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V. Weitere bestimmende Kriterien

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1. Im Übrigen verlangt die Rechtssicherheit meist nach starrer Anknüpfung und verbietet die individuelle nachträgliche Beachtung einzelner Parteiinteressen. Der Einzelne muss – sofern er sich diese Frage stellt – vorher mit Verlässlichkeit bestimmen können, welcher Rechtsordnung sein Rechtsgeschäft, seine familienrechtliche Beziehung oder sein Nachlass später unterworfen sein wird. Wo die Rechtssicherheit starre Anknüpfungen nicht verlangt, ist auch das IPR offen für einen Blick auf das materielle Ergebnis. Die jüngeren IPR-Kodifikationen, auch das deutsche Gesetz zur Reform des IPR von 1986, haben sich deutlich dieser Idee geöffnet.

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2. Gehen die Interessen der Beteiligten typischerweise in unterschiedliche Richtungen, so muss entweder ein gemeinsames oder ein neutrales Anknüpfungskriterium gefunden werden, es sei denn, es werden die objektiv vermuteten Interessen eines der Beteiligten vor die des anderen gestellt, insbesondere weil die Beteiligten unterschiedlich schutzwürdig sind.

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Bei objektiven Anknüpfungen im Internationalen Eherecht wird nur bei gemeinsamer Staatsangehörigkeit an diese, sonst an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft; hingegen wird im Internationalen vertraglichen Schuldrecht – sofern keine Rechtswahl vorliegt – häufig der Vertrag dort lokalisiert, wo der die Sachleistung Erbringende seinen Sitz hat (Art. 4 Abs. 2 Rom I-VO). Ähnlich wird im Internationalen Deliktsrecht der Geschädigte durch Anwendung des Rechts am Schadensort geschützt (Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO), noch stärker ist sein Schutz, soweit[33] Art. 40 Abs. 1 gilt und er unter mehreren Rechten wählen darf, wenn Handlung und Erfolg der deliktischen Rechtsgutverletzung in verschiedenen Staaten eintreten.

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3. Wo ein bestimmtes materielles Ergebnis vermutlich von allen Beteiligten oder einem besonders schutzwürdigen Beteiligten gewollt ist, dringen auch alternative Anknüpfungen vor, die es erlauben, den Eintritt einer Rechtsfolge (zB Abstammungsfeststellung, Formwirksamkeit) nach mehreren Rechtsordnungen zu prüfen und schon dann anzunehmen, wenn nur die Voraussetzungen einer Rechtsordnung gewahrt sind.

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4. Deutlich im Vordringen ist schließlich auch die Parteiautonomie,[34] also die Zulässigkeit einer Wahl des anwendbaren Rechts. In Bereichen, in denen ganz vorwiegend die Interessen der an der Rechtswahl Beteiligten berührt sind, kann ein der Privatautonomie (im materiellen Recht) verbundenes Rechtssystem diesen getrost die Bestimmung der sachnächsten Rechtsordnung überlassen.

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Im Internationalen vertraglichen Schuldrecht ist dies die Regel (vgl Art. 3 Rom I-VO). Hingegen sind im Internationalen Eherecht und Erbrecht häufig auch Drittinteressen berührt, weshalb dort im deutschen IPR bisher nur in engen Grenzen eine Rechtswahl zugelassen (vgl Art. 14 Abs. 2 und 3, Art. 15 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1 aF iVm Art. 14; Art. 25 Abs. 2 aF) wurde. Im EU-Kollisionsrecht wird die Rechtswahl auch in diesen Bereichen ausgedehnt (Art. 5 Rom III-VO, Art. 22 EU-ErbVO), wobei eine fragwürdige Funktion hinzutritt: Der EU-Gesetzgeber erwartet, dass die Beteiligten die vordringende Grundanknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt, die nicht immer angemessen ist und zu Zweifelsfällen führt, durch Parteiautonomie korrigieren; das setzt freilich Kenntnis und Beratung über die Wahlmöglichkeit und das Anknüpfungsproblem voraus, was gerade in familienrechtlichen Fragen nicht ohne weiteres zu unterstellen ist. Im Internationalen Sorgerecht kommt hingegen eine Rechtswahl nicht in Betracht, da das Kindesinteresse im Vordergrund steht.

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5. Häufig wirken sich auch rechtspolitische Werturteile zum materiellen Recht mittelbar aus, weil das IPR eines Staates nicht im rechtspolitisch freien Raum entsteht, sondern denselben Grundwertungen gehorcht, die sich im materiellen Recht durchsetzen. Besonders deutlich wird dies im Internationalen Familienrecht, das – wie das materielle Familienrecht – in seiner Fortentwicklung kaum von Dogmatik, dafür umso mehr von aktuellen rechtspolitischen Tendenzen geprägt ist.

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Dem Übergang des materiellen Rechts von der Verschuldens- zur Zerrüttungsscheidung (1.7.1977) und der Erkenntnis, dass Art. 6 Abs. 1 GG auch die Freiheit der Scheidung einer gescheiterten Ehe als Teil der Eheschließungsfreiheit schützt, entsprach die Regel des Art. 17 Abs. 1 S. 2 aF, die dem deutschen Ehegatten eine Scheidung nach deutschem Recht sicherte, wenn das eigentliche Scheidungsstatut die Scheidung verweigert. Art. 10 Rom III-VO erklärt in diesem Fall die lex fori für anwendbar. Das Internationale Kindschaftsrecht des Kindschaftsrechtsreformgesetzes 1998 kehrt sich mit dem materiellen Recht ab von der Unterscheidung ehelicher und nichtehelicher Kindschaft; was keineswegs zwingend erst so spät erfolgen musste, hatte sich doch schon vorher das deutsche IPR mit zahlreichen Rechtsordnungen auseinanderzusetzen, deren Kindschaftsrecht mit der Unterscheidung der Anknüpfung in Art. 19 und 20 aF nicht sachgerecht zu bewältigen war. Der Schutz bestimmter Personen im Internationalen Schuldrecht (Verbraucher, Versicherte, Arbeitnehmer, Vertragspartner von AGB-Verwendern) durch Sonderanknüpfungen folgt den entsprechenden materiellen Schutzbestimmungen nach.

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Eine Berücksichtigung solcher Wertungen, sei es seitens des Gesetzgebers durch eine legislatorische Entscheidung für ein bestimmtes Prinzip, sei es durch den Rechtsanwender in der Auslegung der Norm, bedeutet jedoch immer kollisionsrechtliche Umsetzung, nicht aber konkrete materielle Verwirklichung eines gewünschten Ergebnisses.

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Verbraucherschutz im IPR bedeutet zB nur, den Verbraucher vor dem Entzug eines ihm nahen Rechts (regelmäßig seines gewöhnlichen Aufenthalts) zu bewahren. Ob dadurch konkreter Schutz gewährleistet wird, kann nur der Inhalt dieser Rechtsordnung entscheiden.

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6. Insbesondere sind die Kollisionsnormen den Wertungen des Grundgesetzes unterworfen, haben also zB die Gleichheitssätze bei der Auswahl der Anknüpfungskriterien zu wahren. Das lange Zeit (zum Ehekollisionsrecht) vertretene Argument, Kollisionsnormen seien wertneutral[35] und könnten daher auch einseitig anknüpfen, weil erst das materielle Recht zu einer gleichheitswidrigen Benachteiligung führe, hat das BVerfG[36] deutlich zurückgewiesen.

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Gleichberechtigung von Mann und Frau im Kollisionsrecht bedeutet also nicht die Verwirklichung eines materiell gleichberechtigungskonformen Ergebnisses. Eine gleichberechtigungskonforme Kollisionsnorm wird (lediglich) die Auswahl des maßgeblichen Rechts ohne Bevorzugung eines nicht Art. 3 GG entsprechenden Kriteriums vornehmen. Erweist sich sodann das grundrechtsentsprechend ausgewählte Recht inhaltlich nicht als grundrechtskonform, so kann – in engen Grenzen – nur der ordre public helfen.

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Ob mit der zunehmenden Europäisierung des IPR der hohe Standard der Verwirklichung deutscher Grundrechte im IPR erhalten bleiben kann, muss angesichts der Selbstbeschränkung des BVerfG gegenüber dem Europarecht und angesichts des zum Teil geringeren Schutzstandards der EU-GRC bezweifelt werden.

Teil I IPR: Grundlagen§ 1 Einführung und Abgrenzung › E. Quellen des IPR

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