Читать книгу Tränen, Glück und schwerste Stunden: Arztroman Sammelband 6 Romane - A. F. Morland - Страница 14
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Der Wetterbericht hatte sich gründlich geirrt. Noch am Abend zuvor war von einem Atlantiktief die Rede gewesen, das relativ feucht milde Luft heranführen sollte. Aber nun am nächsten Morgen sah es ganz anders aus.
Der Wind kam nicht mehr von Westen, sondern von Nordosten. Und was er heranführte, war keine milde Luft, sondern eisige Kälte, Schnee. Es hatte die ganze Nacht über geschneit. Sturmböen trieben Wolkengebirge vor sich her. Und es schneite und schneite. Gleichzeitig kam es infolge des Sturmes schon am nachfolgenden Morgen zu den ersten Verwehungen. Räumfahrzeuge, hieß es im Straßenzustandsbericht, seien im Einsatz.
Bein Frühstück sah Friedhelm seine Schwester besorgt an. „Sollen wir nicht losfahren? Mit dem Jeep komme ich durch.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ach was, das ist doch nichts für die Ewigkeit. Ich habe ja noch einen Monat Zeit. Es ist ein Unding, das es jetzt schon kommen soll.“
„Aber das Kind“, sagte Marion, „hat sich schon gesenkt. Nach meinem Dafürhalten dauerte es keinen Monat mehr.“
„Ich weiß natürlich auch nicht so recht. Glaubt ihr, ich sollte nach Bonn gehen? Jetzt, unmittelbar vor Weihnachten? Die sind doch darauf nicht eingestellt. Und überhaupt, ich merke wirklich nichts. Ich fühle mich pudelwohl.“
Es war wiederum Marion, die nachdenklich meinte: „Gerade das ist ein Zeichen dafür, dass es die letzte Phase sein muss. Da fühlen sich Frauen meistens besonders gut.“
„Ihr übertreibt, ihr wollt mir Angst machen, das dürft ihr nicht“, entgegnete Isolde. „Der Schnee bleibt doch nicht liegen. Wann hatten wir schon einmal weiße Weihnachten, könnt ihr euch daran erinnern?“
„Na ja, erinnern kann ich mich schon, aber es liegt wirklich weit zurück“, entgegnete Friedhelm.
Thomas war noch nicht zum Frühstück erschienen. Marion fragte ihren Bruder danach und der erwiderte:
„Er wollte Schnee räumen, aber ausgerechnet heute Morgen begann der Unimog zu spucken. Thomas ist dabei, den Fehler zu suchen, vielleicht findet er ihn und beseitigt ihn. Er meint, er käme etwas später zum Frühstück und ...“
Da hörten sie die Schritte von Thomas. Er kam herein, strahlte, als er Isolde anblickte, begrüßte auch Marion freundlich und meinte zu Friedhelm gewandt:
„Die Zylinderkopfdichtung. Ich hatte neulich schon beim Ölprüfen den Verdacht, dass Wasser ins Öl kommt. Er war ganz minimal, dieser weiße Schleier, aber jetzt ist es deutlich. Er bläst richtig in die Kühlung hinein. Eine neue Zylinderkopfdichtung haben wir natürlich nicht da, oder doch, Fried?“
Friedhelm schüttelte den Kopf. „Wir haben doch kein Ersatzteillager. Kannst du nicht den Trecker nehmen?“
„Werde ich wohl müssen. Wenn ich wiederkomme, erhalte ich von euch den Gefrierfleischorden. Es ist eine Saukälte draußen. Dieser Sturm ist eisig. Hört ihr, wie er oben übers Dach heult?“
Das brauchte er ihnen nicht zu sagen, das hörten sie alle. Thomas sah Isolde an.
„Meinst du nicht, es wäre besser, wir brächten dich heute noch nach Bonn?“
„Ich denke, alles ist verweht. Ich höre bloß immer im Radio, dass die Straßen zu sind.“
„Na ja, bis Mittag haben die das im Griff. Wenn wir heute Nachmittag fahren, ist vielleicht alles frei.“
„Aber warum nur diese Eile? Ich spüre ja nichts.“
Thomas wollte sie nicht verängstigen und sagte nichts mehr. Aber er wusste - dazu war er viel zu lange Arzt und dazu ein guter Arzt gewesen -, dass eine Geburt sehr schnell beginnen konnte.
„Er hat recht, wir sollten es vielleicht am Nachmittag versuchen. Wenn da alles frei ist, fahren wir dich nach Bonn. Du musst ja nicht unbedingt zu deinen Bekannten gehen, du könntest ja ein Hotelzimmer mieten oder so etwas.“
„Und jetzt vor Weihnachten“, meinte Isolde traurig. „Ich wäre so gerne bei euch gewesen. Glaubt ihr wirklich, dass dieser Sturm die ganze Zeit anhält?“
Friedhelm stand auf, ging zum Barometer und tippte daran. „Es steht unheimlich tief und bewegt sich nicht von der Stelle.“
„Das ist der Wind“, meinte Marion, „wenn der nachlässt, steigt es wieder.“
Tatsächlich ließ der Wind gegen Mittag etwas nach, und das Barometer stieg wieder. Die Straßen waren noch am Nachmittag zum Teil zu, aber mit dem Jeep wäre es kein Problem gewesen durchzukommen, zumal Thomas die Zufahrt zur Landstraße von Gut Hartmannsdorf aus mit dem Traktor geräumt hatte.
Thomas war es eigentlich, der Friedhelm drängte, Isolde nach Bonn zu bringen. Aber Friedhelm zögerte, und Isolde weigerte sich. Sie meinte, es gäbe nicht den mindesten Grund dafür, und außerdem stiege ja das Barometer wieder.
Als am Abend zwar neuer Schnee fiel, der Sturm aber gänzlich nachließ, schwanden auch bei Thomas die Bedenken. Schnee allein war kein Problem, den hielten die Räumfahrzeuge im Griff, Straßen würden immer frei genug sein, um mit dem Geländewagen durchzukommen.
Über Nacht fiel dann noch mehr Schnee. Mittlerweile war der 22. Dezember angebrochen. Der Schnee lag dort, wo man ihn nicht geräumt hatte, fast einen halben Meter hoch. Aber die Wege waren leicht freizubekommen, auch die Straßen wurden ständig geräumt. Viele der Landstraßen waren infolge des Salzes absolut frei. Es wurde kalt, das Barometer stieg noch mehr, und alles deutete darauf hin, dass es weiße Weihnachten geben würde.
Isolde freute sich darauf. Angst hatte sie jetzt nicht mehr. Die Straßen waren frei. Es war eine Kleinigkeit, sie notfalls zum nächsten Krankenhaus zu schaffen, selbst wenn der Weg nach Bonn zu weit sein würde. Und überhaupt, sie spürte nichts. Sie fühlte sich pudelwohl, und sie war glücklich. Es war so schön im Kreise ihrer Freunde. Frans van Welkenraedt wollte auch kommen, hatte versprochen, die Feiertage über bei ihnen zu wohnen, und darüber freute sich besonders Marion.
Am Morgen des 23. Dezember stellten Friedhelm, Thomas und ein Mann, der vom Dorf herüberkam, den Baum auf. Mitten auf den Hof stand er. Zwei große Leitern waren daneben errichtet, und auf einer davon kletterte Thomas herum, um die elektrischen Kerzen anzubringen. Rundum war alles weiß, nur dieser Baum, auf dem kein Schnee lag, ragte dunkel auf. Es war ein mächtiger Baum, den Friedhelm da geschlagen hatte, schöner als noch im vorigen Jahr, fand Isolde.
Sie saß wieder im Büro und schaute durch die Fenster hindurch den Männern draußen zu. Sie hatte die Unterlagen vor sich liegen, die sie noch fertig machen wollte.
Marion kam herein, eingemummt in eine Pelzjacke, ihr Gesicht war gerötet. „Siebzehn Lämmer“, verkündete sie. „Einmal sind es Zwillinge, alles prächtige Tiere. Wenn alles klappt, bekommen wir mindestens vierhundert Lämmer.“
„Voriges Jahr sind zwanzig draufgegangen, nicht wahr?“, meinte Isolde.
„Neunzehn“, berichtigte Marion und sah dann nach draußen. „Ein herrlicher Baum, nicht wahr?“ Dann wandte sie sich wieder Isolde zu. „Wie geht es dir?“
„Prima.“
„Das ist wunderschön. Ich glaube, es werden herrliche Weihnachten werden. Oder was meinst du?“
„Das glaube ich auch.“
Es wurden Weihnachtstage, die niemand in diesem Hause vergessen sollte. Und sie waren alles andere als friedlich ...