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Es war Mitternacht.

Mein Optimismus legte sich sehr, als ich an die kühle Luft kam. In zwölf Stunden sollte die Diamond-Brücke gesprengt werden. Das konnte man aller Voraussicht nach verhindern, wenn es nicht nur ein Bluff war. Ich glaubte aber weniger an einen Bluff. Denn in diesem Zuge befanden sich einundzwanzig Passagiere, die schon einmal im gleichen Express gesessen hatten: Die Girls der Revuetruppe. Der gleichen Revue, die vor kurzem noch von Boulanger geleitet worden war.

Larry hatte das herausgefunden. Und zwar fand in Allegheny ein Gastspiel statt. Die Theaterleitung hatte einen ganzen Wagen des Express reservieren lassen. Genau wie vorgestern. Ob nun Zufall oder Absicht, es war derselbe Zug.

Der Express 253

Der Schlüssel zu allem lag bei Stellcass, da mochte der Staatsanwalt schon recht haben. Nur nicht so, wie es zunächst den Anschein hatte.

Ich fuhr zum Hospital. Und wenn die gesamte Ärzteschaft Kopfstände machte, ich musste Stellcass sprechen.

Unterwegs hielt ich an einer Telefonzelle an und sprach mit Larry. So, wie die Dinge lagen, war es besser, er kam mit. Denn wenn meine Theorie stimmte, und es war nicht nur eine Theorie, begann sich der Fall zuzuspitzen. Meine Prognose dem Staatsanwalt gegenüber wollte ich noch weit unterbieten. Morgen Mittag 12 Uhr sollte nicht nur keine Brücke gesprengt werden, ich wollte auch den Kopf der Bande gefasst haben. Dass es eine Bande war, daran glaubte ich jetzt sicher.

Aber irren ist menschlich, und wie es wirklich war, konnte ich noch nicht ahnen.

Ich erwartete Larry vor dem Hospital. Er kam mit einem Streifenwagen. Die Cops setzten ihn nur ab, dann fuhren sie weiter.

Larry wirkte müde und abgespannt. Jetzt war er es, der sich nur noch mit Mühe wachhalten konnte.

„Ist deine Batterie leer?“, fragte ich ihn teilnahmsvoll.

Er winkte unwirsch ab. „Pah, jetzt nehme ich noch den Mount Everest im Alleingang.“

Wir traten durch das Portal. „Du siehst gerade so aus wie ein gut trainierter Bergsteiger. Aber warte nur, nachts fährt der Lift nicht, dann kannst du bis zum fünften Geschoss die Treppen steigen.“

Larry blieb stehen. „Hölle!“ keuchte er. „Auch das noch.“

Ich lachte. Der Pförtner in der Loge sah mich griesgrämig an, als habe er etwas dagegen, wenn Leute in einem Hospital lachen. Noch dazu mitten in der Nacht.

Mein Ausweis genügte ihm, er machte auf. Dann bat er uns, zu warten. Per Telefon rief er nach einer Schwester, die uns zu Stellcass′ Zimmer führen sollte. Als sie dann kam, rollte Larry trotz seiner Müdigkeit überrascht die Augen. Na ja, ehrlich gesagt, ich habe auch nicht gerade weggesehen.

Sie war hübsch, schlank und rank, jung und blond, und trotz der späten Stunde lächelte sie nett.

Sie führte uns die Treppe hinauf, und Larry vergaß völlig, wie ungern er Treppen steigt.

Plötzlich fragte mich Larry, nachdem er zuvor unentwegt auf die hübsche Schwester eingeredet hatte: „Sag mal, Rex, übermorgen Abend liegt ja wohl kaum was an, wie?“

Ich ahnte, worauf er hinaus wollte, aber ich erwiderte scheinbar unbefangen: „Na ja, ich denke auch, dass wir dann etwas Zeit haben.“

Das hübsche Kind sah erwartungsvoll auf Larry, und prompt sagte der: „Wie wär’s dann, Schwesterherz, könnten wir uns nicht treffen? Ich lade Sie ein zu einem vergnügten Abend.“

Eigentlich wollte ich etwas einwerfen, einen bissigen Scherz oder eine spöttische Bemerkung. Doch dann machte ich eine erstaunliche Entdeckung und schwieg. Indessen waren wir auch am Zimmer von Stellcass angelangt. Vor der Tür saß ein uniformierter Beamter, der gerade seine Zeitung weglegte, in der er offenbar Kreuzworträtsel gelöst hatte.

Er kannte mich, und so waren wir schnell im Zimmer. Die hübsche Schwester wollte sich verabschieden, aber ich dachte anders darüber und sagte: „Schwester, bleiben Sie doch bitte! Wir finden ja nachher nicht zurück, und mein Kollege könnte inzwischen seelische Schmerzen der Einsamkeit erleiden.“

Sie lächelte, weil ich auch lachte, und so blieb sie. Larry sah mich verwundert an und kniff die Augen zusammen. Vielleicht dachte er, auch ich wäre verknallt in die Kleine.

Stellcass lag allein in diesem Raum. Er schlief.

„Ach, da fällt mir etwas ein, Larry: Hast du dir die Autonummer von dem gelben Wagen notiert?“, fragte ich Larry, der mich zunächst verblüfft ansah. Erst als ich ihm zuzwinkerte, begriff er.

„Hm, ich glaube nicht.“

Die blonde Schwester war inzwischen ans Bett getreten, und fühlte dem Schlafenden den Puls.

„Gib mir mal deinen Kugelschreiber“, sagte ich zu Larry. Weil die Schwester wegsah, winkte ich Larry zu, ja nicht den Kugelschreiber aus der Innentasche zu ziehen.

Er begriff auch diesmal und sagte: „Tut mir leid, Rex. Ich habe keinen bei mir.“

Jetzt war es soweit. „Schwester“, sagte ich, „ich sehe, Sie haben etwas zum Schreiben bei sich. Dürfte ich mal bitte ...‟

„Aber ich habe doch gar keinen …“ Sie dachte offenbar nicht an den Schreiber in ihrer Kitteltasche.

Lachend griff ich danach und sagte: „Nehmen wir den solange. Danke!“

„Nein! Sie können doch nicht …‟, wollte sie protestieren, aber ich hatte ihn schon.

„Sie bekommen ihn ja gleich wieder“, tröstete ich sie lächelnd. Dann sah ich ihn mir an und meinte bewundernd: „Ein schönes Stück. Massiv Gold und mit ’nem Edelstein. Sieht man nicht alle Tage.“

„Es ist ein Erbstück!“ Sie blickte mich wütend an.

Ich kritzelte irgend etwas in mein Notizbuch. Dann sah ich zu Stellcass hinüber, der noch immer schlief, und steckte den wertvollen Kugelschreiber ein, als geschähe das aus reiner Vergesslichkeit und ohne Absicht.

„Moment mal, das ist mein Schreiber‟, sagte sie heftig.

Ich sah ihr in die Augen, blaue Augen übrigens, und sagte freundlich: „Gehört er wirklich Ihnen?“

„Natürlich“, behauptete sie. „Und außerdem habe ich nicht viel Zeit. Ich muss jetzt auf meine Station.“ Sie wirkte nervös.

Larry sah mich halb fragend, halb vorwurfsvoll an. Aber er konnte ja nicht wissen, dass ich diesen Kugelschreiber kannte.

„Woher haben Sie ihn?“, fragte ich.

„Ich sagte doch, dass ich ihn geerbt habe“, behauptete sie aufs neue.

„Nein!“ Ich trat einen Schritt auf sie zu. „Sie haben ihn entweder gestohlen oder geschenkt bekommen. Von jemandem, der noch lebt. Dieser Kugelschreiber ist zu selten und zu originell, um überall erhältlich zu sein, zumal mit den Initialen!“ Ich zeigte ihr auf der Kappe das verschlungene B im C.

Sie senkte den Kopf. „Ich bekam ihn geschenkt.‟

„Von wem?“

Sie zögerte dann sagte sie leise: „Von einem Freund …“ Und als ich nur knurrte, fuhr sie leise fort: „Von Mr. Higgins. Er liegt auf meiner Station.“

„Danke, Schwester. Das hätten Sie auch gleich sagen können.“ Sie wollte gehen, aber ich vertrat ihr den Weg. „Bleiben Sie bitte! Wir brauchen Sie nachher noch.“

Ich sah Larry an, und er verstand. Indessen war Stellcass munter geworden.

Ich setzte mich zu ihm ans Bett und sah ihn an. Alt und krank sah er aus, die Augen tief in den Höhlen, Ringe darunter, die Backen eingefallen, die Lippen bleich wie aus Wachs.

Er schien mich erkannt zu haben. Um seinen Mund lief ein Zucken, aber er sagte nichts. Dann jedoch blickte er auf die hübsche Schwester und runzelte die Brauen.

„Haben Sie Mr. Stellcass schon gepflegt, Schwester?“, fragte ich.

„Nein, er gehört nicht zu meiner Station“, erwiderte sie.

„Larry, geh mit ihr hinaus und sag dem Cop Bescheid, dass er auf sie achtet. Und du kommst wieder!“

„Aye, aye!“, sagte Larry und wandte sich an das Mädchen: „Kommen Sie Schwester, wenn mein Häuptling amtlich wird, meint er es meist auch so.“

Als Larry zurückgekommen war, fragte ich Stellcass: „Kennen Sie die Schwester, Stellcass?“

Er nickte kaum merklich und erwiderte mit krächzender Stimme: „Sie spioniert immerzu herum. Schon zweimal ist sie diese Nacht hier gewesen. Sie hat gedacht, ich schliefe, aber ich war wach. In meinen Sachen hat sie etwas gesucht.“

„Okay. Und Sie haben sie vorher nicht gesehen, bevor Sie hierher gekommen sind?“

„Nein“, entgegnete er und schloss die Augen. Ich musste mich beeilen, er war doch sehr geschwächt.

„Larry, geh zu Tom Higgins, aber nimm die Schwester nicht mit. Frag sie nur, wo er liegt. Und verrate nicht, dass wir bei Stellcass sind.“

„Okay, Rex!“

Er ging, und ich hörte, wie er draußen mit dem Cop und der Schwester sprach.

„Stellcass, packen Sie jetzt am besten Ihre Kiste aus! Ich will Ihnen dazu Fragen stellen. Und noch etwas, Stellcass: Sie sind in einem bösen Verdacht. Ich will von Ihnen die Wahrheit wissen, damit ich Ihnen helfen kann.“

Mit geschlossenen Augen erzählte er dann, bevor ich noch Fragen stellen konnte.

„Mich haben alle für einen Verbrecher gehalten. Alle. Aber ich bin nur ein Pechvogel. Vor zehn Jahren ging es mir schlecht. Keine Arbeit, kein Geld. Niemand wollte einen Mann von über fünfzig. Junge Männer, ja, die wollte jeder. Aber so einen alten Mann wie mich ... Ich war Farbätzer, in meinem Beruf nicht schlecht. Aber ich fand keinen Job. Dahn wurde ich krank. Eine Magengeschichte. Ich musste operiert werden, dann wieder dasselbe. Kein Geld, hohe Schulden und keine Arbeit.“

Er seufzte, öffnete die Augen und blickte mich herausfordernd an. „Wissen Sie, wie das ist?“

Dann sah er auf die verhängte Nachttischlampe und fuhr fort: „In der größten Not lernte ich einen alten Kollegen kennen, auch ein Farbätzer. Der hatte einen Job in der Staatsdruckerei von New York. Er stand sich gut und versprach mir, einmal nachzuhören, ob nicht für mich auch ein Job zu haben sei. Gut. Ich hatte ihn fast schon vergessen, da kam er ...“

„Wer war dieser Mann?“

„Er hieß Ernest Marek.“

„Wie alt?“

„Mitte sechzig damals. Er lebt nicht mehr.“

Die Tür ging auf, und Larry kam schnell herein. „Rex! Ich muss dir etwas Wichtiges sagen!“

Ich stand auf und trat ihm entgegen. Er beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: „Higgins ist weg! Der Mann, der mit ihm im Zimmer schläft, weiß von nichts. Vor einer Stunde, sagte er, sei Higgins noch da gewesen.“

„Steht die Schwester noch draußen?“

„Der Cop sitzt mit ihr im Stationszimmer ...“

„Sieh nach ihr und bring sie sofort zum Hauptquartier. Vernehmung!“

„Aber ...“

„Kein Aber, sofort weg mit ihr! Sofort!“

„Und Higgins?“

„Darüber sprichst du am besten mit dem Personal, auch mit dem Portier.“

Larry ging, und ich setzte mich wieder an den Bettrand. „Sprechen Sie weiter, Stellcass! Für mich ist es sehr wichtig.“ Und er erzählte weiter: „Dieser Marek kam also wieder, und er sagte, er hätte einen prima Job in der Staatsdruckerei. Als Ätzer. Ich ging sofort mit ihm zur Gewerkschaft, die gaben mir den blauen Zettel, und dann zum Personalbüro, alles war vorbereitet. Ich konnte sofort anfangen. Ein halbes Jahr lang lief alles normal. Dann kam ich in eine andere Abteilung, und hier war auch Marek. Es war der Spezialistenclub. Wir beschäftigten uns mit schwierigen Gravuren und Ätzungen. Ich war Marek sehr dankbar, und wir freundeten uns an. Auch privat hielten wir Kontakt, und ich lernte seine Frau und seine Kinder kennen ...“

„Ist die Frau dunkelhaarig? Gefärbt schwarz?“

„Nein, sie war blond, aber auch gefärbt.“

„Er hatte zwei Söhne und zwei Töchter?“

Stellcass schüttelte den Kopf. „Nein, drei Söhne und eine Tochter.“ Er machte eine betrübte Geste und sagte: „Hätte ich die nie gesehen, es wäre besser gewesen.“

Wieder unterbrach uns Larry. „Rex, komm bitte sofort!“

Ich sah ein, dass ich dieses Gespräch mit Stellcass, so wichtig es auch sein mochte, vertagen musste. Nur eine einzige Frage wollte ich ihm noch stellen.

„Augenblick, Larry, ich komme sofort.“ Und zu Stellcass sagte ich: „Wissen Sie — das muss ich Sie zunächst noch fragen, bevor wir unsere Unterhaltung aufschieben —, wissen Sie, wer die Brücke gesprengt hat?“

„Fred Marek.“

„Einer der Söhne?“

„Der älteste Sohn.“

„Wie sieht er aus?“

„Groß, sehnig, dunkles Haar, immer korrekt gekleidet …“

„Danke, Stellcass, und nun gute Besserung. Ich komme am frühen Morgen wieder zu Ihnen!“

Er lächelte und nickte nur. Dann ging ich mit Larry hinaus.

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