir den getrunken. Eigentlich schmeckt der doch gar nicht mehr, wenn man mal einen richtigen Cappuccino getrunken hat. Aber uns hat er immer ge­schmeckt. Vielleicht war da auch irgendwas drin, was mich beeinflusst hat, Christ zu werden.”

“Klar, aber ich verrate dir nicht, was”, gab die Freundin grinsend zurück.

“Oh Christina”, meinte Lisa erleichtert, “wenigstens bei dir kann ich ein wenig meinen Kummer vergessen. Und weißt du, was mich zu allem Überfluss total irre gemacht hat?”

“Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich erzählen. Vorher mache ich uns allerdings den Cappuccino.”

“Okay.”

Christina verschwand in der Küche, um das Getränk zuzubereiten. Lisa ließ sich währenddessen total erledigt nach hinten fallen, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke.

Die Freundin war nach kurzer Zeit wieder im Wohnzimmer und stellte die Tasse vor Lisa ab. Dann nahm sie Platz und forderte Lisa auf, ihr alles zu erzählen, was sie so bedrückte.

“Christina, jetzt am Sonntag im Gottesdienst haben wir dieses Lied gesungen, das zu meinen Lieblings­liedern gehört. Ich fand den Text immer so tröstlich, weil er davon handelt, dass wir Gottes Eigentum sind und deshalb auch in seinen Händen, dass wir uns auf ihn verlassen können, weil er alle Macht hat. Selbst wenn wir in großem Kampf sind und zweifeln, sind wir doch in ihm geborgen. Im Prinzip ist es eine Art neue Version von ‘In dir ist Freude in allem Leide’. Aber jetzt empfinde ich den Text als Provokation, wenn ich daran denke, dass Miguel Ramírez Thomas McNamara einen Ohrring verpassen lässt, auf dem ‘Eigentum von Miguel Ramírez’ eingraviert ist. Wessen Eigentum ist denn nun unser Dr. McNamara? Miguels Eigentum oder Gottes Eigentum? Wie mir scheint, wohl eher das von Miguel! Christina, was hat dieser Amerikaner verbrochen, was hat er getan, dass Gott tatenlos zusieht, wie sich dieses sadistische, ja, teuflische Schwein von einem Drogenbaron so an ihm vergreift?! Sag es mir, Christina, sag es mir! Diese Ereignisse stellen alles, was mir bisher klar war, woran ich glauben konnte, auf den Kopf und damit auch in Frage. Christina, damals, als der Kommunismus zusammenbrach, ist schon einmal meine Welt eingestürzt. Und nun das. Ich habe das Gefühl, zum zweiten Mal vor einem großen Trümmerhaufen zu stehen, und gleichzeitig halte ich mich für einen Jammerlappen!”

Lisa sah in einer Mischung aus Aufgebrachtsein und Unsicherheit zu ihrer Freundin herüber und hielt sich dabei an ihrer Tasse fest.

Christina blickte sie ruhig an und meinte: “Du bist kein Jammerlappen, Lisa. Es ist okay, sauer zu sein, auch sauer auf Gott. Was mich betrifft, geht es mir genau wie dir. Ich verstehe nicht, warum all das geschieht, geschehen darf, warum Gott nicht eingreift. Und das verunsichert mich auch. Aber als du gerade so verbittert sagtest, was Thomas getan hätte, dass Gott nicht eingreift, kam mir ein interessanter Gedanke. In deiner Aussage klingt ja die Ansicht mit, dass Gott Thomas für irgendwas bestraft, was der in der Vergangenheit getan hat.”

“Ja, natürlich.”

“Genau. Aber vielleicht sollte man nicht die Frage stellen, was Thomas getan hat, dass ihm all diese schrecklichen Dinge passieren, sondern was er noch tun soll, dass ihm all diese schreck­lichen Dinge passieren.”

Lisa sah die Freundin irritiert an und zog die Nase kraus.

“Ich fürchte, ich kann dir nicht so ganz folgen”, befand sie mit zusammengekniffenen Augen.

“Mir ist schon klar, dass dich das verwirrt. Wenn uns schlimme Sachen passieren, ist der erste Gedanke, der uns kommt, immer der, dass es eine Strafe für Fehlverhalten ist. Aber was ist, wenn diese ganzen Grausamkeiten, Demütigungen und all die Hoffnungslosigkeit Thomas für eine Aufgabe vorbereiten sollen, zu der er ohne diese Erlebnisse nie bereit gewesen wäre, sich nicht herangetraut oder vor der er sich gedrückt hätte.”

“Das ist nicht dein Ernst!”, stieß Lisa völlig geschockt aus und rückte intuitiv ein Stückchen von der Freundin ab.

“Ich kann mir denken, dass du mich jetzt fast für geisteskrank, pervers, geschmacklos oder was sonst noch hältst, vielleicht auch für alles zusammen. Aber ich meine es ernst. Manchmal ergibt sich eine erstaunliche Kettenreaktion, die wir erst aus der Rückschau verstehen. Jemand hat mal gesagt, dass das Leben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden wird. Das stimmt, und gleichzeitig beinhaltet es eine große Herausforderung.”

“Das ist nicht witzig!”, knurrte Lisa sie an.

“Nein, witzig finde ich das wirklich nicht”, entgegnete Christina leicht verärgert, “es ist absolut nicht witzig, mit achtzehn Jahren zu erfahren, dass man das ungewollte Kind einer Prostituierten ist.”

“Ähm, kann es sein, dass ich da gerade irgendwas nicht mitgekriegt habe?”, horchte Lisa verstört nach und fühlte sich extrem unwohl in ihrer Haut.

“Du konntest es nicht mitkriegen, weil ich es dir nie gesagt habe. Lisa, du bist zwar meine beste Freundin, aber diese Sache, die sitzt sehr tief, und ich habe sie niemandem erzählt außer einem Ehepaar, das mit der Familie Claasen sehr eng befreundet ist. Die beiden heißen Lara und Patrick. Sie waren auch meine Mentoren, haben mir sehr viel Kraft gegeben, und ich verdanke ich ihnen unheimlich viel. Die Claasens sind nämlich nicht meine leiblichen Eltern. Sie haben mich adoptiert. Meine leibliche Mutter war eine Edelhure im Hamburger Rotlichtmilieu und wollte mich nicht behalten. Ich bin also ein ‘Verkehrsunfall’. Und man kann nicht herausfinden, wer mein leiblicher Vater ist, selbst nicht durch einen DNA-Test. Meine Mutter hatte sehr viele Kunden. Als die Claasens mir das mit meiner leiblichen Mutter erzählt haben, brach für mich eine Welt zusammen. Na klar, sie mussten es mir irgendwann erzählen, aber es war so schrecklich, und es zerreißt mir fast jetzt noch das Herz. Ich habe mich unendlich schmutzig gefühlt. Ich verspürte den Drang, mich ständig zu waschen. Das wurde richtig zur Manie, wodurch meine Haut unheimlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mama Claasen, die ja gar nicht meine Mama war, wusste sich keinen Rat mehr. Alle Liebesbezeugungen und Beteuerungen, wie wertvoll ich sei, halfen nichts. Sie war so verzweifelt, dass sie sich an Gott wandte und ihn bat, ihr eine Idee zu geben, wie sie mir helfen könnte. Und Gott gab ihr eine absolut geniale Idee. Mama Claasen fragte mich, ob ich mit ihr zu Lara und Patrick fahren würde. Die hätten so viele Erdbeeren geerntet, dass sie die nicht selbst aufbrauchen könnten und wollten uns welche schenken. Ich fand das zwar ein bisschen lächerlich mitzukommen, aber sie meinte, sie wüsste gern meine Meinung, wie viel wir denn gebrauchen könnten. Dass sie damit noch ein weiteres Ziel verfolgte, ahnte ich natürlich nicht. Sie hatte schon wegen mir mit den beiden gesprochen, und Patrick war eine tolle Idee gekommen. Als wir uns dann die gewünschte Menge Erdbeeren ausgesucht hatten, wollte ich schon gern mal ein paar direkt essen, habe die vorher aber gründlich gewaschen. Kein Wunder bei meiner Manie. Gerade als ich mir eine richtig traumhafte Erdbeere in den Mund stecken wollte, meinte Patrick mit skeptischem Blick, er würde die ja nicht essen! Logischerweise war ich total perplex und fragte ihn, warum nicht. Er entgegnete, es sei Abfall, und wir wären ja schön blöd, dass wir uns sowas unterjubeln ließen. Ich dachte, er tickt nicht ganz sauber und habe ihn angeknurrt, was das denn jetzt solle. Er erwiderte, die Erdbeeren wären nur so gut, weil er natürlichen Dünger hätte, und zwar vom Komposthaufen. Da käme alles drauf, was organischer Abfall sei, also verfaultes Obst und Gemüse, abgeschnittene Äste und so weiter. Deshalb sei der Abfall auch in den Erdbeeren, und das sei doch nun wirklich eklig. Ich habe ihn angefaucht, dass ich mich auch selbst verarschen könnte. Er befand dann mit stoischer Ruhe, dass ich das ja schon seit Langem unter Beweis stellen würde.

“Hör endlich auf”, hat er gesagt, “vor dir selbst wegzulaufen. Nur weil deine Mutter eine Hure war und dein Vater ein geiler Bock, bist du noch lange kein Dreck. Es ist schließlich nicht dein Verdienst bzw. deine Schuld, als wessen Kind du auf die Welt gekommen bist. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, dass du nicht einer intakten begüterten Familie entspringst, die am besten noch blaublütig ist. Wenn einem alles im Leben zufliegt, besteht sehr schnell die Gefahr, arrogant zu werden. Dann benimmt man sich wie Dreck und behandelt die anderen wie Dreck.”

Mir fiel die Kinnlade runter, aber Patrick sprach unbeirrt weiter.

“Aber um noch mal den Vergleich zu den Erdbeeren ziehen”, meinte er, “ohne Dünger können Früchte nicht die optimale Qualität bekommen. Ferner ist es hinreichend bekannt, dass natürlicher Dünger viel hochwertiger ist als Kunstdünger und obendrein für den Körper besser verträglich. Menschen, denen im Leben nicht alles zugeflogen ist, können gescheiterten oder benachteiligten Leuten viel besser helfen als solche, die nie wirklich Schwie­rigkeiten hatten. Das wäre so wie bei natürlichem Dünger und Kunstdünger. Viele frustrierte Leute denken, dass sie eh schon einen schlech­ten Start ins Leben oder schlechte Voraussetzungen hatten, und dass sich da nichts mehr ändern lässt, dass sie es nie zu etwas bringen werden. Du hattest schon ‘schlechte Gene’ und hast mit Hilfe der Menschen, die dich geliebt und gefördert haben, ein erfülltes Leben bekommen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alles im Leben glatt verläuft. Aber du wirst mit anderen viel gnädiger und liebevoller umgehen können, weil du selbst erfahren hast, dass du geliebt wurdest, obwohl du nichts dafür geleistet hast.”

Für einen Moment herrschte angespannte Stille, aber dann bin ich Patrick um den Hals gefallen und hab mich bei ihm bedankt. Und jetzt komme ich wieder auf Thomas McNamara zu sprechen. Thomas konnte durch dich sein Selbstwertgefühl wiederfinden, und du konntest durch mich dein Selbstwertgefühl wiederfinden, und ich konnte durch Patrick mein Selbstwertgefühl wiederfinden. Das meine ich, wenn ich von einer Kettenreaktion spreche. Aber ich denke, es ist nicht nur eine Kettenreaktion, es entsteht sogar ein Schneeballeffekt. Wenn ich nicht das ungewollte Kind einer Edelprostituierten gewesen wäre, hätte ich mich niemals mit einer Kommunistin abgegeben, weil ich als Christ und braver westdeutscher Bürger mit diesen Fanatikern aus Ostdeutschland nichts hätte zu tun haben wollen. Ich hätte wahrscheinlich noch nicht mal ein Wort mit dir geredet, Lisa. Es war für mich unendlich schwer, mit dir ein Gespräch anzufangen, als wir damals in Heidelberg in der Mensa am selben Tisch saßen, weil sonst nirgendwo mehr Platz war. Du warst neu, du kamst aus Berlin, und irgendwie warst du mir nicht geheuer. Ich habe nur aus Höflichkeit mit dir geredet. Und dann kam der Schock! Diese Lisa war eine Kommunistin und obendrein immer noch von diesem Quatsch überzeugt. Ich dachte innerlich nur: ‘Oh mein Gott, warum tust du mir das an!’ Aber ich habe mich dieser Herausforderung gestellt, und du wurdest meine beste Freundin, diejenige, zu der ich mehr Vertrauen habe als zu irgendjemand anderem aus meinem Freundeskreis. Und meine Freundschaft zu dir habe ich nicht davon abhängig gemacht, ob du Christ wurdest oder nicht. Aber du wurdest Christ. Dann hast du dich entschieden, deine Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen, indem du nach Venezuela gegangen bist. Und du hattest den Mut, auch dann noch weiterzumachen, als man dir von offizieller Seite die Unterstützung entzog. Du warst dir sicher, dass du zur richtigen Zeit am richtigen Platz warst. Genau das hat sich später auch bestätigt, als du die McNamaras getroffen hast. Wenn du nicht Christ gewesen wärest, hättest du wahrscheinlich kein Wort mit Thomas geredet und ihn zum Teufel gejagt, zumal er ein Amerikaner war und somit einer von deinen Erzfeinden als erklärte Kommunistin. Deine und meine Welt war einige Jahre zuvor zusammengebrochen, dein und mein Leben ein Trümmerhaufen, und nun war seine Welt zusammengebrochen, sein Leben ein Trümmerhaufen. Wenn wir beide nicht all diese negativen Erfahrungen in unserem Leben gemacht hätten, wäre Thomas vielleicht schon lange tot und sein Umfeld auch. Und im Unterschied zu ihm waren wir noch nicht einmal schuld daran, dass wir diese negativen Erfahrungen machen mussten. Aber er hatte sich in seinem Größenwahn selbst hereingeritten. Okay, und nun erkläre ich dir noch, was ich damit meine, wenn ich sage, dass die Frage nicht lauten sollte, was Thomas getan hat, dass Gott all die schrecklichen Dinge in seinem Leben zulässt, sondern was Thomas noch tun soll, dass Gott diese Dinge zulässt. Aber ich vermute, du kannst es dir schon ungefähr denken. Ohne mein Leiden hätte ich dir in deinem Leiden nicht helfen können. Ohne dein Leiden hättest du Thomas nicht helfen können. Ich weiß, es klingt hart und grausam, aber wenn Thomas jetzt nicht leiden würde, könnte er in Zukunft anderen leidenden Menschen nicht helfen. Weder er noch wir wissen, wer diese Menschen sein werden, aber Thomas wird sie genauso retten, wie du ihn gerettet hast und wie ich dich gerettet habe. Apropos retten, ich bin gewiss, dass Gott Thomas retten wird. Denn Gott ist immer noch Gott. Eins kann er auf den Tod nicht ausstehen, nämlich wenn Menschen sich benehmen, als seien sie Gott. Miguel Ramírez benimmt sich im Moment, als wäre er Gott. Er provoziert nicht nur uns und alle anderen mit diesen selbstherrlichen Videos, er provoziert auch Gott. Dieser Drogenbaron kann Thomas mit Ohrringen perforieren, auf denen ‘Eigentum von Miguel Ramírez’ eingraviert ist, aber dennoch ist und bleibt Thomas Gottes Eigentum. Er hat ihm sein Leben gegeben, und deshalb ist Thomas auch in Gottes Händen. Gott ist ferner viel mächtiger als der Drogenbaron, auch wenn das jetzt nicht so aussieht. Seine Macht ist unbegrenzt. Von daher stimmt der Liedtext, der dich so wütend gemacht hat. Nur manchmal fällt es uns sehr schwer, das zu glauben bzw. zu akzeptieren. Aber dafür brauchen wir uns nicht zu schämen. Gott kennt unser Herz. Weißt du noch, damals, als wir immer über Gott diskutiert haben, da konntest du dir nicht vorstellen, dass er dir deine ganzen Fehler und Pannen vergeben wird. Aber schließlich hast du das im Glauben für dich in Anspruch genommen, und es hat dich mit großer Freude und tiefem Frieden erfüllt. Wie viel mehr sollte Gott dir also deine Zweifel und deine Wut vergeben! Und wie viele Psalmen gibt es in der Bibel, wo Menschen Gott vorwerfen, dass er ihnen nicht helfen und einfach wegsehen und sie in ihrem Leid allein lassen würde. König David hat über ein Dutzend Lieder mit diesem Inhalt gedichtet. Aber Gott nannte ihn einen Mann nach seinem Herzen. Er fand ihn toll. Und da sind wir wieder beim Ausgangspunkt. Viele Sachen sind unverständlich, wir finden sie grausam, klagen Gott an. Aber am Ende erkennen wir den Sinn in alledem. Und das gibt uns Mut, nicht aufzugeben.”

Lisa musste noch lange über dieses Gespräch nachdenken. Es verschaffte ihr einen großen Frieden, dass Thomas’ Leiden nicht sinnlos war.

Der Preis der Wahrheit

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