Читать книгу Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane - A. F. Morland - Страница 10

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„Es hat aufgehört zu regnen“, sagte Thomas Brückner und starrte durch die tropfnassen Scheiben. Er sah, wie die Kerze hinter ihm in den Regentropfen reflektierte.

Langsam wandte er sich um, blickte auf die Szene, die sich seinen Augen bot. Links drüben im Ohrensessel saß Isolde, man sah jetzt deutlich, dass sie schwanger war. In der königlichen Haltung einer Frau in Hoffnung saß sie da, hatte ihr Häkelzeug sinken lassen und blickte zu Thomas Brückner hinüber.

Der große breitschultrige Mann am Fenster sah jetzt von Isolde auf deren Schwester Marion, die ein Stück entfernt im Schaukelstuhl saß und sich heftig wiegte. Eine schlanke, dunkelhaarige Frau, ein wenig älter als Isolde, und sie gab sich auch keine Mühe, ihre fünfunddreißig Jahre zu vertuschen.

„Ich glaube, wenn es aufhört zu regnen, dann wird es über Nacht kalt. Und wenn es friert, haben wir morgen früh Glatteis. Glaubst du nicht auch, Fried?“ Sie wandte sich ihrem Bruder zu, der hinter ihr am Kamin lehnte.

Der Kamin war kalt. Er war zugemauert. Kaminfeuer, hatte Friedhelm von Bredow immer behauptet, mögen zwar romantisch sein, aber sie sind reine Energieverschwendung. Die wohlige Wärme im Zimmer stammte von der Zentralheizung. Und auf diese Heizung war der hagere Landwirt Friedhelm von Bredow stolz. Er hatte sie selbst entwickelt und betrieb sie mit Biogas, das er durch den Dung von Kuh- und Schweinestall erzeugte.

„Ich glaube, dass du recht hast. Das Barometer steigt. Morgen haben wir sicher Frost. Immerhin ist es Anfang Dezember.“

Isolde blickte auf den Adventskranz. Eine Kerze hatte schon gebrannt. Nächsten Sonntag würde man zwei anzünden. Die Adventszeit liebte sie. Es ist die schönste Zeit des Winters, dachte sie gerade. Alle sitzen zusammen, wenn es draußen ungemütlich ist. Sonst sind wir nie beieinander.

Sie spürte wieder ihr Kind. Immer lebhafter wurde es. Letzte Woche hatte der Kleine sie auf den Ischiasnerv getreten. Da war sie kaum imstande gewesen, richtig zu laufen. Jetzt schien sich das Kind gedreht zu haben.

Ein Junge ist es. Ich habe alles gesehen. Ich bin so glücklich. Mein Kind! Ich habe ein kleines Leben in meinem Leib. Es ist einfach wunderbar. Ich hab ihn schon gesehen. Nicht so richtig, auf diesem Bildschirm ist alles unscharf, nur die Konturen, aber es war fantastisch, das zu sehen, was ich in meinem Leib trage. Und das war einfach wunderbar.

„Du siehst glücklich aus. Denkst du wieder an dein Kind?“, fragte Marion, die ihre Schwester beobachtet hatte und jetzt leicht vorgebeugt im Schaukelstuhl saß. Ihr dunkles Haar glänzte im flackernden Licht der Kerze.

„Hm. Ich habe wieder daran gedacht“, entgegnete Isolde.

„Ein Glück, dass dieser Kerl weg ist, auch wenn es sein Kind ist“, meinte Friedhelm von Bredow. „Der Bursche hat, weiß Gott, nichts getaugt Um ein Haar hätte er uns noch saftige Schulden bereitet. Einen Kredit auf meinen Namen zu nehmen, das ist schon ein starkes Stück. Aber es hat nicht geklappt. Er hätte sich das besser überlegen sollen, dann wäre er gar nicht erst zu diesem Wahnsinn gelangt.“ Er blickte auf Thomas Brückner, der noch immer am Fenster lehnte und auf die Runde schaute.

„Na ja, so schlecht war er nun wieder nicht. Ihr wisst alle, dass er nicht mein Freund ist, aber wir brauchen ihn nicht jeden Tag zu verteufeln. Ich glaube nicht, dass ihr Isolde damit eine Freude macht. Nicht wahr, Isolde?“

Die Schwangere hob den Kopf, sah auf Thomas Brückner und lächelte. „Danken, Thomas, du gibst dir solche Mühe.“

„Ich mache mir Sorgen um dich. Du solltest jetzt schon nach Bonn fahren. Wenn so ein Tag kommt mit Glatteis, und bei dir ist es so weit ...“

„Aber, lieber Thomas, ich habe noch einen ganzen Monat, reichlich sogar“, widersprach sie ihm und lachte. „Du brauchst dir doch wirklich keine Sorgen zu machen. Es ist eigenartig. Du bist doch Arzt gewesen, du müsstest doch wissen, dass ...“

Er nickte nachdenklich. „Gerade weil ich Arzt gewesen bin, deshalb weiß ich ja, dass es nicht ganz so glatt zu gehen braucht, wie du dir das erhoffst und wie ich’s dir wünsche. Es wird bei dir glatt gehen, in Ordnung, aber gewisse Vorkehrungen sollte man treffen. Wir sind hier so weitab vom Schuss.“

„Du bist doch da. Du könntest mir doch helfen. Das würdest du doch für mich tun?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich könnte dir nicht helfen. Und du weißt auch sehr gut warum.“

„So genau weiß ich es nicht. Ich habe mich nie erkundigt", erklärte Isolde. „Weißt du’s denn, Fried?“ Sie wandte sich ihrem Bruder zu.

Er war zwölf Jahre älter als sie, und für Isolde war Fried immer derjenige gewesen, bei dem sie sich Ratschläge einholte, wenn sie die Eltern nicht fragen wollte.

„Ja, ich weiß es, aber ich glaube nicht, dass es Thomas recht gewesen wäre, wenn ich einfach drauflos geplaudert hätte.“

„Ach was“, meinte Thomas Brückner, „die Geschichte ist jetzt acht Jahre her. Eine lange Zeit. Ich denke schon selbst nicht mehr daran.“ Marion kannte einen großen Teil von dem, was damals passiert war. Aber so richtig wusste sie es auch nicht. Neugierig war niemand in der Familie der von Bredows. Neugier galt als unfein. So waren sie alle drei von den Eltern erzogen worden.

„Ich hätte es euch erzählt“, sagte Thomas Brückner, „irgendwann einmal bei einer Gelegenheit. Mein Gott, damals hat es sogar in der Zeitung gestanden.“

„Aber du bist unschuldig“, erklärte Friedhelm von Bredow.

Thomas Brückner zuckte die Schultern. „Unschuldig hin, unschuldig her. Das Gericht ist anderer Meinung gewesen, und der Ehrenrat des Standesgerichtes war es auch. Man muss seine Unschuld beweisen können.“

„Irrtum!“, widersprach Friedhelm. „Die Schuld muss dir bewiesen werden, wenn du einer strafbaren Handlung angeklagt wirst. Und das war ja nun mal ein Strafprozess. Dass die Burschen vom Ehrenrat sich diesen Dingen anschließen, lag irgendwie auf der Hand. Das sind ja nun wirklich keine Richter. Wie sollen die schlauer sein als das Gericht!“

„Ich weiß. Ich glaube nicht, dass das für den heutigen Abend ein Thema ist.“

„Wollen wir kein Licht anmachen?“, schlug Marion vor.

„Nein!“, rief Isolde. „Bitte, lass doch das Licht aus. Die Kerze ist hell genug. Es ist so schön. Thomas, setz dich doch zu mir! Erzähl es uns! Aber nur, wenn du es willst“, fügte sie leiser und bittend hinzu. „Wirklich nur, wenn du es willst!“

„Also gut, ich will. Vielleicht habt ihr es längst wissen wollen, und euch nur nicht getraut zu fragen. Mein Gott, ich bin mir ja keiner Schuld bewusst, aber der Makel lastet doch auf mir.“ Er lächelte unfroh. „Hauptgrund dafür, dass ich mich in diese Einöde verkrochen habe.“

„Einöde sagst du?“, meinte Friedhelm aufgebracht. „Wir haben aus dem Gut ganz schön was gemacht, nicht wahr? Früher, da war das ja eine richtige Klitsche. Aber jetzt ist es ein Betrieb, der seinen Mann ernährt und nicht nur den. Immerhin geht es uns allen recht gut. Das ist der Betrieb, der das abwirft. Und dass er das abwirft, mein lieber Thomas, ist nicht nur mein Verdienst. Daran hast du ganz wesentlich Anteil. All die Dinge, die du hier verwirklicht hast ...“

Thomas winkte ab. „Hör auf, hör auf! Es ist nicht der Rede wert. Der Motor hier bist du, das Herz der ganzen Sache. Ich bin vielleicht ein Finger in diesem Spiel. Nun denn“, er zog sich den Kamelsattel heran, der in der Ecke stand, und setzte sich vor Isolde darauf. Er schaute zu ihr empor, sah sie ein wenig verträumt an und sagte dann: „Sie war so alt wie du. Eine Frau voller Hoffnung, voller Glück, jung verheiratet und absolut ahnungslos.“

„Ahnungslos?“, fragte Marion. „Wieso ahnungslos?“

„Weil sie nicht wusste, was in ihr schlummerte, was in ihr arbeitete, was sie zu zerstören drohte.“

„Krebs?“, fragte Marion.

Er nickte. „Aber in einem sehr frühen Stadium. Daran ist sie auch nicht gestorben. Aber ich habe darauf bestanden, dass sie sich operieren lässt. Sie wollte erst nicht; sie hatte Angst. Vielleicht hat sie etwas geahnt. Früher hätte ich darüber gelacht. Heute lache ich nicht mehr. Es scheint solche Ahnungen wirklich zu geben, auch wenn die Schulmedizin das als etwas Utopisches hinstellt, als Irrsinn, als Wunderglaube. Es muss so etwas geben. Sie wollte nicht. Ich habe auf sie eingeredet, und endlich war sie so weit. Sie ließ es zu; sie unterschrieb. Aber sie bestand darauf, dass ein Arzt, den ich auch sehr gut kannte, bei der Operation mitwirkte. Sie glaubte, dass er ein guter Anästhesist war. Sie glaubte es, und ich habe es geglaubt. Wir alle zweifelten nicht daran. Mein Gott, man lässt sich nicht von jedem Kollegen Referenzen zeigen. Sie hatte ihn von frühster Jugend an gekannt. Er war so alt wie sie. Und damals bin ich auch nur fünf oder sechs Jahre älter gewesen. Wie gesagt, eines Tages, eine Woche nach unserem letzten Gespräch, wobei ich sie überzeugt hatte und sie sich von mir weichklopfen ließ und unterschrieb, eine Woche später also, da war es so weit ...“

Er schloss die Augen, und mit einem Mal stand dieses Bild wieder vor ihm. Die Jahre, die inzwischen vergangen waren, schien es gar nicht zu geben. Alles das von damals war wieder gegenwärtig. Alles war da.

Er sah sich am Waschbecken stehen, sah sich selbst die Hände schrubben, die Unterarme. Und er tat es mit soviel Sorgfalt, als träte er die Operation seines Lebens an. Dabei war es für ihn, den erfahrenen gynäkologischen Chirurgen, eine Routinesache. Ein winziges Karzinom am Gebärmutterhals, eine Kleinigkeit. Sie wollte keine Kinder. Hatte nie welche gewollt. Es gab überhaupt keine Überlegung, was zu tun war. Hysterektomie natürlich.

Aber der Anästhesist, den er auch nur aus dessen Medizinalassistentenzeit kannte, der hatte in der Paul-Ehrlich-Klinik dieses Medizinalassistenjahr verbracht. Aber seine Facharztausbildung, wo er die gemacht hatte, darüber hatte Thomas nie mit ihm gesprochen. Überhaupt waren sie selten dazu gekommen, miteinander zu reden. Wenn dieser Dr. Hack da war, hatte er sich meist mit dieser jungen Frau unterhalten, mit dieser Sieglinde Pammig.

Ein Name, den er in seinem ganzen Leben nicht vergessen wird. Sigi hatten sie Sieglinde genannt. Und Sigi war eigentlich so etwas wie ein Idol von ihnen allen gewesen. Sie hatte nachher einen Hans geheiratet, einen Rechtsanwalt. Thomas kannte ihn von der Uni her. Sie alle waren so eine Clique gewesen, keine Verbindung. Einfach eine Gruppe von Freunden, und Sigi hatte dazugehört. Und dann war das gekommen mit diesem Zervixkarzinom. Operation, das einzig Mögliche, und zwar rasch, nicht lange warten. Die Gebärmutter musste raus, und damit hatte sie ein langes Leben vor sich. Er hatte es sofort eingesehen, und sie nun schließlich auch.

Aber da war der Anästhesist. Ein schmaler hagerer Bursche. Thomas hatte gleich den Eindruck, dass dieser Kerl unsicher wirkte, fahrig. Im Grunde war der ihm nie sympathisch gewesen. Aber Sigi schwor auf ihn. Sie hielt ihn für einen fantastischen Kerl. Und sie schien auch an ihn zu glauben. Er arbeitete allerdings irgendwo als praktischer Arzt, doch er behauptete, Anästhesist zu sein.

Thomas tauchte seine Hände viermal hintereinander in die aseptische Lösung, dann ging er mit erhobenen, in den Ellenbogengelenken gewinkelten Armen, in den OP hinüber. Jetzt war der Augenblick gekommen, da er alle Gefühle abstreifte. Jetzt war er nur noch Chirurg. Es war für ihn nicht Sigi, die da auf dem Tisch lag, es war ganz einfach ein Fall. Ein Fall, den er mit Präzision, mit einer absoluten Exaktheit, behandeln würde. Dem Zufall durfte nichts überlassen werden. Er, der Operateur, wusste, was zu tun war.

Er blickte in den OP, sah die Frau auf dem Tisch, sah diesen Dr. Hack, der gerade dabei war, die Narkose anzulegen. Drüben die Instrumentenschwestern, alle schon im grünen OP-Zeug mit Masken und Kappen, hatten auf den sterilen Unterlagen die Instrumente schon sortiert. Die beiden Assistenten standen bereit. Der eine war Schulz, der andere Bertelmann. Schulz gab der OP-Schwester ein Zeichen, die den Leib der Patientin jetzt freigelegt hatte. Schulz reinigte die Bauchdecke mit äthergetränkten, von Zangen gehaltenen Schwämmen.

Thomas ging zum Tisch mit den Handschuhen. Er ließ sich die Hände pudern und ein Paar sterile Handschuhe überziehen.

Ein merkwürdiger Ton vom OP Tisch her ließ ihn sich umdrehen.

Merkwürdige Töne, die Sigi ausstieß. Sigi? Es war eine Patientin. Im Augenblick hatte er Sigi völlig verdrängt. Es war die Patientin, die diese merkwürdigen Töne ausstieß und die nicht aufhörten.

Thomas warf Dr. Hack einen Blick zu. Der große schlanke Mann mit dem Milchbartgesicht schien völlig ruhig zu sein. Die merkwürdigen Töne der Patientin irritierten ihn offensichtlich überhaupt nicht. Schulz und die Instrumentenschwester waren noch immer mit der Bauchdecke der Patientin beschäftigt, während die anderen mehr oder weniger gelangweilt auf ihren Einsatz warteten. Bertelmann, der ältere der beiden Assistenten, lehnte an einer der Säulen und betrachtete seine Schuhspitzen.

Thomas ging zum Operationstisch und fragte leise: „Herr Hack, das mit der Hautfarbe sieht nicht gut aus. Halten Sie das für normal? Ich glaube, Sie sollten das Cyclo absetzen und reines Oxygen geben.“

Die eben noch so gelangweilt herumstehenden Leute schienen aufgeschreckt. Aller Augen richteten sich plötzlich auf den Anästhesisten, der jedoch völlig unbeteiligt erwiderte: „Was denn? Ist doch alles in Ordnung. Warum machen Sie sich Sorgen? Es besteht kein Grund dazu.“

Die Fingernägel von Sigi schienen eine dunklere Färbung anzunehmen.

„Menschenskind, sind Sie blind? Die Verfärbung der Haut wird schlimmer. Schalten sie auf Oxygen um, und vertun Sie nicht die Zeit mit Reden!“

Die Unruhe der anderen hatte zugenommen. Alle starrten mit unverhohlenem Interesse auf die Gestalt am Kopfende des OP-Tisches, bei der sie offensichtlich keine Spur von Unruhe entdeckten. Es war, als sähe dieser Mann einfach nicht, was mit der Patientin los war.

„Mein Gott, was wollen Sie bloß? Sie kommt schon durch. Keine Aufregung. In einer Minute ist alles in bester Ordnung. Was wollen Sie nur?“, fragte Dr. Hack.

Thomas ahnte in diesem Augenblick, wie es um die fachliche Qualifikation dieses Dr. Hack stand. Er fuhr herum und rief einer der Schwestern zu: „Holen Sie einen anderen Anästhesisten, aber rasch!“

Die Schwester erbleichte, blieb stehen, wie zur Salzsäure erstarrt und sah Thomas aus großen Augen erschrocken an.

„Um Himmels willen, nun lauf, Mädchen! Lauf und hole den Anästhesisten!“, brüllte er sie an. Da rannte sie los.

In diesem Augenblick war sich Hack wohl klar darüber, was mit der Patientin passiert war. Er riss ihr die Narkosemaske vom Gesicht und schrie mit überschnappender Stimme, voller Verzweiflung: „Schwester, einen Tubus, schnell!“

Der Anblick von Sigis blau verfärbten Gesicht, der in Strängen hervortretenden Halsmuskeln, hervorquellenden Augen und der aufeinandergepressten Kinnladen brachten Thomas um den letzten Rest seiner Beherrschung. Wütend schrie er: „Nun, verdammt noch mal, legen Sie die Maske wieder auf und pumpen Sie sie voll Oxygen!“ Dann, während dieser Dr. Hack noch verwirrt mit der Maske herumfuhrwerkte, wandte sich Thomas an Bertelmann und brüllte: „Coramin, zum Teufel. Wo bin ich denn hier? Ist das ein OP mit Ärzten oder was ist das?“

Es war, als hätten sie dieses Aufschreis bedurft. Mit einem Male arbeiteten sie alle fieberhaft mit vereinten Kräften. Bertelmann injizierte das Coramin in den Gummischlauch, durch den bereits Salzlösung in Sigis Vene tropfte. Das war sowieso das Schnellste und besser, als eine neue Vene zu suchen. Dr. Hack, der mit einer Hand der Patientin die Maske wieder aufs Gesicht presste, suchte mit der anderen nervös nach dem Ventil, das den wiederbelebenden Sauerstoff freigeben würde. Dieses Ventil war grün. Grün für Sicherheit. Das Cyclo-Ventil war orangefarben; orange für die Gefahr. Und in seiner Hast drehte dieser Dr. Hack nun abermals wieder orange auf.

Thomas sah nicht, was Dr. Hack tat. Er hoffte nur, dass Sigi genug Oxygen bekam. So lief er um den OP-Tisch herum zum Beatmungsgerät, und während er mit rhythmischen Bewegungen den Gummisack zusammenpresste, um das Oxygen in Sigis Lunge hineinzuzwängen, trug er in Wirklichkeit mit dazu bei, ihr gesamtes System mit dem Gift vollzupumpen.

Sigi schien wieder normal zu atmen. Sie gab jedenfalls keine solchen Krächzgeräusche mehr von sich. Und Thomas war voller Hoffnung. Aber da erkannte er, dass ihre Hautfarbe immer dunkler wurde.

Oh Himmel, was ist das?, dachte er.

In diesem Augenblick kam die Schwester mit Dr. Braun an. Ein wunderbarer Anästhesist war das. Einer der erfahrensten Narkotiseure, die Thomas Brückner kannte. Er trat sofort an das Narkosegerät, und Thomas schöpfte wieder Hoffnung.

Immer noch pumpte er mit dem Beatmungssack.

Dr. Hack, der froh war, dass er entlastet worden war, merkte nicht einmal, dass Dr. Braun als erstes das Ventil mit der orangefarbenen Kappe zudrehte und das grüne öffnete. Auch sonst bemerkte es keiner. Alle konzentrierten sich voll und ganz auf die keuchende Brust im Zentrum des OP-Saals.

Schulz, der den Blutdruck der Patientin und deren Puls kontrollierte, verkündete traurig: „Der Blutdruck ist unter fünfzig. Kammerflimmern.“

Thomas brüllte in die Richtung von Bertelmann: „Digoxyn, eine Ampulle intravenös!“ Seine Stirn war schweißbedeckt, sein Atem ging heftig. Aber er gab nicht auf.

Plötzlich nahm er etwas wahr, das ihn wieder mit Optimismus erfüllte. Sigis Haut hatte eine hellere Färbung angenommen. Ihr Ohr war nicht mehr schwarz, sondern grau wie Glaserkitt.

Energischer bearbeiteten seine Hände in gleichbleibendem Rhythmus den Beatmungssack. Der Schweiß rann ihm in Bächen die Schläfen hinunter. Lieber Gott, betete er insgeheim, lass alles zu, bloß das nicht! Lass sie durchkommen!

Schulz sagte mit der gleichen traurigen Stimme wie eben: „Immer noch Kammerflimmern!“

Thomas fuhr es eisig den Rücken hinauf. Aber es war nicht das, was er eben gehört hatte, vielmehr war es der Anblick von Sigis Ohr. Es hatte sich wieder kohlrabenschwarz verfärbt. Und plötzlich bewegte sie die Beine. Sie machte so eigenartige, unkontrollierte, konvulsivische Bewegungen. Und dann hörten diese Bewegungen auf; alles hörte auf. Nur Thomas wollte sich nicht geschlagen geben und pumpte weiter. Er ignorierte die Bemerkung von Schulz, der da sagte: „Kein Puls mehr!“

„Adrenalin!“, brüllte Thomas.

Eine der Schwestern zog die Spritze auf. Schulz stieß die Nadel zwischen die Rippen der Patientin. Er zog dabei etwas dunkles Blut mit an. Er hatte das Adrenalin direkt ins Herz von Sigi injiziert, ein Medikament, das oft schon Wunder gewirkt hatte. Aber heute gab es keine Wunder; nicht für Sigi und nicht für das Team im OP.

„Ich glaube, sie ist weggeblieben“, verkündete Schulz und blickte auf den Anästhesisten.

Braun nickte nur.

Schulz setzte das Stethoskop auf Sigis Brust, sah dabei Thomas an und nickte.

Thomas, der noch immer Luft in Sigis tote Lungen pumpte, sah dann auf, ließ den Balg los und wischte sich in einer apathischen Geste den Schweiß von der Stirn. Sein Blick wanderte zu Sigis gebrochenen Augen, die immer noch wie in einem schmerzlichen Vorwurf zur Decke emporgerichtet waren.

In diesem Augenblick befand sich Thomas in einem Stadium absoluter Kälte. Er hatte das Gefühl zu schweben, gar nicht mehr in sich zu sein. Jedes Mal, wenn auf dem Tisch jemand gestorben war, hatte er dieses Gefühl gehabt. Ein Patient war gestorben, ohne dass es überhaupt zur Operation gekommen war. Ein niederschmetternder Gedanke höhlte ihn in seinem Innersten aus. Er spürte, wie seine Knie schlapp wurden, wie die Schwäche ihn am ganzen Körper zittern ließ. Ein Gefühl, das er jedes Mal empfand, wenn so etwas passierte, wenn so etwas hier im OP geschah. Es war schlimmer als eine verlorene Schlacht.

Er lehnte sich gegen den Tisch, wartete, bis dieses eigenartige Schwindelgefühl nachließ. Dann wurde er sich erst der anderen bewusst, die sich mit im Saale befanden. Er ging zwischen den Schwestern hindurch in den Vorbereitungsraum, und während er an Schulz vorbeiging, sagte er: „Veranlassen Sie das Notwendige.“

„Augenblick noch, bitte, Herr Brückner!“, sagte Schulz. „Wir sollten uns über die Geschichte einig werden.“

„Was für eine Geschichte?“, fragte Thomas und wandte sich langsam zu Schulz um.

Auf einmal war dieser Dr. Hack wieder da. Er wirkte wie ein Schüler, der sein Aufgabenheft vergessen hatte. Überhaupt hatte er viel von einem Pennäler. Jedenfalls kam es Thomas so vor. Dieser lang aufgeschossene dürre Kerl mit der Brille, durch die er so seltsam einfältig dreinschaute. Hilflosigkeit, das war das Wort, das zu ihm passte. Der ganze Kerl war die personifizierte Hilflosigkeit. Mein Gott, was hat Sigi nur an ihm gefunden?

„Ich glaube nicht“, sagte Thomas, „dass ich dafür zuständig bin, die Todesursache festzustellen.“

„Mein Gott, wie sollen wir denn das verstehen?“, sagte Hack plötzlich.

In diesem Moment fuhr Thomas herum. Er sah Hack an, er musste zu ihm aufsehen, Hack war größer als er, eine Bohnenstange. So hatten sie ihn früher genannt, als er noch Medizinalassistent gewesen war, damals, als auch Thomas in der Paul-Ehrlich-Klinik seine Facharztausbildung bekommen hatte, unter dem damaligen Chefarzt Professor Frenzel und dem Oberarzt Dr. Winter.

„Hören Sie, mein Freund. Ich mache mir die schlimmsten Vorwürfe deshalb.“

„Sie?“, wunderte sich Hack, und er sah einfältig auf sein Gegenüber. „Wieso Sie? Was haben Sie damit zu tun?“

„Ich mache mir Vorwürfe, weil ich nicht darauf bestanden habe nachzuprüfen, ob Sie ein Anästhesist sind. Ich hätte einen wirklichen Anästhesisten zuziehen müssen. Hier, Herrn Braun.“

Die Finger von Hack krampften sich in den Kittel. „Ich habe eine abgeschlossene Ausbildung“, keuchte er. „Eine abgeschlossene Ausbildung als Narkosefacharzt. Ich habe ...“

„Umso schlimmer. Lieber Freund, Sie haben sie umgebracht. Haben Sie mich verstanden?“

„Um Gottes willen“, mischte sich Schulz ein, „Herr Brückner, sagen Sie das nicht. Wir sind unter Kollegen. Die Schwestern sind auch noch da. Um Himmels willen, ich beschwöre Sie, sagen Sie nicht, dass ...“

„Weiß einer von Ihnen die Todesursache?“, fragte Thomas.

„Meiner Ansicht nach ist der Exitus auf einen Kehlkopfspasmus zurückzuführen“, meinte Schulz.

„Wir müssen ein Protokoll schreiben“, erklärte Bertelmann. „Am besten holen wir ...“

„Ich möchte“, sagte Schulz, „dass wir uns zuerst einig werden. Sind Sie nicht auch dieser Meinung?“ Er sah Thomas an. „Wir müssen eine gemeinsame Erklärung unterschreiben.“

„Ich stehe jedenfalls auf dem Standpunkt“, erklärte Thomas, „dass der Tod der Patientin mit der Narkose in absolutem Zusammenhang steht. Das ist die einzige Ursache. Auf etwas anderes lasse ich mich nicht ein.“

„Also gut“, sagte Bertelmann, „ich schreibe das auf. Es ist also Ihrer Meinung die Todesursache. Und was meinen Sie, Herr Hack?“ Er wandte sich an den großen dürren Mann, der sich jetzt umdrehte und mit einer Überzeugungskraft sagte, die Thomas regelrecht verblüffte:

„Ich bin der Überzeugung, dass der Tod der Patientin auf ein Herzversagen zurückzuführen ist. Alle Wiederbelebungsversuche waren ohne Erfolg. Es war eben nichts mehr zu machen.“

Bevor Thomas etwas sagen konnte, meinte Bertelmann: „Na ja, dann brauchten wir keine Autopsie durchzuführen, nicht wahr? Oder sind Sie nicht dieser Ansicht, Herr Brückner?“

Er überlegte noch. Eine Autopsie war der absolute Beweis. Dann stellte sich ganz schnell heraus, dass sie nicht an Herzversagen gestorben war und schon gar nicht an einer Coronar-Thrombose. Und das sagte er auch.

Bertelmann zuckte die Schulter. „Na ja, vermutlich haben Sie recht. Aber es wird nicht ohne Späne abgehen.“

Thomas wandte sich an Dr. Braun. „Was sagen Sie dazu?“

Braun zuckte die Schultern. „Ich war ja selbst bei einer Operation. Ich habe in OP III eine Narkose gemacht. Da kam die Schwester hereingestürzt und hat mich hierher geholt. Der Operateur ließ mich gehen. Ich habe sie an den Internisten abgegeben und bin hierhergekommen. Was soll ich sonst sagen?“

„Na ja, was sollen Sie sonst sagen? Sagen Sie doch einfach alles, als sie hierherkamen, wie sah die Patientin aus?“, sagte Bertelmann, als führte er ein Verhör durch, aber er war bereit ein Protokoll zu schreiben und nahm seine Aufgabe ernst.

„Natürlich war es dringend, das habe ich sofort gesehen. Sie war stark cyanotisch, das hat ja jeder hier gesehen. Das weiß die jüngste Schwester. Und sie hat Sauerstoff bekommen. Na ja, wir haben alles getan, um die Patientin zu retten. Mehr nicht. Es war eben zu spät.“

„Hat sie die ganze Zeit Sauerstoff bekommen?“, fragte Thomas zweifelnd.

Braun tauschte einen kurzen Blick mit Hack. Dann sah er wieder auf Thomas. „Natürlich. Was denn sonst?“

„Und was ist dann die Todesursache?“, wollte Bertelmann wissen. „Was glauben Sie?“, wandte er sich an Braun.

Der zuckte wieder die Schultern. „Ich vermute ebenfalls eine Coronar-Thrombose oder akutes Herzversagen. Wir alle wissen doch, wie oft so etwas passieren kann.“

„So oft? Mein Gott! Als wenn das so oft vorkäme“, meinte Thomas. „Das ist doch nun wirklich selten genug.“

„Na ja, Sie haben schon recht“, gab Braun zu. „Selten ist es schon, aber es kommt vor. Und das können wir doch nicht abstreiten.“

„Der Tod ist sehr schnell eingetreten“, meinte Schulz. „Ist das nicht ein Hinweis auf Herzversagen?“

Braun bewegte sich unbehaglich zum Fenster hin. Dort lehnte er sich dagegen und betrachtete die Runde aus Distanz.

„Also, einigen wir uns doch auf eine Coronar-Thrombose, mein Gott“, schlug Bertelmann vor.

„Ich einige mich nicht“, widersprach Thomas. „Ich bin fest davon überzeugt, dass es mit der Narkose zusammenhing. Eine Coronar-Thrombose sieht auch ganz anders aus. Und sie alle müssten das wissen. Die Patientin hätte einen Schock bekommen, die Haut wäre weiß geworden, der Puls hätte sofort ausgesetzt. Hier war der Puls bis zuletzt gut. Die Patientin hatte nur Atembeschwerden. Der Tod ist nach meiner Meinung durch Asphyxie eingetreten.“

„Oh Gott! Wollen Sie über keine Brücke gehen?“, knurrte Bertelmann, und Braun sagte:

„Das ist eben ein etwas schwieriger Fall hier. Ich weiß ja, was Sie denken, zumal Sie die Patientin kennen. Sie waren mit ihr befreundet. Ich kann mir alles vorstellen. Sie nehmen sich alles so zu Herzen. Aber es ist doch auch für Hack keine Kleinigkeit. Das müssen Sie einsehen, Herr Brückner.“

„Keine Kleinigkeit?“ Thomas spürte, wie die Wut in ihm hochkam. Eine mörderische Wut, ein Zorn, in dem er zu allem fähig war. Er hatte das schon einmal als Junge erlebt. Da wäre er anschließend fast von der Schule geflogen. Da war er in seiner Wut auf den Lehrer losgegangen.

Ich muss mich beherrschen, dachte er. Wenn ich das Gesicht von diesem Hack sehe; ich könnte den Kerl nehmen und aus dem Fenster schmeißen. Natürlich hat er sie umgebracht aus Dusseligkeit. Er ist sonst etwas, bloß kein Anästhesist, und wenn er zehnmal eine Facharztausbildung abgeschlossen hat. Wer weiß, wie er sich durchmogeln konnte. Er ist eine Niete, ja, eine Niete, eine absolute Null! Er hat sie umgebracht, dieser verdammte Bursche.

Nein, dachte Thomas, ich bin nicht gewillt, die Fehler anderer Leute einfach zu dulden, nicht, wenn es um Menschenleben geht, und hier ist es um ein Menschenleben gegangen. Ich denke nicht im Traume daran, das zu schlucken.

Schließlich sagte er: „Wir wollen das vom Chef entscheiden lassen. Der Chef soll feststellen, ob eine Autopsie durchgeführt wird oder nicht.“

„Na ja“, meinte Bertelmann, „das mag schon richtig sein. Aber wir können die Dinge doch in Ruhe bereden, bevor wir ihn holen. Wir wollen doch nicht die schmutzige Wäsche vor allen anderen waschen.“

„Mein Gott, es ist doch jedem mal etwas passiert“, sagte Braun plötzlich. „Schluss, Punktum, Coronar-Thrombose, und wir sind fertig. Menschenskind, schließen Sie sich doch der Ansicht an. Oder haben Sie noch nie einen Fehler gemacht?“

„Macht, was ihr wollt. Beschließt, ob eine Autopsie vorgenommen wird oder nicht, holt den Chef oder lasst ihn, wo er ist. Mir ist es egal. Ich persönlich habe eine andere Meinung.“

Mit einem Mal war es ganz still. Schließlich sagte Bertelmann mit einem Blick auf Thomas: „Menschenskind, seien Sie doch einsichtig! Wissen Sie nicht, was das heißt?“

„Natürlich weiß ich es.“

„Alles wäre gutgegangen“, sagte Hack plötzlich, „wenn er nicht verrückt gespielt hätte mit seiner Brüllerei nach einem anderen Anästhesisten und dem Coramin. Natürlich hatte sie gewisse Atmungsschwierigkeiten, aber die waren überhaupt nicht gefährlich. Ich hätte sie spielend durchgebracht. Aber er musste sich einmischen. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Mann derartig die Nerven verliert am OP-Tisch. Aber das kann ja jedem mal passieren. Ich bin ja auch nachsichtig.“

In diesem Augenblick verlor Thomas die Beherrschung. Er machte einen Satz auf diesen hageren, milchgesichtigen Kerl zu, und dann fuhr seine Faust voll ins Gesicht dieses Mannes. Sie traf ihn wie ein Hammer. Hack flog zurück, knallte mit dem Hinterkopf an den Infusionsapparat, stürzte zu Boden, wälzte sich herum, wollte auf die Knie, aber da war Thomas schon bei ihm. Und Thomas war ein durchtrainierter, äußerst sportlicher Bursche. Viel zu durchtrainiert und viel zu sportlich für das Milchgesicht Hack.

Thomas riss Hack hoch, und während der noch mit verwirrtem Blick auf sein Gegenüber blickte, bekam er den zweiten Schlag. Der traf die Nase. Blut schoss heraus. Und die Wucht des Schlages trieb Hack noch einmal zurück, und diesmal bis an die geflieste Wand. Dort knallte er dagegen, rutschte herunter und blieb besinnungslos in der Hocke.

„Menschenskind, sind Sie wahnsinnig? Was machen Sie? Hören Sie auf! Herr Brückner! Herr Brückner!“, schrie Schulz, und Bertelmann hatte seinen Notizblock weggeworfen, stürzte mit Schulz zusammen auf Brückner zu, der ganz ruhig stand und gar keine Anstalten machte, noch ein zweites Mal seinem Gegner nachzusetzen. Die beiden packten Thomas, aber der schüttelte sie einfach ab und sagte in eisiger Kälte: „Dieses Schwein! Dieses verdammte Schwein hat sie umgebracht, und jetzt will er mir das noch in die Schuhe schieben! Dieser Schurke! Dieser Scharlatan! Ein Lügner ist er. Ich möchte wissen, wo er die Facharztausbildung gemacht hat? Der hat nie eine gemacht. Der hat überhaupt keine Ahnung von einem Narkotiseur. Der nicht, verdammt noch mal.“

„Menschenskind, nun regen Sie sich doch nicht auf! Kommen Sie zu sich!“

Braun kümmerte sich um den noch immer besinnungslosen und reglos hockenden Hack.

Hack kam nach etwa drei Minuten wieder zu sich. Braun und Schulz bemühten sich um ihn, halfen ihm auf, er schwankte noch, brauchte noch einmal fünf Minuten, um völlig klar zu sein, und dann war er klar. Wie klar, das sollte Thomas ganz schnell feststellen.

,,Das müssen Sie mir ... das müssen Sie mir büßen“, lallte er. „Das müssen Sie mir büßen!“

Mehr sagte er nicht. Dann sackte er wieder in die Knie. Braun und Schulz halfen ihm, auf den Beinen zu bleiben, schleppten ihn bis zu einer Liege, und dort, das war jedenfalls Thomas’ Meinung, zog dieser Hack seine Show ab und das bis zur Neige. Er begann plötzlich zu zittern, tat so, als hätte er eine schwere Nervenverletzung. Am Kopf war eine blutende Wunde. Auch seine Nase blutete noch immer. Aber das alles war nicht schlimm. Hack machte aus dem allen etwas, und schließlich war er doch Arzt genug, um zu wissen, wie sich bestimmte Symptome bemerkbar machen. Braun, ein Pfleger und Schulz brachte ihn jedenfalls zur Ambulanz.

Thomas bekam das alles nicht mehr mit. Der ging einfach nach Hause. Er hatte die Nase gestrichen voll von allem. Aber noch als er ging, hörte er, wie ihm Bertelmann nachrief: „Was Sie da gemacht haben, war ein Fehler. Menschenskind, gehen Sie hin zu diesem Kerl, entschuldigen Sie sich! Gehen Sie hin! Es war ein verdammter Fehler, Brückner. Ein wirklicher Fehler.“

Thomas ging nicht, um sich zu entschuldigen. Im Gegenteil. Er hätte diesen Kerl am liebsten noch einmal zusammengeschlagen. So eine Show abzuziehen! Dem Burschen fehlte ganz sicher nichts. Aber der wollte sich rächen, das war es. Rächen wollte er sich.

Und er rächte sich ...

Die Gedanken von Thomas verschwammen. Auf einmal lagen wieder Jahre zwischen diesem Vorfall und dem Jetzt. Er nahm seine Gegenwart wieder wahr, die beiden jungen Frauen, die eine im Ohrensessel, die andere im Schaukelstuhl, ein Stück weiter Fried, der ihn ernst anblickte.

„Und was war dann?“, fragte Marion. „Was ist passiert? Haben die noch irgendwas gemacht?“

Thomas nickte grimmig. „Ja, natürlich. Er hat sich sage und schreibe fünf Wochen lang im Krankenhaus herumgedrückt. Indessen lief das Strafverfahren gegen mich. Die Autopsie war auch gemacht worden. Ich durfte beiwohnen, aber mein Chef hatte mich vom Dienst suspendiert. Es war ein großzügiges Entgegenkommen des Oberarztes, dass ich bei der Autopsie dabei sein durfte. Die Autopsie war eindeutig. Kein Anzeichen einer Coronar-Thrombose, die Arterien in gutem Zustand. Stattdessen wies alles auf eine Asphyxie hin. Dann konnte man sehen, dass die Lungenflügel mit Blut gefüllt waren und cyanotisch aussahen. Dieses, als wären sie mit Tinte gefüllte Bild, das gar keinen Zweifel daran ließ, was die wirkliche Todesursache war. Es war ein grauenhafter Gedanke, zu begreifen, dass diese Frau, unsere geliebte Sigi, noch hätte leben können, wenn sie nicht an diesen idiotischen Pfuscher geraten wäre.“

„Und wie ging es weiter? Wieso bist du kein Arzt mehr?“, fragte Marion.

„Das Gericht hat es mir nicht verboten. Vom Gericht bin ich bestraft worden, Geldstrafe. Man hat mir meinen Zorn zugute gehalten, die Tatsache, dass ich Sigi gekannt habe. Aber Braun hat Hack sehr entlastet. Und aus diesem Grund habe ich viel zu spät erfahren von einer Schwester, wie das mit den Ventilen gewesen ist, dass Braun das orangefarbene zugedreht und das grüne aufgedreht hatte, kaum dass er gekommen war. Die Schwester war zufällig darauf aufmerksam geworden. Eine Schwester allerdings, die nicht zu unserem Team gehörte; eine Schwester vom OP III, die eigentlich nur etwas hatte holen wollen und an der Tür stand und das sah. Mein Gott, wenn sie vor Gericht hätte aussagen können, wäre vielleicht manches anders gelaufen. Später habe ich mit meinem Anwalt darüber beraten, ob es Sinn hat, die Sache noch einmal in Bewegung zu setzen. Aber an dem Urteil wegen Körperverletzung hätte das nichts geändert.

Heute weiß ich auch, dass es ein Fehler war, diesen Kerl zusammenzuschlagen. Im Grunde habe ich dem nur einen Gefallen getan. Alle haben ihn bemitleidet, den 'armen Jungen'. Seine Nase hat wochenlang ausgesehen, als hätte er damit eine Lokomotive zum Stehen bringen wollen. Aber wie es so geht, entscheidend war das Standesgericht. Man hat mir auf Grund des Vorfalles Auflagen gemacht, hat mich sehr getadelt, und ich hab’ mich noch einmal hinreißen lassen, diesen Leuten meine ganze Wut entgegenzuschleudern. Die saßen da, als wären sie Götter, als hätten sie wirklich ein Recht, jemanden zu verdammen. Keiner von ihnen war dabei gewesen. Und keiner war imstande zu begreifen, was in mir vorgegangen ist. Ich habe ihnen jedenfalls gesagt, dass sie für mich nie im Leben ein kompetentes Gericht sind, weil sie viel zu sehr auf Berufsethos, Standesehre und dergleichen Dinge achten, als vielmehr darauf, dass es um ein Menschenleben gegangen ist. Das hat merkwürdigerweise schon den Strafrichter kaum beeindruckt. Für ihn war es am wichtigsten, wie schlimm ich diesen Hack erwischt habe. Und mit dem Standesgericht war es nicht anders. Aufgrund meiner Worte hat man mir die charakterliche Eignung, Arzt zu sein und Menschen zu behandeln, abgesprochen. Ich konnte dieses Urteil anfechten und habe es angefochten. Das Gericht, das darüber zu entscheiden hatte, war ganz einfach überwältigt von der Tatsache, dass sieben Ärzte über mich geurteilt hatten, und so geschah, was ich eigentlich hätte erwarten müssen, die Richter schlossen sich dem Urteil des Ehrenrates an. Das Ehrengericht hat mich also in die Wüste geschickt. Und deshalb bin ich hier.“

„Aber hier ist keine Wüste“, rief Isolde lachend. „Hier sind wir, deine Freunde.“

Er lächelte schmerzlich. „Die einzigen auf der Welt, die ich habe.“

„Lieber wenige und gute“, sagte Friedhelm von Bredow, „als viele, die gar keine Freunde sind. Ich glaube, es ist der Augenblick, wo wir eine von den sechsundzwanzig Flaschen köpfen sollten, die wir beide vor vier Jahren in den Keller geschleppt haben, Thomas, nachdem es uns gelungen war, sie sogar unerkannt durch den Zoll zu bringen.“ Er lachte wie ein Lausejunge.

„Gut, wenn du meinst, dann hol’ ich eine Flasche.“

„Aber schön vorsichtig. Nur nicht schütteln. Ich glaube, das ist ein Abend, zu dem eine solche Flasche passt ...“


Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane

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